Der Tag neigte sich ungefähr der zweiten Stunde zu, die Sonne fiel schräg über die Basilica Iulia hinweg auf das Forum und tauchte den Platz vor dem Tempel des Saturnus in ein weiches Licht, welches den kühlen Wind, der immer wieder einmal über die freie Fläche blies, ein wenig abmilderte. Es hatten sich bereits viele Menschen vor dem Tempel versammelt, Bürger aller Schichten, daneben auch Freigelassene und Sklaven, welche heute von ihren Diensten befreit waren. Da öffentliche Einrichtungen und Schulen an den Tagen der Saturnalia geschlossen blieben, hatten viele Menschen Zeit, sich dem Kultus zu widmen und das in Aussicht stehende Festmahl lockte sie zahlreich herbei. Um die Gleichheit aller an diesen Festtagen zu demonstrieren trugen selbst die Magistrate und Sacerdotes keine Togen, sondern einfach Tuniken mit Pallia oder Paenulae, dazu auch keine weißfarbene Kleidung und keine Purpurstreifen, sondern waren in leuchtende, prächtige Farben gekleidet. Viele Menschen hatten ihren Kopf zudem mit einem Pilleus bedeckt, der Filzkappe, welche ansonsten hauptsächlich die Freigelassenen als Symbol ihrer Freiheit trugen. Die Gleichheit aller zeigte sich auch in der Anwesenheit vieler Sklaven, die an den Saturnalia ihren Herren gleich, manche sogar in Umkehrung höher gestellt waren, weshalb die Saturnalia als regelrechtes Fest der Sklaven galten. Doch auch das römische Volk würde auf seine Kosten kommen, denn es gab wenig, was an den Saturnalia als unziemlich galt und viele der anwesenden Bürger würden spät am Abend beim Würfelspiel oder hemmungslosen Trinkgelagen enden, um ganz und gar und mit allen Sinnen das goldene, saturnische Zeitalter zu ehren.
Doch vorerst sollte demjenigen gedacht werden, welchem dieser Feiertag zugedacht war, dem Saturnus, einem der ältesten Götter des römischen Volkes. Vor seinem Tempel waren drei Statuen aufgestellt, Saturnus selbst, mit kunstvoll geknoteten Wollbinden um seine Beine, welche die Ketten symbolisierten, durch welche er das Jahr über gebunden war, rechts von ihm seine Gattin Ops, die Erdmutter, und linkerhand Consus, der Wächter über das Getreide und Gehilfe des Götterpaares. Vor den Statuen auf einem Foculus aufgereiht standen eine Reihe Kerzen, eine Öllampe, ein Schälchen mit Getreide und Geld.
Wie bereits vor kaum einem halben Monat zum Fest des Saturn war Gracchus auch an diesem Tag die Leitung des Festtages zu seinen Ehren zugefallen. Er trug eine weinrote Tunika und statt eines Pilleus einen Kranz auf dem Kopf, um seine Stellung als Opferherr hervorzuheben. Die Organisation der Saturnalia galt als große Ehre unter den Sacerdotes, denn es fand zwar kein blutiges Opfer statt, dafür jedoch ein ausgeprägter Kultakt nach strengen Regelungen. Zudem bedurfte es weitläufiger Organisation, um die notwendigen Vorbereitungen, den Ablauf der Kulthandlung und das anschließende Fest angemessen vorzubereiten. Gracchus blickte sich nach seinem Neffen Serenus um, welchem er eine Aufgabe als Minister zugedacht hatte. Er hatte Sciurus gebeten, auf das Kind aufzupassen, dass es nicht in der Menschenmasse unterging, doch bisher gab es ohnehin keinen Grund zur Sorge, stand Serenus doch seitlich der Statuen und hielt die Schale vor sich, aus welcher bereits der Rauch von verbranntem Styrax emporstieg.
Das Spiel der Tibicines setzte ein, um den Beginn der Zeremonie einzuleiten, und endete erst, als sich die Menge vor dem Tempel gesammelt und zur Ruhe gekommen war. Sodann setzte Gracchus zur traditionellen Saturnalienansprache an.
"Willkommen zu den Saturnalia!
Der Kreis des Jahres teilt sich in vier Teile,
und in den Ländern unserer Heimat und unserer Provinzen
ist die dunkle Zeit von der Sommersonnenwende
zur Wintersonnenwende die Zeit zu pflügen
und den Boden zu bestellen und den Samen auszustreuen.
Wenn dies getan ist ruhen die Menschen aus
in der Winterzeit, bis zur Rückkehr der Sonne.
Drei alte Götter werden in dieser Zeit geehrt:
Saturnus, Ops und Consus sind ihre Namen.
Nun hört den Mythos von Saturnus' Herrschaft:
Bevor die mächtigen Götter, die die Erde
Von des Olympus schneebdeckten Gipfeln beherrschten, geboren wurden,
war Saturnus der König aller Götter
und Ops, seine Schwester, war seine Frau und Königin.
Aber als die Zeit kam und er seinen Thron abgeben sollte
an einen jungen Gott, seinen Sohn Iuppiter,
wollte Vater Saturnus nicht beiseite treten.
Ein Kampf entbrannte zwischen Alt und Jung,
bis Iuppiter siegte und Saturnus aus dem Himmel auf die Erde verbannte.
Saturnus stürzte auf die Erde, und mit seiner Frau
baute er ein Schiff und segelte hierher, in unser Land.
Er brachte den Menschen nützliche Künste,
er lehrte sie die Saat zu bewahren und in den Boden zu säen,
so dass wir nicht mehr mühsam nach Nahrung suchen mussten.
Er zeigte uns die Tiere zu jagen und zu braten,
so dass wir allezeit ihr Fleisch und Fell hatten,
er zeigte uns die Tiere zu zähmen und mit ihnen die fruchtbare Erde zu pflügen.
Saturnus lehrte die Menschen Münzen zu schlagen
von schimmerndem Silber, glänzendem Gold und Bronze.
Er lehrte uns das Geld zu bewahren und anzuwenden.
In diesen und anderen Dingen machte Saturnus
unsere Leben viel einfacher und frei.
Seine glückliche Herrschaft wurde das Goldene Zeitalter genannt,
als genug Nahrung war für jedermann
und die Menschen den Reichtum teilten, den sie besaßen,
und keiner jemals stahl oder kämpfte oder log.
Aber als das Ende der Herrschaft Saturnus' kam,
entschied er weise, seine Krone beiseite zu legen.
Er segelte mit dem Wind weit gen Norden,
nach Hyperborea, wo er jetzt schläft,
in einem versteckten Eiland am Ende der Welt,
wo er auf ein anderes Goldenes Zeitalter wartet.
Aber bis diese glückliche Zeit kommt,
in dieser, der kältesten Zeit des Jahres,
begeben wir uns in Gedanken in Saturnus' kaltes Reich
um zu erwecken den alten freundlichen König,
und ihn zu bitten, erneut mit uns zu gehen
und für diese kurze Zeit mit uns zu leben,
und mit uns zu feiern und zu Ehren das Goldene Zeitalter.
Ich wünsche Euch
Bona Saturnalia!"