• Der Iulier rührte sich nicht, und die Sklaven kamen weiter auf ihn zu – sie blieben erst dicht vor ihm stehen, als Seiana ihnen einen Wink gab, weil sie noch etwas sagen wollte. „Ich habe dich eingeladen, um dich zu ersuchen, in Zukunft mit mir persönlich zu sprechen, bevor du weitere Eskalationsstufen angehst“, korrigierte Seiana den Iulius – und sie wusste nicht mehr, zum wievielten Mal sie das nun schon sagte. Aber vielleicht nutzte die stete Wiederholung ja doch irgendwann etwas. Was allerdings nun das weitere Gespräch betraf, hatte sie keine Ahnung, was der Iulius von ihr wollte – er war seinen Standpunkt ja dennoch losgeworden. Der Artikel selbst allerdings – der noch nicht einmal ein richtiger Artikel gewesen war, sondern lediglich eine Kurzmeldung unter vielen! –, besagte Meldung also war vor inzwischen über einem halben Jahr erschienen. Wäre der Iulius gleich bei ihr erschienen, hätten sie womöglich noch weiter diskutieren können, aber nun, nachdem kaum noch jemand an diese Meldung dachte, sah Seiana keinen Sinn in einer weiterführenden Debatte. Ganz davon abgesehen, dass die Einschaltung von Livianus in ihren Augen bereits eine Eskalationsstufe war, die zeigte, dass der Iulius nicht auf klärendes Gespräch mit ihr aus gewesen war – sondern versucht hatte, ihr auf diesem Weg die Kandare anlegen zu lassen. Und dieser Eindruck hatte sich nur bestätigt, nachdem der Iulius nun quasi von Anfang an mehr oder weniger direkt auf eine Klage angespielt hatte. „Deinen Standpunkt dargestellt hast du dennoch, was ich dir auch keineswegs absprechen möchte – auch wenn es nicht nötig war, denn mein Onkel hat mir deinen Standpunkt bereits vermittelt. Dass du allerdings von Beginn dieses Gesprächs an konsequent und immer direkter mit einer Klage gedroht hast, ist für mich nicht akzeptabel, Iulius. Ich wiederhole mich nur ungern – und ich werde mich kein weiteres Mal wiederholen –, aber ich führe kein Gespräch fort, in dem ich bedroht werde. Du kannst gehen.“ Die Sklaven setzten sich wieder in Bewegung. Sie waren decimische Sklaven, und ihre Herrin hatte eine klare Anweisung erteilt. Diesmal würden sie den Iulier, keineswegs grob, aber dennoch sehr bestimmt, in Richtung der Tür drängen.

  • Im Tablinum angekommen stand schon eine Sklavin bereit, die dem Consular etwas zu trinken anbot, während der Botenjunge sich flugs wieder auf den Weg machte, um Mattiacus Bescheid zu geben.

  • Gestützt auf seinen Gehstock humpelte Durus in die Casa Decima. Während er sich umsah, stellte er fest, dass er schon viel zu lange nicht mehr hier zu Gast gewesen war. Vielleicht ließ sich die Beziehung zu Mattiacus wieder ein wenig beleben - für einen professionellen Juristen sollte die Niederlage vor Durus als Richter ja kein Hindernis darstellen.


    Dann wartete er - was natürlich für einen Consularen doch etwas ungewohnt war.

  • Mattiacus erschien frisch rasiert im Tablinum. Man hatte ihm mitgeteilt, dass dort ein Gast auf ihn wartet. Diesen begrüßte er auch sogleich.


    "Salve mein lieber Durus. Wie geht es dir?"


    Mattiacus wies auf die Korbesesselgruppe in der Ecke des Tablinums. Dort hielt er sich gerne auf, wenn Gäste zu Besuch kamen.


    "Bitte, setz dich. Möchtest du etwas trinken?" fragte er.

  • Als er Mattiacus erblickte, schenkte Durus ihm ein gewinnendes Lächeln. Inzwischen konnte er sich kaum mehr vorstellen, dass er diesem jungen Mann unterstellt gewesen war - inzwischen hatten sich die hierarchischen Verhältnisse aber deutlich geändert. Dennoch genoss der Decimer als Jurist natürlich höchstes Ansehen, weshalb der Tiberier auch hier war.


    "Oh, ganz gut, danke! Mein Bein macht zur Zeit große Fortschritte - und selbst?"


    Auf die Weisung des Gastgebers nahm er Platz, lehnte seinen Gehstock an die Armlehne seines Sessels und gab mit einer Geste zu verstehen, dass er auf eine Erfrischung verzichtete. Stattdessen ließ er sich von Lukios mehrere Tabulae reichen.


    "Ich brauche wieder einmal deinen Rat als Jurist. Ich habe vom Senat den Auftrag erhalten, die juristischen Gepflogenheiten zum Thema Mündigkeit und Altersgruppen zu referieren. Es geht um eine Überarbeitung der Lex Flavia. Deshalb wollte ich dich bitten, mal einen Blick auf meine Zusammenfassungen zu werfen - damit ich nichts übersehen oder vergessen habe:"


    [simoff]Ich habe mir die entsprechenden Artikel im Neuen Pauly angesehen und versucht, das für den Stand um 100 n. Chr. zusammenzufassen. Allerdings wollte ich doch noch mal deine Meinung als "echter" Jurist einholen ;)[/sim-off]


    Er reichte die Tabulae an Mattiacus weiter:

    Commentarii de Pubertate


    verfasst von M‘ Tiberius Durus



    PRIDIE KAL MAR DCCCLX A.U.C. (28.2.2010/107 n.Chr.) brachte der ehrenwerte Consular L Flavius Furianus einen Gesetzesentwurf in den Senat ein, der an den NON APR DCCCLX A.U.C. (5.4.2010/107 n.Chr.) als Lex Flavia de operositas Gesetzeskraft gewann. Nachdem der bekannte Magister Iuris M Vinicius Hungaricus jedoch Einspruch einlegte gegen dieses Gesetz und seine Aufhebung beantragte war es im Auftrag des Senates an mir, einen Kommentar über die bisherigen juristischen Gepflogenheiten die Pubertas und Tutela betreffend abzufassen.


