Aufgebrochen war Minervina noch vor wenigen Stunden mit ihrer Mutter gemeinsam, doch nun schritt sie allein entlang der Marktstände. Helena hatte sich an einem Stand aufgehalten, wo sie einer langen Unterhaltung mit der Verkäuferin frönte. Das war nichts für Minervina. Sie mochte lange Unterhaltungen nicht und lieferte sich stattdessen bevorzugter Weise Bilder für ihre Augen. Farbige, bunte Bilder die sich in ihr Gedächtnis einließen und dieses vielleicht verstärkten und lehrten, oder ebenso schnell wieder verschwanden wie sie gekommen waren. Sie war froh, dass ihre Mutter es gestattete, dass sie schon einmal allein weiter ging. Sie hatte sich ohnehin zu einer Einzelgängerin entwickelte, so wie es auch Löwinnen Afrikas waren. Ein leichtes Lächeln lag bei diesem Gedanken auf ihren Lippen. Es waren eindrucksvolle Tiere, wenn sie auch erst ein einziges Mal in ihrem Leben eine Löwin gesehen hatte. Sie hatten etwas an sich, was sie verkörperte, vieles, was sie gern verkörpern würde. Diese Eleganz wenn sie sich bewegten, die aufrechte und stolze Statur, der ungebrochene Wille. Doch waren sie nicht auch gebrochen? Jene Löwen, die sie zu Gesicht bekommen hatte, waren bereits zum Tode verurteilt, wenn sie die Arena betraten. Tötete der Gladiator sie nicht, würde es ein anderer tun. Ihnen wurde nicht die Freiheit geschenkt, wie es bei manchen Sklaven getan wurde. Warum eigentlich? Hatten sie sich diese nicht ebenso erkämpft wie ein Sklave? Machte es gar der Unterschied ihrer Statur, dass Sklaven einem Menschen gleich kamen?
Minervina teilte durchaus die Meinung, dass Sklaven ordentlich behandelt werden müssten, doch warum tat dies niemand bei Tieren? Sie waren um nichts schlechter, mussten stumm nur noch mehr ertragen als ein Sklave. Nachdenklich glitt ihr Blick an den Ständen entlang, wo die unterschiedlichsten Waren gepriesen wurden. Manche Tiere, einiger Schmuck, Sklaven und viele Nahrungsmittel. Rom hatte es weit gebracht. Weit gebracht durch solche Männer wie ihren Vater, der sich ohne Zögern für sein Land aufopferte. Er kämpfte für seine Männer, mit seinen Männern. Mittlerweile hatte sich die Wahrheit auch bis zu ihr durchgesprochen, jene schmerzliche Wahrheit. Ihr Vater war nicht im Kampfe gestorben, sondern auf der Flucht zurück zu seiner Familie. Es war so ungerecht, dass er dies nicht geschafft hatte. Es war unmenschlich, dass sie ihn töteten. Viel hatte die mittlerweile junge Frau darüber nachgedacht, was gerecht und ungerecht war. Wäre ihr Vater in der Schlacht getötet worden, wäre es gerecht gewesen, denn hier hatten viele Männer ihr Leben gelassen und auch wenn es trotzdem sein Ende bedeutet hätte, es wäre nicht so heimtückisch gewesen. Stattdessen töteten sie ihn auf dem Heimweg, aus dem Rücken heraus und kurz vorm Ziel. Er hatte gewiss gehofft, sich auf seine Frau und seine Tochter, seine Söhne gefreut. Und dann war er zusammengebrochen, im Dreck vor seinen eigenen Mannen gestorben. Nach Jahren der Gefangenschaft. Minervina ballte eine Hand zur Faust und presste sich diese, stehen bleibend, auf den Bauch. Allein dieser Gedanke verursachte einen stechenden Schmerz. Ihr ehrenhafter Vater, einen so jämmerlichen Tod gestorben. So kurz vor seinem Ziel.
