[MARE INTERNUM] Wenn Lucilla eine Reise tut ...

  • Knabenschänder... Pah! Als ob ich ein Knabenschänder wäre! Ich habe keine Lust, irgendwelchen dummen Jüngels etwas beizubringen, ich will genießen und nicht bei jedem Handgriff ihn drauf hinweisen, dass er nicht zu fest oder zu locker zulangen soll. Und außerdem habe ich Frauen mindestens genauso gern. Nichts ist so schlimm wie Monotonie und Stillstand. Da fällt mir ein: Das schlimmste meiner Meinung nach ist, wenn man einem anderen wünscht, er solle so bleiben, wie er gerade ist. Ich sag da nur dazu: Stillstand ist der Tod! Fiel mir gerade so ein und hängt eigentlich überhaupt nicht mit dem heutigen Abend zusammen. Die Jungs haben sich zum Teil die Fresse poliert, dass es eine wahre Freude war, wem auch immer das Freude bereiten mag. Mir jedenfalls nicht, ich möchte weiterhin gut aussehen, eine gebrochene Nase oder fehlende Vorderzähne sind da auf jeden Fall hinderlich. Den Göttern sei Dank hörten sie bald auf, wäre schade um das gute Essen und Trinken. Und dann wollte Zeuxis auch noch, dass ich singe! Wenn dann nicht Knollennase seine Flöte ausgepackt hätte... brrr, ich bin kein Sänger und vor Publikum, egal wie schlecht, mag ich einfach nicht singen. Mitsingen geht in Ordnung, aber Vor-singen, ne, wirklich nicht. Also winkte ich Zeuxis ab und sang lieber mit den anderen mit. Ja, und gesoffen habe ich auch, ich gebe es ja zu.


    Und das war erst eine Schau, als der Flötenspieler zusammenbrach. Ich wette, dass er eine Gräte verschluckt hatte. Solche Dinger können nämlich arg gefährlich werden. Die bleiben irgendwo stecken und lösen sich nicht mehr und dann schwillt der Hals an. Wenn da kein Heilkundiger da ist, hat man keine Chance mehr auf Überleben. Zumindest ich kenne kein Mittel dagegen, aber ich habe mich ja auch nie damit wirklich beschäftigt. Wenn ich Fisch esse, den ich nicht selber zubereitet habe, achte ich immer auf die Gräten und iss daher den Fisch ganz langsam. Man hat mich schon oft genug deswegen ausgelacht, aber mir ist das so lieber. Ich könnte natürlich ganz auf Fisch verzichten, aber das mache ich sicher nicht. Habt ihr schon jemals einen Griechen gesehen, der keinen Fisch isst? Na also. Fisch ist etwas köstliches, in Butter angeschwitzt oder mit einer Brotkruste, oder kalt gegart mit etwas Zitronensaft, was zugegeben schon sehr extravagant ist, aber kö-st-lich. *schmatz*


    Nur eines störte mich schon in diesen Augenblicken, nämlich das Schiff. Es schaukelte meiner Ansicht nach schon ein wenig zu viel. Ich möchte das Essen ja weiter für mich behalten. "Sach mal, Zeuxis, wie lange dauert es noch bis zum nächsten Hafen? Ich würde gerne mal wieder festen Boden unter den Füssen haben. Das ewige Schaukeln... das ist nichts für mich. Und gerade jetzt wieder."