    Um diese darzustellen möchte ich einleitend die Patria Potestas als prinzipiellste Form der Rechtsvollkommenheit gemäß unserer Mos Maiorum darstellen, ehe ich deren unterschiedliche Abstufungen dem Alter und Geschlecht nach betrachte. Abschließend erfolgt eine knappe Betrachtung der Tutela.


    I. Patria Potestas
    Die vollständigste Rechtsfähigkeit, die für einen römischen Bürger möglich ist, ist die Patria Potestas. Sie kommt zu Oberhaupt einer Familie und erstreckt sich prinzipiell über sämtliche Angehörigen des Haushaltes, die seiner Manus unterstehen. Namentlich handelt es sich hierbei um seine Ehefrau, soweit er mit dieser nicht eine Ehe sine manu eingegangen ist, weiterhin alle seine leiblichen und adoptierten, sowie adrogierten Nachkommen und sämtliche Sklaven des Hauses. Dabei umfasst die Patria Potestas sowohl die alleinige Verfügung über das Hausvermögen, wie auch die leibliche Gewalt über seine Gewaltunterworfenen einschließlich deren Verkauf und Aussetzung. Ausgeschlossen ist hingegen gemäß dem Erlass des göttlichen Augustus das Recht, seine Gewaltunterworfenen zu töten. Solange sich ein Mann unter der Patria Potestas befindet, besitzt er nicht die volle Rechtsfähigkeit, d. h. es ist ihm nicht möglich, für sich selbst Rechte begründen und erwerben zu können. Stattdessen ist es Pubes lediglich gestattet, mit Zustimmung des Gewalthabers in dessen Namen Rechtsgeschäfte abzuschließen.


    Die Patria Potestas kommt nur römischen Bürgern zu gegenüber ihren legitimen Kindern gemäß dem tradierten Eherecht. Sie endet entweder durch den Tod oder die Verbannung des Pater Familias, oder durch die Emancipatio bzw. Adoption durch einen anderen Pater Familias.


    Gemäß den XII Tabulae ist der Pater Familias berechtigt, seinen Gewaltunterworfenen einen Teil des Patrimonium als Peculium zum persönlichen Gebrauch zu überlassen. Zivilrechtlich verbleibt es jedoch im Eigentum des Pater Familias, der entsprechend seiner Gesamtsumme auch für die Peculia seiner Gewaltunterworfenen haftet. Verstirbt der Besitzer des Peculium, geht dieses wieder in den Besitz des Gewalthabers über. Gemäß der Mos Maiorum ist es indessen Sitte, einem Sklaven sein Peculium bei der Freilassung, einem Haussohn beim Verlassen der Hausgemeinschaft gänzlich zu überlassen und ihn frei darüber verfügen zu lassen.


    II. Tutela
    Untersteht ein Impubes (Unmündiger) keiner Patria Potestas, ist für die Verwaltung seines Vermögens und die Sorge für Unterhalt und Erziehung ein Tutor zu bestellen. Diese Bestellung kann auf drei Arten erfolgen:


    (1) Gemäß Tafel V der XII Tabulae ist der Pater Familias dazu berechtigt, in seinem Testament einen Tutor Testamentarius für seine Gewaltunterworfenen zu bestellen. Dieser ist durch den Praetor Urbanus zu bestätigen.
    (2) Bestellt der Pater Familias keinen Tutor für seine Gewaltunterworfenen, so wird gemäß Tafel V der XII Tabulae der nächste agnatische Verwandte zum Tutor Legitimus bestimmt.
    (3) Gemäß der Lex Atilia ist es ebenfalls möglich, dass der Praetor Urbanus einen Tutor bestellt. In unseren Zeiten obliegt dieses Recht jedoch dem Consul, in den Provinzen dem Proconsul.


    Ist der bestimmte Tutor nicht gewillt, die Tutela zu übernehmen, so ist er bei begründeter Excusatio (Entschuldigung) berechtigt, diese auszuschlagen. Namentlich sind diese Krankheit, Absenz infolge des Militärdienstes oder der Bekleidung öffentlicher Ämter oder hohes Alter. Im Falle einer Tutela über eine Frau ist der Tutor jedoch berechtigt, seine Tutela auf einen anderen Mann zu übertragen.
    Die Tutela endet automatisch mit dem Mündigwerden eines männlichen Mündels, also dem Anlegen der Toga Virilis. Zum Schutz vor Übervorteilung ist der junge Mann indessen berechtigt, beim Praetor einen Curator zu beantragen. Dieser übernimmt bis zum Erreichen des 25. Lebensjahrs des jungen Mann die Verwaltung von dessen Vermögen.


    Gegen Veruntreuung und Misswirtschaft seines Tutors ist das Mündel berechtigt, gemäß den XII Tabulae Klage vor dem Praetor einzureichen.


    Auch Frauen sui iuris ist, soweit sie nicht das Ius Trium Liberorum gemäß der Lex des Divus Augustus inne hat, ein Tutor zu bestellen. Gemäß dem Erlass des Divus Claudius ist jede Frau indessen berechtigt, vor dem Praetor die Bestellung eines durch sie ausgewählten Tutors zu beantragen.
    Anders als bei Impubes ist die Auctoritas Tutoris bei mündigen Frauen jedoch lediglich zur Tätigung größerer Rechtsgeschäfte notwendig. Verweigert der Tutor seine Auctoritas, ist die Frau zu einer Erzwingungsklage vor dem Praetor berechtigt.


    Für den Aufwendungen des Tutors ist dieser berechtigt, vor dem Praetor mittels der Actio Tutelae Contraria eine Aufwandsentschädigung aus dem Vermögen des Mündels einzuklagen.


    III. Infans
    Die niedrigste Rechtsstellung, in der sich ein römischer Bürger befinden kann, ist hingegen die eines Infans, der stets unter einer Patria Potestas oder eine Tutela zu stehen hat. Sein Status ist definiert als ein Kind unter VII Jahren, das nicht die Fähigkeit zum Sprechen besitzt. Dementsprechend ist ein Infans nicht zur Tätigung jedweder Rechtsgeschäfte befähigt. Ob dieser Grundsatz durch die Auctoritas eines Tutors aufgehoben werden kann, ist in juristischen Kreisen umstritten.


