Hatte gerade ich noch einen Punktgewinn verbuchen können, gab ich postwendend einen ab. Puh, der Mann hatte es in sich. Ich senkte die Augen, lächelte und hob erneut den Blick.
„Ich bin beeindruckt und ich sage das nicht oft.“ Gleichermaßen verblüfft musste ich jetzt aussehen. Langsam ging ich in Gedanken noch einmal das von ihm Gesagte durch.
Die erste Bemerkung war frech und witzig zugleich. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zu offensichtlich zu lachen. Dann kamen die verschiedenen Mäntel ins Spiel und ich überlegte, ob ich wohl mehrere besaß
„Auf mich trifft deine Manteltheorie, so schön und so glaubhaft sie klingt, vermutlich nicht zu. Auf jeden Fall lege ich mir nie ein Mäntelchen um, was meinen wahren Charakter verbirgt. Wenn überhaupt, dann habe ich höchstens drei Mäntel - einen, den meine Freunde sehen, einen für die neutrale Masse und einen, den ich meinen Feinden präsentiere. Diese Art der Mäntel meinst du aber offenbar nicht.
Hm, welcher Mantel bestimmt unser Wesen? Meine sind immer transparent. Sowohl Freunde als auch Feinde wissen stets, was sie von mir zu halten haben. Ansonsten verkleide ich mich nicht. Ich bin wie ich bin, kann und will mich nicht verbiegen, nicht verstecken und auch nicht verwandeln. Trotzdem glaube ich an deine Mantelerklärung, was Männer in der Phase der Werbung betrifft. Das ist wie im Tierreich die Balz, findest du nicht?“
Der Vergleich kam spontan, ich fand ihn treffend und lustig zugleich.
Vieles, was er anschließend sagte, klang nett, aber ich ging nicht näher darauf ein. Nachdenklich wurde ich bei seinen letzten Worten.
„Selbstverständlich empfindet jede Frau - so auch ich - Bedauern, wenn sich der Mann ihrer Träume plötzlich entzaubert. Doch ich bin nicht so dumm zu glauben, dass dies nur auf Seiten des Mannes geschieht. Bestimmt stellt sich eine Frau nach der Werbungsphase auch anders dar. War sie zuvor nicht im Besitz des Mannes und damit Objekt der Begierde, wird sie zunehmend anhänglicher, wenn sie sich einmal entschieden hat.
Aber das ist gar nicht das Eigentliche, was ich auf deinen Einwand erwidern möchte.“
Ich dachte daran zurück, dass ich vor etwa zehn Monaten gefragt wurde, ob ich die Frau jenes Mannes werden wollte, der mich damals von allen am meisten beeindruckt hatte. Mir fielen die schönen Stunden mit ihm ein und gleichzeitig die vielen Tränen. Einen Teil davon hatte sogar Victor im Frühjahr mitbekommen. Die Entzauberung war überdimensional. Mir kam in den Sinn, dass ich seit fünf Monaten eben jenen Mann nicht mehr gesehen hatte und doch als die ihm versprochene Frau galt. Und Victor bedauerte allen Ernstes den Mann?
Mein Lachen war wie fort geblasen, als ich antwortete: „Es wäre kinderleicht, mich im Alltag zufrieden zustellen, wenn man mein Herz erst einmal hat. Genau das ist aber die große Hürde. Zu allem Übel bin ich nach dem Nehmen dieser Hürde auch noch treu.“
Die Frage war, wie lange noch. Ernst blickte ich in die Menschenmenge und suchte mich abzulenken. Ich war einem mir Fremden gegenüber sehr offen gewesen und ich verstand nicht einmal wieso. Es war sonst ganz und gar nicht meine Art. Und irgendwie war die lustige Stimmung fort.