  • Klar und funkelnd spiegelte sich Saturn in den dunklen Augen des Steuermann wieder, starr sah er zu den Göttern empor und schien mit jedem Wellengang darauf zu warten, dass sich Mercurius erbarmen würde und seine Seele endlich zu Pluto und in die Unterwelt tragen würde. Der Wind trug jedoch keinen Götterboten mit sich, nur den würzigen Geruch von Land, der hispanischen Erde in der Ferne, gemischt mit dem Sand der Wüste Nordafrikas.
    Mit einem süffisanten: „Wie Du wünscht!“ hatte Tullius seinen Arm gesenkt und mit Lucilla die Kajüte verlassen. Der Wind strich salzig und kühl über ihre Gesichter und spielte mit Tullius dunklem Haar als er aufs Deck trat. An der Reling blieb Tullius stehen und stützte sich mit seinen Handballen auf dem Holz ab, atmete tief den Meeresduft und die frische Nachtluft ein, einige Gischtfetzen spritzten hoch und legten sich wie ein sanfter und kühler Schleier auf seine Handrücken. Seine Lippen kräuselten sich zu einem entspannten Lächeln, sodann kehrte er abermals zu ihrer kleinen Disputatio in der Kajüte zurück.
    „Kultur und die Errungenschaften der Römer? Ob das auch mit Freiheit in der eigenen Heimat aufzuwiegen ist oder die Demütigung, vor fremden Herrschern den Nacken beugen zu müssen, aufwiegt? Ich wage auch das zu bezweifeln, Lucilla. Gleichwohl nehmen wir mal an, es wäre diesen Preis wert.“
    Tullius musterte Lucilla genaustens, wandte nicht den Blick von ihr ab.
    „Aber dann stellt sich doch die Frage, warum haben die Römer Griechenland erobert? Ist es nicht die Kultur aus Griechenland, die Rom überhaupt zu so einem Segensspender gemacht hat? Von der Architektur, der Medizin bis zur Kunst, das Wissen kam von Gefangenen und Sklaven aus einer eroberten Provinz. Waren wir Römer nicht einstens selber nur barbarische Bauern? Und wie sieht es mit dem Reichtum Roms aus und mit dem Luxus? Auch all dieses wird aus den Provinzen gestohlen. Oder was hat Rom schon für Ägypten getan, welche Kultur kann eine so junge Stadt in ein Land von so alter Geschichte tragen? Und Frieden? Ist Germanien eine friedliche Provinz? Oder Dacia? Dass Du Dir die romanisierten und angeblich zufriedenen Germanen als Beispiel herausgesucht hat, zeigt doch nur, wie Rom und seine Bürger ihre Raubtaten vor sich selbst beschönigen und sich belügen.“
    Tullius schloss die Augen als das Schiff wieder tief in einen Wellenkamm hineinfiel und dabei erspürte er die Bewegungen des Schiffes und lauschte dem Knarren des Holzes. Mit geschlossenen Augen setzte er seine Argumentation fort.
    „Ich verheimliche wenigstens nicht, dass ich ein Räuber und ein Pirat bin. Mir scheint, dass es uns sogar noch besser macht. Wir verstecken unsere Gier und Machtgelüste nicht hinter hehren und verlogenen Motiven.“
    Wieder spürte Tullius, dass etwas nicht stimmte. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich zu dem Großmast um, sah das vollgeblähte Segel und begriff, dass der Africus sie mit voller Kraft gepackt hatte. Im selben Moment erkannte er das herrenlose Ruder.
    „Was, bei Furrina...?“
    Finsteren Gesichtes ließ er Lucilla an der Rehling stehen und marschierte schnellen Schrittes auf das Heck zu und sprang mit zwei Schritten die kleine Treppe nach oben. Der tote Steuermann, das leere Ruder. Tullius packte das sich langsam drehende Steuerrad und hielt es fest in seinen Händen. Prüfend sah er gen Himmel, nach Steuerbord und nach Backbord, doch da die Lichter ihn blendeten, konnte er nicht ausmachen, ob schon Land in Sicht war. Mit zusammengepressten Lippen und höchst konzentriert griff er nach einer der Laternen und löschte das Licht. Dann ließ er erneut seinen Blick schweifen. Ein schmaler Landstreifen war auszumachen, was Tullius noch nicht beunruhigte. Doch als er sich nach hinten umwandte, erstarrte er. Vage und mehr wie eine Ahnung konnte er die geblähten Segel eines fremden Schiffes ausmachen, eines ohne Lichter an Bord.
    Die anderen Piraten ließen sich nicht von den Untersuchungen Dardarshis stören, feierten immer noch und becherten fleißig. Kniend beugte sich Dardarshi zu dem Flötenspieler herunter, hob seine Augenlieder nach oben und legte sein Ohr an dessen Brust. „Aras, gib mir den Silberteller dort!“ Prüfend hielt Dardarshi den Teller über den Mund des Piraten und betrachtete, wie sich das Silber beschlug. Aufmerksam untersuchte Dardarshi ihn weiter und nickte dann Aras zu. „Hilf mir, ihn nach hinten zu tragen! Du auch!“ wies Dardarshi Ambrosius an. Der Körper des Flötenspielers lag schlaff in den Armen der Männer und er wurde in eine abgelegene Kabine bugwärts getragen, schmale Pritschen standen hier, einer der Piraten, der noch unter einer Verwundung vom letzten Kampf litt, schlief selig in der Kabine. „Dort hin!“
    „Alle Mann an Deck! Sofort!“
    Die Stimme des Kapitäns donnerte bis hinunter in die Kabine. Dardarshi entkleidete den Piraten. „Du!“ meinte Dardarshi zu Ambrosius. „Bring mir von dem Wasser! Und Aras, zünde mehr Lichter an!“ Prüfend hielt Dardarshi eine Öllampe über den Kranken und sah auf ihn herunter, tastete ihn vorsichtig ab. Dann hielt er inne und starrte auf den Flötenspieler, seine Augen weiteten sich, ein entsetzter Ausdruck breitete sich in seinem vernarbten Gesicht aus. „Bei Mithra, steh uns bei. Oh, Apollo, der Du uns hier zu hören vermagst...oh nein!“
    Die zweite Laterne hatte Tullius derweil ebenso gelöscht, seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen lassen. Jetzt sah er das Schiff bei dem Sternenlicht deutlicher, es war mit Sicherheit kein Handelsschiff und es schien sie zu verfolgen. Außerdem trieben sie schon eine Weile lang auf einem völlig falschen Kurs. Tullius fluchte leise und trat dem Steuermann in die Seite, dieser rührte sich bei dem Stoß nicht. In dem Moment stürzten einige betrunkenen Piraten an Deck, einer hielt sich an der Rehling fest, wäre fast von Bord gestürzt. Mühsam versuchten die Männer auf ihre Posten zu eilen.
    „Gefechtsbereit machen, aber still. Pullt die vorderen Segel, los, los.“
    Immer mal wieder warf Tullius einen Blick über seine Schulter, das fremde Schiff näherte sich erschreckend schnell, es musste wohl mindestens eine Galeere sein.
    Auf dem fremden Deck wurde die Harpyia mit Argusaugen betrachtet. Der Trierarchius starrte auf die beiden Lichter, fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn als ein Licht verschwand. Als das Zweite ebenso erloschen war, stieß er ein ärgerliches: „Bucco!“ hervor. „Sie haben uns entdeckt, Ruderschlag erhöhen.“

  • Durch das ganze Schiff zieht sich der Duft des Essens und begleitet Tullius und Lucilla auf ihrem Weg nach oben, wie auch das gedämpfte Stimmengewirr der feiernden Piraten. Als sie vor dem Kapitän die Treppe nach oben steigt, beeilt sich Lucilla, denn obwohl ihr Kleid natürlich bis zu den Knöcheln reicht und Tullius es nicht auf ihren Körper abgesehen hat ist die Treppe einfach zu steil und man kann nie vorsichtig genug sein. Oben drängt es sie förmlich danach ihre Nase in den Wind zu stecken und den Duft nach Meer tief einzuatmen, so wie sie es oft am Hafen oder am Stand von Tarraco getan hat. Doch Tullius kommt ihr zuvor und Lucilla verwirft ihr Vorhaben aus reinem Trotz. Sie würde keine Ähnlichkeiten zwischen ihm und ihr zulassen, zwischen einem Piraten und einer Römerin. Später vielleicht, wenn er irgendwo anderst hinschaut, dann würde sie die Seebrise durch ihre Nase ziehen, vorher nicht.