    Die Mos Maiorum sieht jedoch vor, dass ein Infans über das Peculium seines Sklaven Eigentum und Besitz erwerben kann.


    IIII. Impubes Infantia Maior
    Ab dem Alter von VII Jahren gilt ein Kind als Infans Maior. Als solches ist es zur eigenständigen Durchführung von Rechtsgeschäften befähigt, soweit sich diese lediglich auf den Erwerb von Gütern beschränken. Geht ein Infans Maior ein wechselseitig verpflichtendes Rechtsgeschäft ein, kann es zur Erfüllung der Pflichten nicht gezwungen werden. Erfüllt es diese jedoch, ist das Rechtsgeschäft gültig.
    Verpflichtungsgeschäfte und Verfügungen erhalten hingegen lediglich mit der Auctoritas Tutoris Rechtskraft. Namentlich ist darunter die Bezahlung von Gütern, Veräußerungen von Besitz, Freilassung von Sklaven, sowie Verpfändung von Besitz zu zählen. Ebenso ist ein Infans Maior nur mit der Auctoritas Tutoris zur Annahme von Erbschaften berechtigt. Die Abfassung eines rechtskräftigen Testamentes ist ihm hingegen nicht gestattet.


    Die Haftungspflicht eines Infans Maior besteht nach neuesten Entwicklungen nur dann, wenn es als Proximus Pubertati bereits befähigt ist, begangenes Unrecht einzusehen.


    V. Pubertas
    Mit dem Anlegen der Toga Virilis erreicht der Jüngling die Pubertas, also die Mündigkeit. Dies erfolgt – wie allgemein bekannt – mit dem Eintritt der Geschlechtsreife, die traditionell mit der Inspectio Habitudinis Corporis überprüft wird. Sempronius Proculus plädiert allerdings dafür, diesen Eintritt generell mit dem XIIII. Lebensjahr zu bestimmen. Für Mädchen tritt die Pubertas hingegen mit dem Erreichen des XII. Lebensjahres ein.


    Mit der damit verbundenen Eintragung in die Bürgerlisten erhalten die Pubes die volle Geschäftsfähigkeit und Strafmündigkeit. Dies beinhaltet die Testierfähigkeit, das Recht zur Eheschließung, der Abschluss von Verträgen etc. Dementsprechend bedarf ein solcher junger Mensch auch nicht mehr eines Tutors, dessen Aufgaben mit Erreichen der Pubertas seines Mündels automatisch erlöschen.


    Einschränkend sei dennoch zu bemerken, dass Pubes weiterhin der Patria Potestas – soweit vorhanden – unterliegen und lediglich auf ein gewährtes Peculium zurückgreifen können. Aus diesem Grunde ist es ihnen gemäß der Lex des Divus Vespasianus nicht gestattet, Darlehen aus eigenem Recht aufzunehmen, sondern können dies nur durch ihren Gewalthaber tun.


    VI. Iuniores
    Die vorletzte Stufe des vollen Rechtsgewinns ist schließlich der Eintritt in die politische Welt. Dieser erfolgt mit dem Beginn des XVII. Lebensjahres. In diesem Alter kann der junge Bürger zum Militärdienst herangezogen werden und erhält damit auch das aktive und passive Wahlrecht. Gemäß der Lex Aelia Sentia sind auch erst Iuniores zur Freilassung ihrer eigenen Sklaven zugelassen.


    VII. Minor XXV Annis
    Bis zum Alter von XXV Jahren schließlich untersteht der junge Mann gemäß der Lex Laetoria noch weiter unter dem besonderen Schutz des Gesetzes, um vor Übervorteilung geschützt zu sein. Im Falle übervorteilender Geschäfte ist es dem Minor außerdem gestattet, die Erfüllung von Verpflichtungen zu verweigern. Tritt dieser Fall ein, kann der Gläubiger mit einer Geldbuße belegt werden und der Minor hat ein Anrecht auf eine Rückerstattung erbrachter Leistungen und eine Abfindung. Zur Steigerung seiner Vertrauenswürdigkeit kann der Minor beim Praetor die Bestellung eines Curators verlangen, der ähnlich einem Tutor bei der Vermögensverwaltung behilflich ist. Dennoch gewinnen auch Geschäfte ohne den Consensus des Curators Rechtsgültigkeit.


    VIII. Furiosi et Prodigi
    Gemäß Tafel V der XII Tabulae genießen alle, die sich im dauernden Zustand geistiger Störung befinden, aber auch Verschwender die Geschäftsfähigkeit von Impuberes und bedürfen demgemäß einer Tutela des gradnächsten Agnaten oder Gentilen.

  • Mattiacus nahm die Tafeln entegegen und überflog diese. "Tss, tss Proculus...." ließ er von sich hören, als er zu der betreffenden Stelle kam. "Manchmal hat er ja schon ganz gute Ideen. Aber generell neige ich eher Sabinus zu." sagte Mattiacus.


    "Also alles im allem hätte ich das Gutachten genauso auch geschrieben. Es enthält unsere gesamte heutige Rechtslage. Was ich nur ergänzen würde, wäre die Tatsache, dass die Patria Potestas erst mit dem Tode des Gewaltinhabers endet. Oder natürlich nach einer emancipatio und bei Frauen mit der Manus-Ehe. Aber wie gesagt, ansonsten gut." sagte Mattiacus.


    Sim-Off:

    Es ist natürlich ganz schwer, die genaue Rechtslage um 100 zu rekonstruieren, da der Großteil des an uns überlieferten Rechts ca. 120 Jahre später galt. Daher ist es schwer zu sagen, ob dass, was in den Digesten gerade von Ulpian verfasst ist, auch so um 100 galt. Aber wenn der neue Pauly das so schreibt wirds schon stimmen. Ergänzend kannst du auch noch mal in den "Alten" schauen. Ansonsten vielleicht auch in den Kaser.

  • Über die verschiedenen Juristenschulen konnte man durchaus geteilter Meinung sein - Durus war allerdings in dieser Beziehung eher auf Ausgleich bedacht und hatte so auch die Meinung der Proculianer eingebracht.