Sie hatte kaum bemerkt, wie sie stehen geblieben war. Plötzlich fühlten sich ihre Beine unglaublich weich an, als hätte jemand ihre Knie zertrümmert. Sie musste sitzen, doch nirgendwo bot sich eine Gelegenheit an. So suchte sie mit ihrer Hand halt an einer kühlen Mauer. Es war mit einem Schlag gekommen, dass sie sich so schrecklich leer fühlte. Wie lange hatte sie gehofft, gebetet, dass ihr Vater zurückkehrte? Publius Tiberius Maximus, Sohn des Tiberius Ahala. Senator und Tribunus Laticlavus. Gestorben in einem kurzen Moment, da ihn die Hoffnung blind für Gefahr hat werden lassen. Eine Träne wand sich aus ihrem Augenwinkel. Niemals würde der Schmerz verblassen, niemals. Dessen war sie sich sicher. “Oh Vater, lass uns doch bitte nicht allein.“ flüsterte sie verzweifelt und auch ohne Hoffnung. Sie hatte seinen Leichnam längst erblicken müssen. Hatte gesehen, wie er den Flammen übergeben wurde und tief unter die Oberfläche gebracht wurde, wo sein Andenken immer gewahrt würde. Viele würden sich seiner nicht erinnern. Doch sie würde es, würde es immer tun. Würde ihn immer lieben. Sie war nicht so treulos wie ihre Mutter, die sich nur wenige Tage darauf mit Metellus einließ. Niemals würde sie diesen Zivilisten ohne Mut und Ehre als einen Vater ansehen. Sie würde lernen müssen, ihn als Freund und vielleicht Gemahl ihrer Mutter zu akzeptieren – wenn sie akzeptierten, dass er niemals ihren Vater würde ersetzen können.
In einer fahrigen Geste wischte sie sich die Tränen von ihren feuchten Wangen. Was gäbe sie, wenn sie ihm diese Worte sagen könnte. Was gäbe sie, um sein darauf folgendes Lächeln zu sehen. Doch sie würde es niemals wieder tun können, nicht in diesem Leben. Sie hatte gar schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen um wieder bei ihrem Vater zu sein. Ob nun hier oder in den Feldern des Elysiums – es blieb sich doch gleich. Aber sie wollte ihrer Mutter nicht diesen Schmerz zumuten, den sie selbst durchleiden musste. Offensichtlich schien Helena den Tod ihres Mannes gut überwunden zu haben, doch würde sie auch den Tod eines zweiten Kindes so gut verkraften? Gewiss nicht. Und Minervina wünschte niemandem diese Pein in ein zerbrechliches Herz, wie es das Ihre war. Da plötzlich fuhr ein warmer Windstoß durch ihr Haar und schreckte sie aus ihren Gedanken. Verwirrt sah sie nach oben, wo der blaue Himmel, nahezu wolkenlos, auf sie herabsah. Dem Wind hatte etwas angehaftet, was ihr Herz erwärmt hatte. War es gar die streichelnde Hand ihres Vaters gewesen, durch die Hand der Götter gesandt um ihr weinendes Herz zu trösten? Sollte dies der Fall sein, so hatte der leichte Stoß beinahe jeden trüben Gedanken mit sich gerissen und Erfolg gezeigt, denn nun zierte ein Lächeln, wenn es auch kümmerlich war, ehrlich ihr hübsches Gesicht. Trauer würde ihr den Vater auch nicht zurückholen, doch sie würde alles tun, um ihn mit Stolz zu erfüllen. Sie mochte namentlich keine Tiberia mehr sein, doch im Herzen war sie es und würde sie es immer sein. Sie würde das tun, was damals ihr normaler Weg gewesen wäre: In den Dienst der Minerva treten und heiraten. Einen strebsamen, jungen Mann, wie er Maximus auch gefallen hätte. Sie würde den Weg einer wahren Patrizierin gehen.
Mit diesen Gedanken gestärkt, stieß sie sich wieder von der Mauer ab und tat die wenigen Schritte zurück ins warme Licht der Sonne, die das Forum zierte. Alles würde anders werden, wenn sie nach Rom käme, dem Zentrum des Reiches. Kurz fuhr sie sich mit ihren feingliedrigen Fingern durch ihr dunkelbraunes Haar, welches sie, ebenso wie die Augen, von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ließ es aus der Hand gleiten, langsam und sacht, ehe sie sich, mit einem ermutigten Lächeln, den Menschen zu stellen bereit fühlte. Schon jetzt, mit ihren zarten 14 Jahren, die langsam auf die 15 zugingen, war sie etwas größer als ihre Mutter. Doch groß genug um das Forum zu überblicken, war sie nicht, was sie dazu verleitete, einfach nur weiter zu schreiten. Sie sah an sich herunter. Sie hatte recht lange Beine und war schlanker Statur, alles in allem also zufrieden stellend. Ihre Toga Praetexta lastete schwer auf den Schultern, doch sie zeigte ebenso an, dass sie wohlhabend und unverheiratet war. Sie mochte dieses Kleidungsstück noch nie besonders, es war unhandlich und warm. Minervina hoffte sehr, dass ihr in Rom gestattet wurde, dass sie diese Last ablegen durfte.
