Das wiedersehen

Avitus beließ die Schriftrolle, wie sie war. Später würde er Zeit finden, den Brief zu lesen, obwohl die Neugier natürlich stark war. Doch die Severitas verbot es ihm, in diesem Moment nur an sich zu denken.
"Ich muss schon sagen... das ist höchst zuvorkommend von dir, mir den Brief zu überbringen. Dafür hab Dank. Andererseits richte meinem Cousin bitte auch einen Tadel aus, wenn du ihn vor mir sehen solltest, was wahrscheinlich der Fall sein wird"
sagte er.
"Und zwar wegen vielerlei Dingen. Zunächst schimpfe ihn, dass er so dumm war, ein junges Weib wie dich alleine nach Germania zu schicken. Ich denke dabei nicht nur an Gefahren, sondern vor allem an die vielen Legionäre hier in de Provinz... er muss dir wohl bereits sehr vertrauen. Zweitens sage ihm, dass er das nächste Mal gefälligst die Dienste des Cursus Publicus in Anspruch nehmen soll. Es war ein bemerkenswert erstaunlicher Zufall, dass du mich gefunden hast... eigentlich zu erstaunlich, möchte man fast meinen. Und drittens... schimpfe ihn, dass ich so selten Post erhielt"
sagte Avitus mit einem Lächeln, das verriet, dass er das Gesagte nicht ganz ernst nahm... abgesehen vielleicht von dem letzten Punkt.

"Jetzt, nachdem du deinen Vater hier nicht finden konntest, wohin führt dich dein Weg, wenn du den Besuch bei Artorius Reatinus hinter dich gebracht hast? Ich nehme an, zurück nach Rom?"
fragte er.

"Hispania?"
dass die Gens Didia in Hispania zu residieren schien, war dem Artorier bisdahin unbekannt.
"Ja, ich kann mir vorstellen, was du meinst. Ich selbst bin schon seit einer ganzen Weile weg aus Rom... und für einen Römer kann es zuweilen unerträglich sein, nicht in Rom zu sein"
sagte er.
"Und es sieht nicht danach aus, dass ich in nächster Zeit Gelegenheit bekommen werde, hinzukommen. Aber genug von mir. Dass du nach Hispania gehst, ist eine gute Entscheidung, kannst du doch so die Deinen treffen. Wer weiß, vielleicht weilt dein Vater ja dort. Oder deine Familie vermag dir Auskunft darüber zu geben, wo er sich aufhält und wie es um ihn bestellt ist"

"Einsätze? In der Tat, es gab auch die"
gab er zurück.
"Allerdings nimmt einen die Aufgabe eines Legionarius auch sonst stark in Anspruch. Und Rom zu weit weg, als dass man mal eben hinreisen könnte. Ausserdem..."
sagte er.
"... hatte ich mir vorgenommen, es zunächst in der Legion zu etwas zu bringen, ehe ich meine Familie wieder sehe. Ich möchte ihnen gegenüber treten und sagen können, dass ich etwas erreicht habe, es zu was gebracht habe"
sprach Avitus, wobei er bezweifelte, dass sie als Frau dies verstehen konnte. Er merkte, dass sich das Gespräch abermals um ihn drehte, was ihm irgendwie unangenehm war.
"Aber da du ja aus Rom ankommst... was gibt es zu berichten aus der Ewigen Stadt?"

"Es muss doch überwältigend gewesen sein, Rom zu sehen, nicht wahr"
sprach Avitus in einem Ton, der ahnen ließ, dass er jedes Wort so meinte. Es klang vielmehr wie eine Feststellung, weniger wie eine Frage.
"Du kannst hier sicher übernachten. Es tut mir wirklich leid, dass es so kam mit deinem Vater und deiner vergeblichen, langen und mühevollen, und bestimmt nicht ungefährlichen Reise hierhin. Manchmal scheinen die Götter mit uns makabre Spiele zu spielen"
sagte er.

Avitus salutierte zum Abschied... eher aus Gewohnheit, denn bewusst und sah Didia noch eine Weile nach, als sie mit dem Wagen davonfuhr. Dann machte er sich zurück zum Castellum auf.