    "Eine gute Idee - vier Augen sehen eben doch besser als zwei!"


    antwortete der Tiberier dann auf den Ratschlag des Decimers. Tatsächlich hatte er in seiner Systematik offensichtlich diesen doch recht wichtigen Punkt vergessen. Ansonsten würde er das Gutachten allerdings zeitnah dem Senat vorlegen.

  • "Nun, im Prinzip wäre das auch schon alles - aber wenn du noch ein wenig Zeit hast, können wir natürlich gern bei einem Becher Wein ein wenig plaudern."


    erwiderte Durus - die wiederholte Einladung klang schließlich ganz danach, als wolle der Decimer genau das. Und abgesehen davon hatte der alte Tiberier auch einige Themen, zu denen Mattiacus vielleicht etwas sagen konnte.

  • "Gerne, du weißt ja, einem Becher Wein und einem Gespräch bin ich nie abgeneigt." sagte Mattiacus. Er rief den Diener herbei.


    "Darf es ein kräftiger Roter aus Hispania sein? Er kommt aus der Gegend um Tarraco, woher die Decimer stammen."

  • Der Sklavenjunge, der immer um den Ianitor Marcus herumwuselte, um ihm behilflich zu sein, Botengänge zu erledigen, ihn zu vertreten wenn nötig, vor allem aber um Gäste ins Haus zu geleiten, kam auch bei diesem Gast seiner Aufgabe vorbildlich nach. Auf Geheiß von Marcus – der aus der Ankündigung des Pompeius' geschlossen hatte, dass ein etwas privaterer Raum für diese Unterhaltung besser geeignet war als das Atrium – brachte er den Tribun ins Tablinum, bot ihm einen Platz und etwas zu trinken an und verschwand anschließend, um Decima Seiana zu holen.


    Lange musste der Gast nicht warten, bis eben diese erschien. „Salve, Pompeius“, grüßte Seiana den Tribun, auf ihren Lippen ihr typisches, vages Lächeln, das nichts so richtig auszusagen schien, außer einer gewissen Höflichkeit – und in diesem Fall perfekt verbarg, woran sie sich beim Anblick des Mannes vor ihr erinnerte: an jenen Abend in seinem Haus, als sie mit Archias zu Gast gewesen war bei ihm. Als sie noch verlobt gewesen waren. Als sie zum ersten Mal wirklich misstrauisch geworden war, was die angebliche Freundschaft zwischen ihrem Verlobten und der Iunia anging. Und daran, dass eben jene Iunia sie geküsst hatte, irgendwann im Verlauf des Abends. Allesamt Erinnerungen, die Seiana mit einer Konsequenz zu ignorieren imstande war, als wäre es gar nicht geschehen. Etwas anderes kam auch gar nicht in Frage, denn sonst wäre sie sicher nicht in der Lage, Axilla nun bei der Acta zu beschäftigen und mit ihr zusammenzuarbeiten. „Wie kann ich dir helfen?“

  • Ich bekam einen Platz und etwas zu trinken angeboten, was ich zwar beides ausschlug, immerhin wollte ich nicht den Eindruck erwecken als hätte ich vor auf Kosten meines Kommandanten eine schnelle Mahlzeit zu genießen, jedch empfand ich als angenehm diese Gastfreundschaft entgegengebracht zu bekommen ... die letzten Monate beim Militär hatten nur wenige solcher Momente beinhaltet ...


    Als schließlich die angekündigte Hausherrin eintraf, war ich zunächst etwas verunsichert, sie kam mir bekannt vor ... aber mir wollten weder Name noch sonstige Informationen einfallen, ein Umstand den ich als äußerst unangenehm empfand, schätzte ich es doch bestens über meine Gesprächspartner informiert zu sein ...


    "Salve! Entschuldige die Störung, Decima, aber ich komme mit einigen unangenehmen Fragen bezüglich eines Verwandten von dir ... dem Praefectus Classis der Classis Misenennsis, Primus Decimus Magnus. Der Praefectus ist seit einigen Tagen nichtmehr aufzufinden und nun wird er natürlich seitens des Oberkommandos vermisst, der Kaiser ist besorgt vor allem da die bisher einzige Information besagt der Praefectus wäre schwer erkrankt und hätte sich auf ein Landgut der Gens zurückziehen müssen. Weißt du etwas darüber?"

  • „Du störst nicht“, antwortete Seiana höflich, während sie sich zu dem Tribun setzte. Ein Sklave brachte auch ihr etwas zu trinken, danach zog er sich dezent weit genug in den Hintergrund zurück, dass er zwar sofort zur Stelle sein konnte, wenn er gebraucht wurde, allerdings nicht stören würde. „Er ist schwer krank, das stimmt.“ Sie hatte mitbekommen, wie Mattiacus und Venusia aufgebrochen waren, und Mattiacus hatte ihr erst kürzlich eine Botschaft zukommen lassen. Das allerdings hieß noch lange nicht, dass sie einfach so alles erzählen würde – selbst wenn ein Untergebener ihres Onkels vor ihr saß. Wobei es sie ohnehin etwas verwunderte, dass die Classis offenbar nicht Bescheid wusste. „Es wundert mich ein wenig, dass die zweite Führungsriege der Classis offenbar nicht wirklich informiert worden ist, Pompeius.“ Die unausgesprochene Frage, wie es wohl dazu kam, schwang in ihren Worten mit, allerdings sprach sie sie – noch – nicht aus. Vielleicht würde der Pompeius ihr den Gefallen tun und so darauf antworten. Allerdings stellte sie eine andere Frage: „Du hast gesagt, der Kaiser schickt dich?“ Der Sklavenjunge, den der Ianitor losgeschickt hatte, hatte das behauptet. Allerdings wagte sie zu bezweifeln, dass der Pompeius tatsächlich vom Kaiser den Auftrag bekommen hatte nachzuforschen. Dann schon eher von seinem Stellvertreter in Rom... und dieser war den Decimern nicht unbedingt wohlgesonnen, sah man einmal von Verus ab, der seiner Familie den Rücken gekehrt hatte zugunsten seiner Karriere.