    Ihr Trotz wird weiter angestachelt durch seine Erläuterungen. "Ein Teil Roms sein zu dürfen wiegt alles auf!" Kann dieser Mann einfach nicht verstehen, um was es geht? Wie hart hat Lucilla dafür gekämpft in Tarraco als Römerin angesehen zu werden, ihre Herkunft abzuschütteln. Die vielen Entbehrungen, die vielen Sesterzen für Schuhe, Kleidung und Tand, die nicht immer einfachen gesellschaftlichen Verpflichtungen, all das Drum und Dran fegt er einfach mit seinen Behauptungen über Bord. Krieg, Sklaverei, Plünderung - das sind für Lucilla alles theoretische Begriffe, deren Vorkommen fern ihres Lebens liegen. Das Schlimmste, was ihr bisher im Leben passiert ist, ist auf einem Piratenschiff zu landen und vom Kapitän mit Hummer bewirtet zu werden. Zudem bleibt ihr überhaupt keine andere Wahl, als an das Gute Roms zu glauben. Ihre halbe Familie kämpft und stirbt dafür, wie könnte sie ihren Bruder und ihre Cousins hassen, für das was sie tun? Selbst wenn sie miterleben würde, wie Meridius Legionen ganze Dörfer unschuldiger Germanen überrennen würden, sie würde die Augen abwenden und in ihrer heilen kleinen Welt stecken bleiben.


    Darum ist es auch unmöglich für sie darüber nachzudenken, warum die Römer Griechenland erobert haben. Wann war das überhaupt? Das muss ja noch in der Republik gewesen sein, vielleicht sogar davor. Genau so wie Aegypten. Eine furchtbar alte Geschichte, die mit der aktuellen Lage überhaupt nichts zu tun hat. Außerdem können die Länder nur froh sein, ohne Rom wäre ihre Kultur längst untergegangen. Aber auch das sagt Lucilla nicht, denn ein ganz, ganz leiser Zweifel tief in ihr drin bleibt doch. Allerdings wird der bald wieder ziemlich schnell durch die Frechheit des Kapitäns verdrängt. "Oh ja, sehr gut seid ihr! Gierig und roh wie Tiere! Und außerdem ... " Lucilla zieht die Augenbrauen zusammen und folgt Tullius Blick nach seinem Fluch. "Was ist?"


    Der Pirat denkt gar nicht daran, ihr zu antworten. Typisch. Doch sein überhasteter Aufbrucht bringt Lucilla endlich die notwendige Ungestörtheit. Sie wendet sich zufrieden dem Meer zu und zieht die frische Seeluft ein. Über ihr glitzern vereinzelte Sterne am dunklen Winterhimmel, doch Lucilla kann kein Sternbild entdecken. Das liegt nicht daran, dass sie keines kennen würde, ihr Onkel Proximus hatte ihr so manches in Verbindung mit einer Geschichte gezeigt. Doch über dem Meer hängen einige Wolken, die manche Sterne verdecken. Auf einmal wird Lucilla bewusst, wie dunkel es ist. Sie dreht sich um, doch das Licht an Deck ist verloschen.


    "Was ..." setzt Lucilla zu einer Frage an, doch Tullius Ruf nach den Männern schneidet ihr schon wieder den Satz ab. Typisch. Sie schüttelt genervt den Kopf und amüsiert sich heimlich bei dem Gedanken, dass das Licht ausgegangen ist und der großartige Kapitän es nun nicht schafft, es wieder anzuzünden und dazu seine Männer braucht. Doch die Freude währt nicht lange, als die angetrunkenen Männer nach oben stürmen. Manche stürmen mehr, manche weniger, diese torkeln dann eher, doch allesamt achten sie nicht auf Lucilla. Lucilla ihrerseits achtet jedoch genau auf sie, vor allem darauf, keinem im Weg zu stehen, denn sie möchte nur ungern durch einen unbedachten Stoß über Bord gehen - so gern sie auch von Bord gehen würde. Dass die Situation ernster ist, als es im Dunkeln den Anschein hat, realisiert Lucilla erst, als sich die Nachricht der Gefechtsbereitschaft über das Deck wälzt. Ihre Augen weiten sich erschrocken. Greifen die Piraten etwa auch Nachts andere Schiffe an? Womöglich ist auch ein Seeungeheuer aus den Tiefen des Meeres hervorgekommen! Dann jedoch schnappt sie leises Geflüster über ein sie verfolgendes Schiff auf.


    "Och nein, nicht schon wieder ..." Ihre einzige Eklärung ist ein anderes Piratenschiff. Wer sollte sonst so verrückt sein, in der Nacht ohne Lichter ein anderes Schiff zu verfolgen? Sie blickt sich ein wenig panisch um. Unter Deck gehen? An Deck bleiben? Unter Deck wäre sie vorerst sicher sicherer, allerdings käme sie vielleicht nicht rechtzeitig nach oben, wenn das Schiff untergeht. Zudem würde sie nicht sehen, was passiert. Andererseits könnte es sehr gefährlich werden hier oben. Langsam schiebt sich Lucilla zur Treppe hin und steigt noch langsamer hinab, bis nur noch ihr Kopf über Deck schaut. Ihr größtes Laster, ihre unstillbare Neugier, verbietet es einfach, sich ganz zurückzuziehen.

