Die letzten Tage waren nicht eben leicht gewesen für Valeria. Die Dinge, die sie erfahren hatte, waren ihr wie vor den Kopf gestoßen hingeschleudert worden. Und das Schlimmste daran war, dass sie es nicht von demjenigen erfahren hatte, der es ihrer Meinung nach hätte sagen müssen. Sie kam sich nun umso schäbiger vor, wenn sie an ihre Vergangenheit dachte, und umso stärker wurde der Wunsch, endlich aus der Casa Decima herauszuheiraten und sich neuen Aufgaben zu widmen. Doch bisher hatte sie niemanden getroffen, der dafür in Frage kam, uns sie kannte sich selbst zu wenig in der römischen Gesellschaft dieser Tage aus, als dass sie so eine Vorauswahl hätte treffen können. Vielleicht waren die momentanen Umstände und die Ereignisse der letzten Tage der Grund, aus dem Valeria überdurchschnittlich viel Zeit in den stadtrömischen Tempeln verbrachte. Iuno war seit je her ihre favorisierte Göttin gewesen, auch wenn es eigentlich nicht gut war, Vorlieben zu haben. Schon immer aber hatte sie sich zu ihr hingezogen gefühlt.
Als Valeria heute aus ihrem Zwiegespräch mit Iuno in das bunte Treiben der Stadt zurückkehrte, fühlte sie sich auf eine angenehme Art und Weise ruhig und ausgeglichen. Schuld daran war vor allem die neue Weihrauchmischung, die sie erworben hatte, aber Valeria glaubte viel eher, dass es die Nähe zu Iuno gewesen war, die ihr Kraft gab. Mit leeren Händen und wieder einmal vollkommen allein unterwegs - sie wusste, dass sie damit das Schicksal herausforderte - trat sie aus dem Capitol hinaus und ließ das sich ihr bietende Bild einen Moment auf sich wirken. Erst danach machte sie sich daran, allmählich auf die heimische Casa zuzugehen.
Es war wohl mehr Zufall als Absicht, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf Mann nahe des Tarpeischen Abgrundes lenkte. Ein kleines Seidentuch wirbelte in grazilen Drehungen vor ihr durch die Luft, kräuselte sich und streckte sich - und verschwand dann an dem Senator vorbei in Richtung des Grundes. Valerias Augen blieben auf der Gestalt haften, und sie selbst blieb stehen. Das bläulich eingefärbte Tuch schien niemand zu vermissen. Seltsam, dass er so versunken brütend dort hinunter starrte. Valeria gab sich einen Ruck und beschloss, ihn anzusprechen. Langsam lenkte sie ihre Schritte hin zu ihm und blieb zwei Schritt schräg hinter ihm stehen. Sie beugte sich vor, um ebenfalls hinunter blicken zu können, hob dann die Augenbrauen, als sie das Tuch dort unten entdecken konnte. Es hatte sich in einer Gesteinsritze verfangen und zappelte leidend im Wind hin und her. "Ganz schön tief", bemerkte sie dann und wandte den Kopf zu dem Mann hin. Sie betrachtete sein Profil. Irgendwo hatte sie ihn schon einmal gesehen, überlegte sie. Nur wo? Denn Valeria erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie genau diesen Mann in einer ähnlichen Stimmung schon einmal getroffen hatte.