  • Als Seiana hörte, wer vor der Tür war und sie zu sprechen wünschte, war sie im ersten Augenblick überrascht. Axilla und sie hatten nach wie vor nicht unbedingt das, was man als im eigentlichen Sinn gutes Verhältnis bezeichnen konnte. Unterkühlt traf es deutlich besser. Nun war Seiana zu den meisten... unterkühlt; bei der Iunia allerdings hatte es seinen Grund, dass sie distanziert war, einen tieferen als den simplen, dass Seiana Nähe weder wirklich mochte noch zulassen konnte. Sie achtete strikt darauf, Axilla fair zu behandeln, so wie jeden ihrer Mitarbeiter – bevorzugte sie hin und wieder unbewusst vielleicht sogar ein wenig in ihrem Bemühen, sie nicht zu benachteiligen aufgrund von Vergangenem –, aber viel mehr war da nicht. Nichts, was einen Besuch hier rechtfertigte. Schon gar nicht, wo sie sich doch ohnehin regelmäßig im Domus der Acta sahen.


    Seiana stellte sich also die Frage, weswegen die Iunia wohl hier war, aber sie zögerte nicht lange und ließ sie ins Tablinum bitten und ihr anzubieten, was immer sie wählen mochte. Nur kurze Zeit später tauchte sie ebenfalls auf. „Salve, Axilla“, grüßte sie sie. „Wie kann ich...“ Dir helfen. Die Worte erstarben auf ihren Lippen, und sie erstarrte, als sie Katander sah.

  • Ein ganz klein wenig nervös war Axilla schon, als sie die Casa Decima betrat. Sie hatte sie nicht mehr betreten seit... Axilla wusste gar nicht mehr, wann es das letzte Mal war. Als sie sich bei Seiana zu entschuldigen versucht hatte wegen der Sache mit der geplatzten Verlobung, glaubte sie. Das musste schon ewig her sein. Das war noch vor ihrer Hochzeit mit Archias gewesen. Damals hatte Leander noch gelebt und sie begleitet...
    So betrat sie das Tablinum mit Katander bei sich, während Malachi an der Porta wartete, wie es sich gehörte. Sie hätte ja auch Katander dort gelassen, wenn es nicht um ihn gegangen wäre bei dem Gespräch, das sie führen wollte. Und sah auch gleich, wie Seiana darauf reagierte. Da fiel ihr fast beiläufig auf, dass Seiana sie beim Cognomen genannt hatte und nicht beim Gentilnomen wie sonst immer. Vielleicht wurde ihr Verhältnis ja doch langsam besser? Dennoch war Axilla nervös und wollte sich gerade verlegen am Unterarm kratzen, als sie fühlte, dass das eine blöde Idee war. Seit einem Tag war der Verband nun weg und der Schorf heruntergeschruppt. Die Haut darunter war noch rosa und dünn und empfindlich. Zum Glück wurde das von den Ärmeln ihres Kleides verdeckt. Also ließ sie es besser und statt dessen ließ sie die Arme einmal in einer hilflosen Geste ausschwingen.
    “Salve, Seiana“, erwiderte Axilla die Begrüßung, ebenfalls mit Cognomen. Vielleicht hatte es ja wirklich etwas zu bedeuten gehabt, und da wollte sie ganz sicher jetzt nicht die Unnahbare spielen und förmlich korrekt und höflich distanziert bleiben. “Ähm, ich bin gekommen, um dir Katander zu bringen. Ich... weiß grade gar nicht, ob du Archias' Testament kennst. Ich hab dir auch eine Abschrift mitgebracht, und... naja, auf jeden Fall sollst du Katander bekommen. Ich weiß ja, dass du nicht erben kannst, weil du nicht verheiratet bist...“ Bei den letzten Worten wurde Axilla immer leiser und nuschelte mehr, als dass sie sprach. Denn dieser Umstand war ja nach wie vor der Tatsache geschuldet, dass Archias Axilla geheiratet hatte und nicht Seiana. “Aber ich denke, dass es so richtig ist. Ich... ähm, werde das mit Archias Verwandten dann klären, falls es da Probleme geben sollte, da stehe ich dann dafür gerade.“ Irgendwo hatte Archias wohl noch einen Cousin, den Axilla aber nicht kannte. Aber wegen einem Sklaven sollte der hoffentlich keinen Aufstand machen. Und ansonsten gab Axilla ihm einfach einen anderen vom Markt. Der kannte Katander ja gar nicht, für den war das nur ein Name.

  • Erst, als Axilla sie ebenfalls bei ihrem Cognomen nannte, fiel Seiana auf wie sie die Iunia genannt hatte. Scheinbar bröckelte die Distanz ein wenig, wenn man zusammenarbeitete... Seiana allerdings schob die Gedanken, für den Moment wenigstens, fort. Gesagt war gesagt, und weswegen Axilla hier war, war weit wichtiger. Ihr Blick irrte erneut zu Katander, der sich recht schweigsam im Hintergrund hielt – weswegen, vermochte Seiana nicht zu sagen –, dann allerdings konzentrierte sie sich auf Axilla. „Nein, ich kenne sein Testament nicht. Er hat mir allerdings einen Brief geschrieben, vor seinem...“ Seiana stockte kurz, bevor sie fortfuhr: „Tod.“ Sie räusperte sich, während sie die Bemerkung mit der Heirat einfach überging. Dies war einer der wenigen Momente, in denen sie sich beinahe verlegen fühlte. Das Thema war einfach... nach wie vor sensibel, für sie zumindest, wie es Axilla ging, vermochte Seiana nicht zu sagen, auch wenn die Tatsache, dass sie zwischendurch fast anfing zu nuscheln, implizierte dass sie sich auch nicht ganz so sicher war.