  • Die erste Nacht
    Das Meer umbrandete beide Schiffe in ihrer unablässigen Fahrt durch die schwarzen Wogen des Mittelmeers, die Lichter waren verloschen, es waren nur noch Silhouetten der Masten, der Segel und der Rumpflinien zu erkennen. Mit unsicheren Schritten unterbrochen von einigem Gepolter gingen die betrunkenen Piraten an die Arbeit, setzten die Segel und die Harpyia schien einen Moment über die dunklen Wogenkämme zu fliegen, doch die römische Triere Ulpia hielt sich in ihrem Fahrwasser, verfolgte sie unablässig weiter. Allweil stand Tullius auf dem Achterdeck und hielt das Steuerrad in der Hand, grübelte über einen möglichen Weg nach, die Verfolger los zu werden.
    „Tabat, hol vier Fässer von unten und ein paar Taue und beeil’ Dich!“
    Ein langsames Schlurfen war in der Nähe der Treppen zu hören, von oben schnelle Schritte. Der große dunkelhäutige Tabat duckte sich durch die Luke, warf Lucilla nur einen glasigen Blick zu und taumelte an ihr vorbei, der Gestank von Bier vermischt mit Wein begleitete ihn. Seine massige Gestalt verschwand im finsteren Bauche des Schiffes, als sich ein verzerrtes Gesicht neuerlich daraus herausschälte, Dardarshi stieg mühsam die Treppen hoch, der Geruch nach Kräutern umwog ihn. Zögernd blieb er bei Lucilla stehen und sah sie ernst an, der vage Hauch des Sternenlichtes offenbarte jedoch nicht allzu viel von seiner Mimik. „Dein Fluch scheint nicht nur den Kapitän getroffen zu haben, uns alle, werte Dame. Hier, nimm das und binde es Dir um den Mund, es hält die üblen Miasmen ab.“ Müde und mit hängenden Schultern schlurfte er weiter, ließ nur ein in Kräuteröl getauchtes Linnentuch zurück. Sein missgestalteter Körper verschwand durch die Luke. Für einige Wellenbewegungen war nur das Knarren des Holzes zu hören.
    „Bist Du Dir sicher?“
    Das leise Flüstern, es kam von direkt über Lucilla, dem Achterdeck, drang durch die Holzplanken. Dardarshis Stimme war weniger gut zu verstehen, doch deutlich genug. „Ja, die Pest! Antegos hier hat es auch. Und wer weiß wie viele noch an Bord? Wir müssen an Land.“ Das Drängen und der Ernst in Dardarshis Stimme waren kaum zu überhören.
    „Siehst Du das Schiff hinter uns?“
    Die Antwort von Dardarshi kam erst einen Moment später. „Nein?“
    „Du kannst mir glauben, es ist dicht hinter uns. Es ist mit ziemlicher Sicherheit eine römische Galeere. Weißt Du, was die Römer mit uns machen, wenn sie uns in diesem Zustand erwischen? Sie werden uns schneller ans Kreuz binden als Du zu deinen parthischen Göttern und Deinem Mithra beten kannst, Darshi. Meine Männer sind zu betrunken, um zu kämpfen. Gehen wir jetzt an Land, ist das unser aller Tod. Vielleicht schütteln wir sie ab und morgen können wir den Landfall wagen, jetzt geht es nicht!“
    Kein Murren, kein Widerspruch, doch dann polterte auch schon Tabat an Lucilla vorbei und trug das Verlangte nacheinander auf das Deck hoch, Lucilla beachtete der Riese dabei weniger.
    „Sehr gut, bindet die Fässer aneinander und zurrt die Laterne oben fest, aber leise und haltet dann alles bereit, bis ich es euch sage.“
    Das Sternenlicht wurde verdeckt und Dardarshi trat durch die Luke, blieb bei Lucilla stehen und sah sie wieder an, es war mehr eine Ahnung als dass man es sah. Er seufzte leise und lehnte sich an die hölzerne Wand neben sich. „Es ist Neumond!“ murmelte er, als ob er damit eine tiefe Wahrheit verkünden würde. „Vielleicht...“ Seine Stimme erstarb, konnte er doch kaum der Geraubten davon berichten, dass Tullius die Hoffnung hegte wegen der dunklen Nacht der römischen Triere entkommen zu können. „Komm, werte Dame, oben wird es nur ungemütlich. Gehen wir doch zurück in Deine Kabine!“ Er wandte sich um und ging langsam hinunter.
    „Gut so und jetzt zündet eines der Lichter am Achterdeck an. Und jetzt hoch mit den Fässern und langsam ins Wasser mit ihnen. Gut so! Tabat halte Dich an der Laterne bereit, Munan klettere schon runter auf die Fässer und zünde das Licht erst an, wenn ich es sage.“
    Stille und schließlich ein. „Jetzt!“
    Flink wie ein Affe kletterte der blonde junge Mann von den Fässern, die mit einem langen Seil ins Wasser gelassen worden waren, abermals zurück, so fest aneinandergebunden trugen sie jetzt nur noch eine einzige Laterne. Im selben Moment als die Achterlaterne verlosch, war die Laterne auf dem Fässern angegangen. Einer der Piraten ließ das Seil los und die Fässer trieben schaukelnd von der Harpyia davon und das einsame Licht mit sich. Tullius beobachtete das Treiben des Köders einen Moment ehe er das Ruder hart nach Backbord drehte und die Harpyia sich steil zur Seite legte und in eine andere Richtung pflügte. Und so suchte die gejagte Harpyia in dem Mantel der tiefschwarzen Nacht vor den römischen Soldaten zu entkommen, sie abzuschütteln und im Morgengrauen den Wind weiter westlich einzufangen.