Während ihre Schritte sie nun weiter führten, beruhigte sich ihr Geist allmählich wieder. Nur noch einige dünne, geplatzte Äderchen in ihren Augen verrieten, dass sie noch vor wenigen Augenblicken geweint hatte. Da führten ihre Schritte sie näher an einen Sklavenstand. Doch es war nicht die angepriesene Ware, die sie näher kommen ließ, sondern eine Ungerechtigkeit, die ihr sofort ins Auge fiel. Da stand einer dieser kleinen, widerlichen fetten Jungs und warf Kiesel nach den Sklaven. Sie runzelte ihre Stirn zu einem missbilligenden Blick und ließ den Blick zu dem Opfer weiterschweifen, der ein wahrhaft gigantischer Hüne war. Gewiss ein Germane, denn welches Volk brachte sonst derartige Riesen hervor? Betrachtete sie nun die beiden Kontrahenten, war sie sich nicht mehr sicher, wen sie weniger mochte. Doch das Mitleid obsiegte, als sie die geschundene Frau neben dem Manne betrachtete. Sie sah mehr als übel zugerichtet aus und keiner konnte sich – oder anderen – vormachen, dass diese Frau noch lange leben würde. Minervina konnte nicht im Geringsten erahnen, was sie schon alles durchgemacht hatte, doch es mochte einiges sein.
Da geschah das beinahe Unfassbare. Der Junge, wohl nichts ahnend, warf einen Stein nach eben jener Frau, die wahnsinnig erschreckte. Das Kettenrasseln klang selbst bis zu Minervina durch und ließ sie zusammenzucken. Denn im gleichen Moment schnellte der besagte Hüne nach vorn und schien nach dem Jungen packen zu wollen. Die Götter mussten ihm gewogen sein, denn die Kette langte nicht völlig bis zu ihm. Doch der Schreck war wohlverdient und Minervina gönnte es ihm, dass er nun voller Angst nach Hause rannte. Doch dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder dem Händler zu, der diesen Vorfall auch noch zu seinem Vorfall nutzte. Er war wohl weder für die Sklaven noch für den Jungen sonderlich schön gewesen. Sklavenhändler waren etwas widerliches, dessen war Minervina sich schon vor längerer Zeit bewusst geworden. Sie schienen aus wirklich jeder Situation Profit schlagen zu wollen und scheuten vor nichts zurück – was dieser Vorfall wieder bestätigte.
Und all die Menschen, wie konnten sie nur darüber lachen? Vielleicht mochte sie humorlos sein, doch diese Schadenfreude konnte sie nicht nachvollziehen. Gleich aus welchem Grund. Es war wie mit den Löwen. Sie waren gefangen und man versuchte ihren Stolz zu brechen. Aber hatten nicht die Germanen dies auch verdient? Dieses blonde Hünenpack, welches ihren Vater ermordet hatte? Er, der nur aus dem einen Grund der Liebe gehandelt hatte? Eine Verachtung für dieses Volk hatte sich in ihr Gedankengut geschlichen, die wohl jeder nachvollziehen konnte, nachvollziehen musste. Jeder der seinen Vater auf diese Weise verlor, würde so denken. Sie begann sich, dem Stand zu nähern. Auch wenn es Germanen waren und auch wenn sie diese nicht mochte, der Hüne hatte ihr Interesse geweckt. Doch nicht an einem Kauf sondern als jene Person, als die er eben dort oben stand. Vermutlich war es das letzte Mal in seinem erbärmlichen Leben, dass er sich über Römer erhob. Allein der Gedanke, dass dieser vielleicht am Tode ihres Vaters verantwortlich sein mochte, ließ ihr Herz schmerzen. Ließ beinahe einen Hass aufflammen, den sie allerdings zu unterdrücken gelernt hatte.
Nun stand sie auf ungefähr jener Höhe wie der Junge von vor wenigen Augenblicken, doch sie wagte diesen einen Schritt und näherte sich dem Hünen um jene besagte halbe Spanne und ein wenig mehr. Sie hatte keine Angst und ihr war auch nicht mulmig zumute. Lediglich die umstehenden Leute warfen ihr ein paar seltsame Blicke zu, teils bewundernd, teils verächtlich. Sicher hielt man sie für irgendeine Spinnerin, der ihr eigenes Leben nicht mehr als ein Ass wert war. Doch von alledem nahm die Tochter des Senators keine Notiz. Sie blickte dem Hünen in die Augen, selbst nicht wissend, warum. Sie wusste nicht, wonach sie in seinem Blick suchte, vielleicht nach einer Antwort? Nach einer Antwort, warum ihr Vater sterben musste? Noch nie hatte sie einen Germanen erblickt. Keinen männlichen, keinen, der augenscheinlich nach dem Aufstand in die Sklaverei gekommen war. Ihre Statur war aufrecht, ihr Blick fragend und beinahe verloren. Durch einen solchen Mann war ihr Vater also gestorben? Gegen eine solche Übermacht an Masse hatte Rom verloren? Lautlos formten ihre Lippen an den Unbekannten. Irgendetwas ging von ihm aus, was sie nicht mehr loszulassen schien und jede Stimme wurde von ihr aus dem Gehör verbannt.