    Ein Moment verging in einem merkwürdigen Schweigen, dann machte Seiana eine Geste zu den Korbstühlen. „Setz dich doch.“ Sie selbst blieb noch stehen, unschlüssig, was ihr selten passierte. Sie nahm ungern einen Gefallen an, oder ein Geschenk. Andererseits war es offenbar nicht nur ein Hirngespinst gewesen von Archias, oder ein leeres Versprechen, sondern tatsächlich in seinem Testament. Und dann war da noch Elena. Allein ihretwegen konnte, durfte Seiana jetzt nicht ihrem Stolz den Vorzug geben und die Großzügigkeit der Iunia ablehnen. Zu Katander gewandt meinte sie also, ein wenig leiser: „Geh ruhig, du kennst dich hier ja aus.“ Eine Pause, dann: „Elena ist im Augenblick in Hispania.“ Sie wartete, bis der Sklave verschwunden war, dann ging sie zu Axilla und setzte sich ebenfalls. „Danke, das ist sehr großzügig von dir. Ich war mir nicht sicher, ob... Archias tatsächlich meinte, was er mir geschrieben hat – und selbst wenn wäre ich nicht erbberechtigt gewesen, wie du sagtest. Und dann habe ich gehört, dass das Erbe ohnehin beschlagnahmt wurde.“ Sie musterte die Iunia. „Wieso wurde das rückgängig gemacht?“

  • Ach, sie auch? Axilla fragte sich, wem er denn noch alles geschrieben hatte. Bislang wusste sie von ihrem Brief, der sehr unorthodox überbracht worden war, dann den an Salinator natürlich und nun noch einer an Seiana. Vermutlich hatte Piso auch einen erhalten, und vielleicht benahm der sich deshalb seit Archias' Tod doppelt arschig. Auch wenn der Brief, den sie selbst erhalten hatte, sehr nach Vergebung geklungen hatte – wenngleich Axilla sich auch nichts vorzuwerfen hatte, was vergeben werden müsste – konnte sie sich schon gut vorstellen, was Archias über sie und Vala geschrieben haben mochte. Sein Testament zeigte das ja auch deutlich. Sehr deutlich.
    Oh, aprospos. Axilla ließ sich von Katander noch die mitgebrachte Wachstafel geben, auf der sie das Testament abgeschrieben hatte, extra für Seiana. Sogar vollständig – so lang war es ja auch nicht – obwohl einige Stellen nur zu gern von ihr ausradiert worden wären. Aber irgendwie hatte sie doch noch Respekt vor dem letzten Willen eines Menschen, selbst wenn dieser Mensch verrückt war. Und außerdem wusste Axilla nicht, ob sie Seiana nicht noch sagen musste, dass Archias verrückt war, wofür sein Testament ein gutes Indiz war. Und so setzte sie sich auf den ihr gebotenen Platz, während Katander schon in der Casa Decima verschwand. Er hatte nicht ein Wort mehr gesagt.
    Axilla setzte sich also und wartete, bis ihre Gastgeberin dasselbe tat, um das Gespräch aufzunehmen. Allerdings schnitt sie da gleich ein Thema an, bei dem Axilla etwas betreten beiseite schaute und instinktiv die Beine näher zu sich zog. Am liebsten hätte sie sie hochgenommen, aber das ließ sie doch bleiben. Es sollte keiner wissen, was genau geschehen war, noch nicht einmal Verdacht sollte jemand schöpfen. Schon gar keine Frau, und erst recht nicht Seiana. Nein, das würde sie nur Seneca gestehen, und dann nicht mehr davon sprechen.
    “Es ist auch noch beschlagnahmt. Die Betriebe, die Grundstücke, das Geld... alles. Nur nicht die Sklaven.“
    Sie hielt noch immer die Wachstafel in ihrer Hand, mit der sie unterbewusst ein wenig herumgespielt hatte. Als der Holzrahmen ihren Schenkel berührte, erinnerte sie sich wieder daran, und reichte sie Seiana. “Oh, hier ist noch das Testament. Ich dachte, vielleicht willst du es lesen. Ich weiß ja nicht, was Archias dir so geschrieben hat, bevor er... hrrm... du weißt schon.“ Bevor er gemeint hatte, dass fliegen schön sei und die Aussicht vom Tarpejischen Felsen so phantastisch, dass man es dort üben müsse. “Mir hatte er auch noch etwas geschrieben, aber das war sehr... wirr.“ Im Grunde hatte er von Dingen geschrieben, die er weder gesehen noch gehört haben konnte und die so nie gewesen waren. Was ein weiteres Indiz für Axilla war, dass er einem Wahnsinn anheim gefallen sein musste. Eine andere, vernünftige Erklärung gab es für sein Verhalten in den letzten Monaten vor seinem Tod nicht.
    “Naja, auf jeden Fall hatte Vescularius ja Archias komplettes Erbe eingezogen, unter anderem auch meine Dos. Deshalb habe ich Tiberius Durus beauftragt, das als Advocatus einmal anzusprechen. Ich dachte, das wäre eine gute Idee, weil er ja Senator ist und Pontifex und Patrizier und so. Und eigentlich wollte ich, dass er auch das Erbe anspricht, was er aber wohl nicht getan hat. Also habe ich selbst Vescularius angesprochen, zuerst ohne Erfolg. Salinator hat mich ausgelacht, um ehrlich zu sein.“ Betreten sah Axilla beiseite. Lügen war schwer, Halbwahrheiten waren einfach. Sie ließ einfach essentielle Teile aus. Irgendwie ging das schon. “Aber vor drei Tagen stand dann doch ein Sklave von Vescularius vor der Tür und hat mir die Sklaven gebracht. Vielleicht hat der Praefectus gedacht, dass ich dann Ruhe gebe. Ich weiß es nicht.“
    Axilla zuckte die Schultern und sah nun erstmalig wieder zu Seiana. “Auf jeden Fall wollte Archias, dass du Katander bekommst, und... ich finde, es ist auch richtig so.“

  • Seiana beobachtete, wie Katander noch die Wachstafel übergab und dann verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben. Er hatte ihr nur kurz zugenickt, als sie von Elena gesprochen hatte. Irgendwie machte sie das ein wenig besorgt – aber wer wusste schon, wo und wie er die Zeit seit dem Tod seines Herrn hatte verbringen müssen.