  • Lucilla drückt sich an die Wand und macht sich so dünn wie möglich, um möglichst wenig aufzufallen. Als der bullige Tabat an ihr vorbei geht und nicht schlecht vor sich hin mieft hebt Lucilla ihre Hand, fächert sich Luft zu und verdreht mit einem leisen "Urgs!" die Augen. Alle an Bord sind Tiere, da gibt es keinen Zweifel, und dieses Exemplar im Speziellen ist ein Eber. Zum Glück wird der Gestank bald durch den seltsamen Vogel Dardashi verdrängt, den ein Duft nach Kräutern begleitet, der Lucilla an die Räuchermischungen erinnert, welche man um die Totenbahren herum räuchert um den Geruch des Todes zu überdecken. Sie schaudert und das Bild Tertias entsteht vor ihrem inneren Auge, einer bleichen Tertia auf der Totenbahre im Atrium der Casa Decima in Tarraco. Dies ist ein Bild, das sie so nie gesehen hat, doch es erscheint so unglaublich real, dass sie die Welt um sich herum nur mit wenig Aufmerksamkeit bedeckt, wortlos das Tuch von dem Pirat entgegen nimmt und diesem nur verwirrt nachschaut, unsicher was das nun wieder bedeuten soll.


    Von den Wellen sanft dahin getragen schaukelt das Schiff beinahe beruhigend in der Dunkelheit und selbst das leise Getrappel der Füße über die Planken hat wenig Bedrohliches an sich. Durch die vielen Geräusche hindurch sind es Dardashis Worte, die das Unheil auf leisen Sohlen verkünden. Aufgrund ihrer enormen Neugier hat Lucilla ihre Lauschtechniken schon in jungen Jahren perfektioniert und obwohl sie aufgrund des Windes und der Wellen nicht alles versteht, so hört sie doch ganz deutlich das Wort Pest, so als würde Dardashi flüstern, dieses eine Wort jedoch laut in die Welt hinausschreien. Erschrocken schlägt sich Lucilla die Hand vor den offenen Mund um ihrerseits jeden Laut des Entsetzens zu ersticken. Erst als sie panisch tief einatmet wird ihr bewusst, dass das in Öl getränkte Tuch samt ihrer Hand vor ihrem Mund ist. Die teilweise scharfen, beißenden Gerüche ziehen durch ihren Rachenraum, durch den Hals und auch bis in die Nase hinauf. Langsam werden Lucillas Augen größer und größer, ihre Nasenflügel beben gefährlich und sie hat das Gefühl gleich bersten zu müssen, wie eine Glaskanne, die auf den Boden fällt und in tausend Stücke zerspringt.


    "Haaatschiiiih!" In einer gewaltigen Schallwelle breitet sich das Niesen um Lucilla herum aus, fegt alles beiseite, was ihm in den Weg kommt, donnert durch jede Ritze des Schiffes, reißt jeglichen Laut mit sich und segelt auf den Wogen des Windes schließlich bis übers gesamte Mare Internum, bis an die Küste Hispanias, Italias, Africas, vielleicht sogar noch weit übers Land bis hinauf nach Germania, um dann irgendwo kurz hinter den Grenzen des römischen Imperiums zu verklingen. Zumindest kommt es Lucilla so vor.


    Erleichetert atmet sie auf, denn trotz allem ist soweit sie es feststellen kann noch alles an ihr dran und sie in einem Stück. Sie hält den Atem kurz an und lauscht, doch durch ihr Niesen hat sie den interessanten Teil des Gespräches zischen Dardashi und Tullius, in dem es um die römische Galeere ging, verpasst. Gerade will sie wieder Luft holen, da kommt Tabat erneut an ihr vorbei. Sie wartet mit dem Luft holen bis er an Deck verschwunden ist und bindet dann das Tuch vor Mund und Nase. Ihre Nase kribbelt noch etwas, doch sie muss nicht noch einmal niesen. Als Dardashi wieder nach unten geht und sie auffordert, ihm zu folgen, tut sie dies wortlos. Der Weg zur Kabine kommt ihr endlos lang vor, es ist beinahe stockdunkel. Erst jetzt dämmert wieder das unheilvolle Wort in ihr hinauf, das Tuch vor Mund und Nase wird ihr samt des Geruches und ihrer Assoziationen bewusst. Wo noch eben Tertia auf der Totenbahre lag, erkennt sich Lucilla nun selbst. Eingenebelt durch den duftenden Weihrauch liegt sie neben dem friedlich dahinplätschernden Wasser im Impluvium und in der Ferne, irgendwo im Atrium und doch unerreichbar, stehen schemenhafte Verwandte, von denen nur das klagende Trauerlied zu hören ist.


    Beinahe stolpert Lucilla gegen Dardashi, als dieser anhält um die Tür zu öffnen. Da sie nicht zur Seite geht, um ihn vorbei zu lassen, zwingt sie ihn mit in die Kabine hinein, ob er dies vorhatte oder nicht. Sie schließt die Tür hinter sich und lehnt sich dagegen, auf einmal ist es merkwürdig still an Bord.
    "Wir werden alle sterben." Es ist keine Frage, sondern eine Tatsache, die Lucilla leise flüstert um der Stille genüge zu tun, aber doch laut genug, dass Dardashi ihre Worte ohne Probleme versteht. "Es ist der Fluch. Seit dem Moment, seit ich mein Leben an das von Quintus Tullius gebunden habe, ist es zum Ende verurteilt, nicht wahr? Die Götter zürnen nur dann nicht, wenn er mich frei lässt, doch Quintus Tullius wird mich nicht gehen lassen. Seine Männer werden um ihn herum wegsterben und sein Leben wird zum Hades, doch er wird mich nicht gehen lassen, bis der Fluch schließlich sein Ende in unserer beider Tod findet." Was Lucilla nicht vor Dardashi zugeben wird, was ihr aber nur allzu klar ist, ist die Tatsache, dass sie den Fluch nicht einmal auf andere Weise lösten könnte, wenn sie dies wollte. Denn sie hat keine Ahnung, wie man einen Fluch wieder aufhebt. Tante Drusilla hat ihr unzählige Möglichkeiten beigebracht einen Fluch zu sprechen, ihn zur Wirkung zu bringen, ihn auch noch zu verstärken, doch wie man ihn wieder löst, davon hat sie nie etwas gesagt. Es hat ja auch nie im Leben jemand damit gerechnet, dass Lucilla irgendwann auf ihr eigenes Leben einen Fluch sprechen wird.


