Ganz vorn in der Menge erspähte Valeria Lucilla. Da sie ihr aber nicht winken wollte oder ähnliches (immerhin war das Opferritual bereits eingeleitet worden), zwinkerte sie ihr nur zu, zum Zeichen, dass sie sie gesehen hatte. Neben römischen Leuten waren vielerlei Hautfarben und Gesichtsfarben vertreten - Sklaven, vorzugsweise Sklavinnen, die teils ruhig, teils begierig auf die Vergabe der Feigenzweige warteten, welche noch in großen Körben vor den Stufen des Tempels standen.
Als Valeria befand, dass der Weihrauch die Göttin genug in der Nase gekitzelt hatte und Iuno sich nun ganz sicher dem mit Menschen gefüllten Vorplatz zugewendet haben musste, wandte sie sich an die Menge und hob beide Arme gen Himmel.
"Geliebte Iuno, Iuno Caprotina, erhöre unsere Worte! Mit deinem Wohlwollen erblickten im Frühjahr Zicklein und Lämmer das Licht der Welt. Durch deine Gnade gedeihen Schafe und Ziegen und spenden den Menschen Milch, Fleisch und Wolle. Dank deines Segens konnten reichlich Feigen eingebracht werden. Koste von den Früchten deiner Güte", trug Valeria mit klarer Stimme vor. Sie ließ die Arme nun sinken und griff nach der Feigenmilch, die man ihr in einer flachen Schale reichte. Jene hielt sie halb hoch, damit die versammelte Menge sehen konnte, was nun geschehen würde.
"Dies ist frische Feigenmilch, gewonnen aus den Blättern und Früchten der heiligen Feigenbäume am Campus Martialis. Als Geschenk für dich, Iuno Caprotina, übergeben wir sie dem glimmenden Feuer", erklärte die Decima und trat an den Foculus heran. Sehr langsam, damit die Glut nicht in Feigenmilch ertrank, goss Valeria Schluck für Schluck die zähflüssige Milch in die Glut. Zischend verdampfte ein Großteil der Flüssigkeit schon beim Auftreffen. Rauchschwaden zogen gen Himmel und ein süßlicher Geruch verbreitete sich auf dem Vorplatz des Tempels. Als die Schale zur Hälfte geleert war, reichte Valeria die Schale einem Opferdiener.
"Iuno Caprotina, wir danken dir für den Schutz, welcher du unserem Vieh gewährst, und wir danken dir, ziegenfellbekleidete Iuno, für deine Güte, mit der du uns bedenkst. Dieses Zicklein, rein und jungfräulich, soll ein weiteres Geschenk an dich sein."
Määäääääääähh!! Ein Opferhelfer führte nun an einer goldenen Kordel eine kleine Ziege herbei, die schneeweißen Felles war. Meckernd trabte sie heran, bei jedem Schritt wackelten ihre viel zu großen Ohren lustig auf und ab, und der winzige Schwanzstummel zuckte in einem fort. Määmämähhh! Valeria hatte sich schon bei der ersten Kundgebung des Zickleins demselben zugewandt, und während die Ziege hergebracht wurde, verteilten fleißige Hände bereits die Feigenzweige aus den bereitstehenden Körben. Mit ihnen würden nach dem erfolgreichen Opfer regelrechte Straßenschlachten ausgefochten werden - man tat eben doch gut daran, seine Sklaven gut zu behandeln. Määäähhh. Kurz darauf waren Helfer und Ziege vor dem Altar angelangt, und auf einem blutroten Kissen reichte man Valeria das Opfermesser an. Sie nahm es und strich der Ziege über den Rücken - Määh!? - wie es das Ritual erforderte, ehe sie es hoch hielt. Ein Sonnenstrahl brach sich auf dem kunstvollen Griff. Mäh.
"Iuno Caprotina, nimm dieses jungblütige Zicklein an, zum Zeichen unseres Dankes und unserer tiefen Verehrung. Wir bitten dich: Gewähre dem Kleinvieh auch im nächsten Jahr Schutz auf den zahlreichen Weiden und lasse es wohl gedeihen!"
Die Priesterin reichte das Messer nun einem jungen Schüler, dessen erstes öffentliches Opfer dies hier war. Es stellte zugleich seine Prüfung dar, denn Valeria hatte befunden, dass ein Opferritual hinter verschlossenen Tempeltüren sehr viel leichter durchzuführen war für einen Neuling als ein öffentliches. Viele Augenpaare ruhten auf dem jungen Mann, dem der Schweiß auf der Stirn stand. "Agene?" - "Age! - Määääh!! Die Ziege erkannte nun wohl ihr Schicksal, denn sie riss die Augen auf und wollte sich loszerren, doch da stach der Discipulus beherzt zu. Hellrotes Blut sprudelte aus der Vene am Hals des jungen Tieres. Viel wares aufgrund der Größe nicht und der Blutfluss war schnell versiegt, dennoch wurde das Blut in einer flachen Schale aufgefangen. Valeria beobachtete alles mit den scharfen Augen einer Lehrherrin, denn dies war ihr Schüler, und sie fand, dass er seine Augfabe gut machte. Nun wurde der kleine, runde Bauch des Zickleins aufgeschnitten und seine Innereien auf eine Patera gelegt, welche man einem Mann im Hintergrund reichte, der sich sogleich darüber beugte und Leber, Herz, Gedärm und Nieren aufmerksam nach Makeln absuchte....