    Axillas Worte lenkten sie jedoch für den Moment hinreichend ab von den Gedanken über Katander. Sie neigte sich leicht vor und nahm die Tafel entgegen, die die Iunia ihr reichte, warf einen schnellen Blick darauf in der Absicht, sie lediglich rasch zu überfliegen. Allerdings stockte sie schon nach wenigen Worten, beim ersten Absatz. Dann beim nächsten. Und bei nahezu jedem darauffolgenden. Sie konnte gar nicht anders, als das Schriftstück gänzlich zu lesen, und als sie fertig war, hatten sich ihre Brauen teils verwundert, teils verständnislos zusammengezogen. „Das hier... ist sein Testament?“ Sie warf erneut einen Blick darauf, aber ihre Verwirrung wurde nicht geringer, als sie sich gewisse Stellen zum zweiten Mal durchlas. Da war die Tatsache, dass er ihr etwas vererbte. Katander, das hatte sie noch verstanden, warum Archias ihr diesen Sklaven geschenkt hatte. Aber warum wollte er ihr noch etwas vererben? Hatte ihm etwa das Desaster mit der Taberna medica nicht gereicht? Oder hatte er ihr auf diese Art noch einmal, ein letztes Mal, unter die Nase reiben wollen, dass sie – dank ihm! – immer noch unverheiratet war, weil sie Jahre vergeudet hatte in dem Glauben, die Hochzeit mit ihm sei beschlossene Sache? Denn dass sie nichts von ihm würde erben können, musste ihm so klar gewesen sein wie jedem anderen Menschen. Und dann diese anderen kruden Kommentare, deren Sinn Seiana weder verstand noch nachvollziehen konnte.


    „Was er mir geschrieben hat, war nicht viel“, sagte sie schließlich. Nicht genug, um daraus schließen zu können dass es wirr sei. Im Gegensatz zu diesem Testament. „Nur, dass er mir Katander schenken wollte. Dazu noch einige Abschiedsfloskeln.“ Ihre Haltung, ihr Wesen war deutlich abgekühlt. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Archias mit der ihr zugedachten Erbschaft nur eines hatte bezwecken wollen: ihr klar zu machen, wie erbärmlich sie doch war. So erbärmlich, dass niemand sie wollen würde. Seianas Lippen wurden für Augenblicke zu einem schmalen Strich, bevor sie sich in die Realität zwang. „Nun, wie ich sagte, das ist sehr großzügig von dir. Und es ist bewundernswert, dass du nicht nur diese Mühen auf dich genommen hast, sondern sogar einen Erfolg erringen konntest.“ Was beim Praefectus Urbi keineswegs selbstverständlich war. Seiana konnte nur mutmaßen, was Archias getan hatte, aber selbst der Vescularier zog nicht einfach so ein Erbe ein. Schon gar nicht das eines Mitglieds der Kaiserfamilie.

  • Axilla nickte, und es hatte etwas resignierendes an sich. “Ja. Das ist sein Testament. Und ich schwöre bei Iuppiters Stein, dass ich nicht ein Wort beim Abschreiben verändert habe.“ Auch das klang resignierend und absolut nicht so feierlich, wie ein Schwur eigentlich hätte sein sollen. Aber es war ja auch eigentlich zum heulen, wenn man sich ansah, was aus Archias geworden war. Wobei Axilla sich fragte, ob er nicht schon immer so gewesen war, sie es nur nicht gesehen hatte. Nicht hatte sehen wollen. Er war ja auch wirklich lustig gewesen, und so unkompliziert, und... hach, bei den guten Seiten konnte man die schlechten fast vergessen. Aber auch nur fast.
    Und jetzt dieses Testament. Er schrieb zwar, dass er sie liebte, aber seine Taten darin sprachen eine andere Sprache. Alles von wirklichem Wert, was ihr als Witwe erst einmal über die Runden geholfen hätte, was ihren Wert gesteigert hätte, all das hatte er anderen vermacht. Um genau zu sein hatte er ihr nur die Brotkrumen vom Tisch hinterlassen. Das Geld sollte die Acta bekommen. Aber nur, wenn sie Rätsel ausschrieb, was schon von seiner Verrücktheit an sich zeugte. Seine Ländereien Piso, der diese nicht erben konnte, da er nicht binnen hundert Tagen nach seinem Tod verheiratet gewesen war, geschweige denn Kinder gehabt hatte. Von den Betrieben sollte sich Seiana einen aussuchen, welchen sie wollte. Und die Decima wäre ja dumm gewesen, nicht den lukrativsten zu wählen. Und Axilla? Sollte das kriegen, was die anderen nicht wollten. Die übrigen Betriebe. Die, die keinen Gewinn abwarfen. Kein Geld. Kein Land. Nur mühselig laufende Betriebe, die mehr kosteten, als sie einbrachten. Und Axilla wusste das genau, sie kannte ja die Bücher. Welches Zeichen von Liebe war das also?


    Aber wenigstens schluckte Seiana die Lüge mit Salinator, wenngleich sie irgendwie verärgert zu sein schien. Und das, obwohl Axilla sich dieses Mal wenigstens wirklich nichts vorwerfen konnte. Einmal im Leben hatte sie alles richtig gemacht.
    “Naja, ich denke einfach, er wollte seine Ruhe. Oder...“ Ja, warum eigentlich sollte sie es nicht erzählen? Das eine hatte mit dem anderen, das sie verschweigen und vergessen wollte, ja nichts zu tun. Im Gegenteil, Seiana konnte ihr vielleicht sogar noch ein wenig weiterhelfen. “Ich habe erwähnt, dass ich wieder heiraten möchte, und habe in diesem Zusammenhang Pompeius Imperiosus genannt.“ Seiana kannte den Pompeier ja auch. Auch wenn der mit wenig netten Worten im Testament bedacht wurde – und Axilla da nicht einmal wusste, was der getan hatte, um diese Worte zu verdienen. Aber da war ja die Geschichte bei der Feier gewesen, zu einer Zeit, wo noch alles in Ordnung war und Archias mit Seiana verlobt, ein Abend, an den Axilla sich gar nicht mehr erinnerte und auf dem sie angeblich Seiana geküsst haben sollte. Sie selber wusste nichts mehr davon, aber sie hatte es Archias geglaubt. Und sie würde sicher nicht Seiana fragen, ob das stimmte, was ihr verrückter Mann ihr erzählt hatte! Erst recht nicht jetzt! “Und Vescularius war wohl so einer Bindung durchaus positiv gestimmt, da das ja sein Klient ist. Aber... also, ich habe mir überlegt, dass vielleicht eine Bindung, die etwas... ähm... gegensätzlicher ist, nicht unbedingt schlecht wäre.“ Ihr viel kein diplomatischeres Wort ein für das, was sie meinte. Aber es war ja ein offenes Geheimnis, dass Livianus ein scharfer, politischer Gegner von Salinator war. Nicht zuletzt wegen der Fadenscheinigen Anklage durch Octavius Macer. “Und da dachte ich... du weißt nicht zufällig, ob Octavius Dragonum sich momentan mit Gedan ken in die Richtung trägt? Also, heiraten, mein ich? Er ist ja Klient von deinem Onkel, und... kennst du ihn? Also, Octavius?“