    In einer wütenden Bewegung reißt sie sich das Tuch vom Gesicht, ihr Flüstern gleich einem Zischen. "Das hat überhaupt keinen Sinn, es sieht nur albern aus. Ich werde so oder so sterben, aber nicht an der Pest, sondern am Starrsinn eines verrückten Piraten! Es scheint der Fluch der Decima zu sein, alleine und einsam zu sterben! Wusstest du, dass ich auf dem Weg zum Grab meiner Schwester war, als ihr mich ... aufgegriffen habt? Sie starb mitten in Rom, ohne dass irgendwer von der Familie bei ihr war! Mein Vater starb allein in Germania, mein Bruder in Hispania aber fern von Tarraco, der andere Bruder gar nicht fern in Tarraco und trotzdem allein, meine andere Schwester auch ohne Beistand. Und ich werde mitten auf dem Mare Nostrum sterben und es wird noch nicht einmal irgendwer davon wissen!" Entsetzt weiten sich Lucillas Augen. "Dea Tacita! Ich werde ja nichtmal sterben!" Das Flüstern nimmt einen langsam hysterischen Tonfall an. "Niemand wird mich bestatten! Keine Reinigung, keine Bestattung, ich werde auf diesem Schiff zugrunde gehen! Ich bin dazu verdammt als Lemur zu enden, wie mein geliebter Ambrosius! Bei Mors und Morta, ich werde eine verdammte Seele auf diesem verdammten Schiff werden, bis in alle Ewigkeiten mit einer Meute verdammter Piraten!" Das ist endgültig zu viel. Auf einmal kullern dicke Tränen aus Lucillas Augen. "Was habe ich nur getan? Hab ich die Götter nicht immer geachtet? Warum strafen sie mich jetzt so sehr?" Ihr glasiger, anklagender Blick trifft Dardashi, als wüsste der auf alle Fragen die Antworten. Lucilla schnieft und versucht, die Tränen mit ihrem Ärmel weg zu wischen, was nicht wirklich gelingt, denn es kommen ständig neue nach. Wie sollte es auch anders sein? Immerhin sitzt sie gefangen auf einem Schiff voller Piraten samt eines wahnsinnigen Kapitäns, das Schiff wird gerade eben von einem Seeungeheuer oder anderen Piratenschiff angegriffen weshalb der Kapitän auf die glorreiche Idee gekommen ist, ein paar Fässer über Bord zu werfen, dazu ist die Pest ausgebrochen und wahrscheinlich ist zu allem Überfluss jetzt auch noch ihr Makeup verlaufen!

  • Ganz ehrlich, der Alte, dieser Dardarshi... der ist mir unheimlich. Ja gut, im Prinzip sind mir alle anderen hier auf diesem Schiff nicht geheuer, aber dieser Parther ist noch einen Tick unangenehmer. Nicht, dass ich Angst hätte oder er mir irgendwie aufgefallen wäre, aber er sieht aus, als ob er zaubern könnte, und das macht mir schon ein wenig Angst. Abgesehen davon würde er mit seinem Aussehen und seiner verkrüppelten Hand nicht mal einen Blumentopf gewinnen, und wenn er der einzige Kandidat wäre. Als Dardarshi Knollennase untersucht hat, wollte ich eigentlich auch weiter bechern und mich mit Zeuxis unterhalten und von ihm wissen, wie man endlich diese verfluchte Seekrankheit los wird. Aber irgendwie musste ich immer wieder hinsehen, was Dardarshi machte. Und es gefiel mir nicht, was ich sah, denn wäre es eine Gräte gewesen, wie ich mir zuerst dachte, dann hätte der Alte Knollennase ganz anders untersucht. Da stimmte irgendetwas nicht, und ich konnte mir zunächst auch keinen Reim darauf machen.


    Aber ganz misstrauisch wurde ich erst, als ich mit Aras den Flötenspieler rausbringen sollte. Wozu denn das? Sicher waren wir da laut gewesen, klar, wir hatten auch ordentlich einen hinter die Binde gegossen, aber sonst war Dardarshi ja auch nicht so zimperlich. Aber gut, ich packte Knollennase an den Füßen und gemeinsam zerrten wir mehr als wir trugen. Ich sage euch, es dauerte ewig, bis wir endlich am Ziel waren. Dort aber hörte es nicht auf, seltsam zu sein, denn auf einmal schrie der Käpt'n, dass alle Mann auf Deck sollten. Ich wollte eigentlich schon losspurten, aber Dardarshi hielt mich auf. Ich solle Wasser holen, ja klar, jetzt bin ich auch noch der Wasserträger hier an Bord. :fad: Aber ich tat brav, was man mir sagte und holte eine Schüssel voll besten Süsswassers. Jaja, das beste wars sicher nicht, es war halt das, was da war. Als ich wieder zurückkam, wurde ich schön langsam wirklich besorgt, denn Dardarshi schaute ganz geschreckt auf Knollennase runter und ich hatte keine Ahnung, was jetzt eigentlich los war. Dann blickte ich selber auf Knollennase.