  • Seiana legte die Tafel mit dem Testament in einer bedächtigen Bewegung auf den kleinen Tisch, der bei den Korbstühlen stand. Sie hatte geglaubt, den Mann zu kennen, der das geschrieben hatte, und in der Tat konnte sie ihn in jenen Worten auch irgendwie erkennen. Es war sein Stil, seine Art. Archias hatte sich schon immer durch kleinere Verrücktheiten hervor getan, jedenfalls in ihren Augen, und genau das war es ja gewesen, was sie so fasziniert hatte an ihm – seine unkonventionelle Ader, seine Spontaneität, seine Einstellung, dass gesellschaftliche Anforderungen doch nicht so wichtig seien. Er war ihr Gegenstück gewesen, in dieser Hinsicht, und sie hatte es genossen, sich in seiner Gegenwart ein wenig… lockerer zu fühlen. Freier. Wo das jedoch hinführen konnte, welche Einstellung ein solcher Mann dann in Bezug auf seine Versprechen hatte, hatte sie dann erfahren müssen. Und wenn sie nun sein Testament las, dann drängte sich ihr regelrecht der Gedanke auf, dass es besser so gewesen war. Wenn er tatsächlich gedacht hatte, sie sei nicht gut genug für ihn, wenn er geglaubt hatte, sie könne sonst niemanden bekommen, dann wagte sie zu bezweifeln, dass eine Ehe tatsächlich funktioniert hätte. Und was im Testament sonst noch so stand, war zwar teilweise durchaus im Rahmen dessen, was sich Archias schon immer an Verrücktheiten geleistet hatte – teilweise ging es aber doch deutlich darüber hinaus. Seiana war sich nicht so sicher, wie klar sein Verstand gewesen war, als er das geschrieben hatte.


    Sie musterte Axilla, als diese mögliche Gründe nannte, warum der Praefectus Urbi das Erbe zumindest insoweit freigegeben hatte, dass er ihr die Sklaven hatte zukommen lassen. Dass er einfach seine Ruhe hatte haben wollen, glaubte sie weniger. Schon eher kam für sie in Betracht, dass er die Iunia einfach süß genug gefunden hatte, um ihr einen Gefallen zu tun. Welcher Mann konnte denn auch widerstehen, wenn Axilla ihn mit ihren großen grünen Augen ansah? Archias hatte es jedenfalls nicht gekonnt. Und auch wenn Seiana inzwischen über den Punkt hinaus war, an dem sie felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass die Iunia das wusste und diese Waffe gezielt und mit voller Absicht einsetzte, um zu erreichen was sie wollte – das änderte nichts an den Tatsachen. Axilla war, wie Archias es so schön formuliert hatte, anders. Anders im Sinne von besser. Natürlich reagierten Männer entsprechend darauf.
    Seiana unterdrückte ein Seufzen ebenso wie ein Stirnrunzeln, das diese Gedanken eigentlich auslösen wollten. Sie unterdrückte auch die Grimasse, in die sich ihre Gesichtszüge verzerren wollten, als Axilla den Pompeius ansprach. Jener Abend bei ihm war ihr nicht wirklich in guter Erinnerung geblieben, und nur weil sie in der Lage war, diese – wie so vieles andere auch – hervorragend zu verdrängen, war ihr Axillas Gesellschaft beispielsweise in der Acta, trotz aller gefühlten Holprigkeit, nicht allzu unangenehm. In diesem Moment allerdings dachte sie selbstverständlich daran, als der Name des Pompeius fiel, und sie mühte sich, das Bild vor ihrem inneren Auge sofort wieder zu verdrängen. Und ihre Bemühungen waren wenigstens insofern von Erfolg gekrönt, dass ihre Miene neutral blieb.
    „Das ist durchaus möglich, dass er so seine Zustimmung zeigen wollte. Dennoch ist es natürlich bedauerlich, dass er den Rest nicht auch freigegeben hat.“ Sie nippte an ihrem Becher und ließ sich Axillas Worte durch den Kopf gehen. Eine Bindung, die gegensätzlicher war. Sie wusste, was die Iunia damit meinte. Ein Mann, der dem Praefectus Urbi nahe stand, wäre zwar ganz sicher keine schlechte Wahl, jedenfalls für eine Frau aus einer Familie, die nicht mit dem Praefectus Urbi halb und halb auf Kriegsfuß stand – dennoch war sie sich auch nicht sicher, ob sie selbst eine größere Nähe zum Vescularier gewollt hätte, wäre Livianus nicht mit ihm verfeindet. „Nun… es kann nicht schaden, sich neutral zum Praefectus Urbi zu positionieren“, formulierte sie vorsichtig. „Und da sind die Octavier sicher eine gute Wahl.“ Einige Familienmitglieder waren dem Vescularier zugeneigt, andere wiederum nicht, aber man hörte von keinem besonders viel, dass er sich lautstark auf der ein oder anderen Seite positioniert hätte. Im Gegensatz zu Livianus, der klar Stellung bezogen hatte. Oder Verus, der es zumindest ihr gegenüber ebenso klar getan hatte. „Ich bin mir nicht ganz sicher, habe aber Grund zu der Vermutung, dass Octavius Dragonum einer Heirat nicht abgeneigt wäre.“ Warum sonst hätte Faustus den Mann sonst für sie, Seiana, im Blick gehabt haben? „Ich kenne ihn nicht, aber mein Bruder dient unter ihm als Tribun. Ich könnte ihm schreiben, wenn du möchtest.“

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