    Glaubt mir, nie in meinem Leben zuvor wollte ich so schnell an einem ganz anderen Ort sein. Ich wusste zwar nicht genau, was Knollennase hatte, aber was es auch war, ich wollte es nicht haben. Wirklich nicht. Er sagte zu mir, ich solle gehen, aber auch ja die Klappe halten, sonst setzts was. Naja, er hat sich schon feiner ausgedrückt, aber im Prinzip hat er genau das zu mir gesagt. Und damit hat er mir auch einen Gefallen getan, denn das letzte, was ich wollte, war hierzubleiben. Also bin ich wie ein geölter Blitz aufs Deck raufgelaufen, sehen, was jetzt da eigentlich los wäre. Nach ein wenig Suchen fand ich auch Zeuxis, den ich gleich ausfragte. Er zeigte in die Dunkelheit, doch ich konnte nichts erkennen.


    "Was ist los?"
    "Dort hinten sind Römer." antwortete er und sagte noch, ich soll mich leise verhalten. Im ersten Moment war ich perplex, im zweiten erfreut, weil meine Gefangenschaft hier auf See nun ein Ende haben konnte. Doch im dritten Moment folgte gleich die Ernüchterung. Die Römer würden mich genauso als Pirat gefangennehmen wie die anderen hier.
    "Die Götter mögen uns vor ihnen bewahren." flüsterte Zeuxis. "Sonst baumeln wir alle bald auf Kreuzen." Und das gab mir fast den Rest. Zuerst da unten die Pestilenz, dann hier oben die Römer. So oder so würde ich krepieren, das stand jetzt für mich fest, und ich wusste nicht, welche Todesart angenehmer sein würde.

  • Düsteres Schweigen lastete auf dem Schiff, der Harpyia. Obwohl der Wind in den Segeln rauschte, das Piratenschiff stetig an Fahrt aufnahm und die meisten Piraten recht betrunken waren, so merkten die Männer schnell die Bedrohung, schließlich floh Tullius nicht vor einem harmlosen Frachtschiff. Das schaukelnde Licht der Lockfässer war noch einige Zeit gut auszumachen, doch auch das verschwand irgendwann hinter den weiteren Wellen. Zeuxis seufzte noch mal und ging weiter ans Werk, schweigend wie der Rest der Mannschaft. Mit stummen Handgesten deutete er Ambrosius was zu tun galt, die ganze Nacht blieben die Piraten auf den Beinen, der Rausch der Saturnalia verflog langsam.
    Stumm verfolgte Dardarshi Lucillas bittere Klagen, mit dem Rücken an die Holztür gelehnt beobachtete er ihre Bewegungen, sein Gesicht war von einer düsteren Wolke umhangen und einige Male nickte er. Unverwandt erwiderte Dardarshi den anklagenden Blick. „Wenn wir an Land gehen können, dann wird Dich der Kapitän freilassen. Ich werde ihn darum bitten. Und sei nicht besorgt, ich glaube nicht, dass die Götter Dich verlassen haben. Gute Nacht, werte Dame.“ Er verneigte sich andeutungsweise, selbst in der Situation scheinbarer Hoffnungslosigkeit mit galanter Höflichkeit, sodann drehte er sich um und verließ die Kabine.


    Der nächste Tag
    Der Morgen graute, am östlichen Horizont bildete sich ein schmaler silberner Streifen, färbte den Himmel immer heller, doch das Schiff folgte mit jeder Welle dem nächtlichen Firmament, der vor den erstem Licht zu fliehen schien. Die Ulpia hatten die Piraten schon in der Nacht aus den Augen verloren. Tullius hegte die Hoffnung sie abgeschüttelt und einige Seemeilen in der Nacht an Distanz zwischen sich und die römische Triere, die er noch zu keinem einzigen Augenblick genauer sehen konnte, gebracht zu haben. Böses Wetter kündigte sich an, das Schiff steuerte auf eine niedrige Wolkenbank zu, über deren breite Front heftige Schauerböen jagten. Blitze im Inneren der riesigen Wolkenmassen waren als gedämpftes Aufleuchten nur zu erahnen, es war empfindlich kalt geworden, und der Wind peitschte Gischt von den Wellenkämmen, die das Gesicht des Kapitäns an der Luvseite des Achterdecks mit eiskaltem Sprühwasser nässte. Doch Tullius war nicht kalt, in ihm loderte ein inneres Feuer, selbst so eine Auseinandersetzung jagte das Blut durch seinen Körper und wärmte ihn von innen. Wie er es doch liebte, herausgefordert zu werden, wenngleich er mit bitteren Gefühlen die Flucht antreten musste. Auf und ab marschierte er und zählte jede Wendung mit den Fingern seiner auf dem Rücken verschränkten Hände, tausend davon, dann würde er unter Deck gehen. Am Ende jeder Bahn blickte er zum Himmel und auf die See. Der Himmel war gefleckt mit Wolken aller Art, im Süden noch blau und weiß, allerdings mit einem unheilschwangeren, stahlfarbenen Rand, im Westen türmten sich graue Sturmbringer auf, doch im Norden und Süden war schon alles schwarz und düster. Auch die See changierte in allen Tönen, wechselte von tiefem Blau über jede Schattierung von Grau bis zu Schwarz, dazwischen immer wieder Striche von gischtigem Weiß, die nicht vom Wind herrührten, sondern von dem auslaufenden Wogen des nahenden Sturmes.
    „Wie viele?“
    Dardarshi seufzte tief, er war gerade auf das Achterdeck gestiegen und beobachtete einen Moment schweigend den Himmel. „Sieben, aber nur die Götter wissen, wen sie noch mit diesem Übel belegen wollen. Wir müssen an Land, am Besten heute noch.“ Tullius nickte und wandte sich wieder ab, setzte seine Runden fort.
    Die Sonne vermochte die Wolken am Himmel kaum zu durchdringen, immer wieder blieb Tullius stehen, sah zum Himmel und dann zum Landstreifen an seiner Seite, scharfkantig zeichnete sich die hispanische Küste in der Ferne ab, die Gischtkronen, die gegen die Klippen brandeten, waren fast zu erahnen. Wenn sie den Sturm bestehen wollten, mussten sie bald an Land gehen. Tausend, Tullius drehte sich um und schritt nach unten.
    Ein zaghaftes Klopfen und die Tür zu Lucillas Kabine öffnete sich, schüchtern und sehr blass trat die junge Ägypterin, Tetischeri, in die Kabine, trug auf ihren Händen ein hölzernes Brett mit einer warmen und dicken Frühstucksuppe, dazu Brot und verdünnten Wein. Vorsichtig stellte sie das Brett auf dem hin und herschaukelnden Tisch ab. Ihre mandelförmigen Augen hafteten sich einen Moment mit verzagten Trübsinn auf Lucilla. „Herrin!“ murmelte sie leise. Demütig wollte sie wieder den Blick senken, doch dann richtete sie ihn wieder auf, wenig Sklavisches stand in ihren Augen. „Vielleicht ist das der Ausweg zu fliehen. Die Männer sprechen von nichts anderen mehr. Das Schiff, dass uns verfolgt, es sind...“ Die Tür wurde aufgestoßen, eine frische Brise, der Geruch nach Salzwasser wurde hereingetragen. Tullius stand in der Tür, sein düsterer Blick haftete sich auf die Ägypterin, mit einer herrischen Geste schien er sie fortwischen zu wollen.
    „Verschwinde!“
    Erschrocken entfleuchte die junge Frau und huschte aus der Kabine. Tullius trat ungefragt weiter in die Kabine und schloss die Tür hinter sich, seine Augen ruhten unverwandt auf Lucilla, er sah von der Nacht erschöpft aus. Schweigend, wie schon Dardarshi in der Nacht zuvor, stand er in der Kabine, brach die Stille jedoch schneller als sein Amicus es getan hatte.
    „Breche den Fluch oder Du wirst mit selber daran sterben, Lucilla. Wenn das Schiff führerlos ist, wenn keiner mehr die Segel setzt und die Ruder bedient, dann wird es in den Tiefen des Meeres versinken, zerschmettert von den Fluten des Unwetter. Breche ihn und ich werde Dich heute noch an Land absetzen, Hispania liegt nördlich von uns. Du hast mein Wort! Ich würde auch auf die Götter schwören, wenn Du dem mehr glauben würdest.“
    Tullius war fest davon überzeugt, dass Lucilla für die Pest an Bord verantwortlich war, ihr Odem brachte das Unheil mit sich, sein Verhängnis, es konnte nicht anders sein. Und diesen wollte er so schnell es ging, von sich und seinem Schicksal lösen. „Kapitän!“ dröhnte die Stimme eines Piraten von oben. „Komm schnell, schnell!“ Erst einen Moment später wandte sich Tullius stumm um und öffnete die Tür, ließ sie offen und ging wieder aufs Deck hoch.
    Unter einer fahlen Sonne, die von den Sturmwolken verschluckt werden wollte, zogen hohe Wogen mit langen, tiefen Tälern dazwischen in gleichmäßiger Folge ostwärts, die Wellenköpfe trugen jetzt Schaumkronen, und Flugwasser wehte in Kaskaden von weißer Gischt an ihren Leeseiten hinunter. In der Takelage heulte der Wind eine halbe Oktave höher. Am Horizont tauchte in den wogenden grauschwarzen Wellen ein Schiff auf. Schnell griff Tullius nach einem Seil und zog sich auf die Rehling hoch, spähte zu dem Schiff. Ein leiser Fluch löste sich von seinen Lippen.
    „Caenum!“
    Und jetzt sah er sie deutlicher, es war eine Triere, ganz eindeutig und sie näherte sich schnell, hatte den Wind direkt im Rücken und den Luvvorteil mit sich. Doch noch schneller als das angreifende Schiff näherte sich der Sturm.
    „Bereit machen zum Gefecht! Zeuxis und Du...“
    Tullius deutete auf Ambrosius.
    „...an die Balliste, aber hurtig!“
    Im Nu brach der Sturm um sie herum aus, die Wolken hüllten das Schiff ein und die ersten Wellenbrecher donnerten auf das Deck der Harpyia.

  • Die dritte Stunde nach tiefster Nacht:


    Es nahet im Brausen auf hohem Meer ein wunderliches Weib,
    der Blick so kühn, und so blank die Wehr, und so herrlich der wonnige Leib.
    Die Wellen leis plätschern um ihren Fuß und neigen sich vor der Dame,
    im Jubel entbieten sie ihren Gruß, Lucilla ist ihr Name.
    Aus Träumereien aufgeschreckt staunt sie den Neptun an:
    "Bist endlich, du Herrliche, aufgeweckt, behersch nun den Ozean.
    Nimm hin mein Szepter und meine Kron, dein sei sie ohne Neid und ohne Weh.
    Nimm hin meine Macht als des Schicksals Lohn, holde Lucilla zur See!"
    Es jubeln und singen im Meeresgebiet die Nixen mit fröhlichem Sinn:
    "Dir gilt unsre Liebe, dir tönt unser Lied, dir, holden Gebieterin!
    Wir schirmen und schützen dich Tag und Nacht, die Schiffer holn wir dir her,
    in sonnigem Glanze erglüh deine Macht, Lucilla tief im Meer!"


    Kurz vorm Morgengrauen:


    Aus der schwarzen Nacht blickt einsam der Morgenstern her,
    die Dünung schaukelt das Schiff sacht auf dem weiten, endlosen Meer.
    Leise über den sanften Wogen zieht die Harpya ihren Lauf,
    dann steigt bald am fernen Himmelsbogen die Tagessonne auf.
    Muntres Regen, muntres Treiben wird im Ozean erweckt durch ihren Glanz
    und die bunten Wellen spielen tosend sich auf zum turbulenten Meerestanz.
    Doch an Bord ist es still und düster, statt laut singender Piraten und Heiterkeit
    hört man keine Menschenseele, man sieht keine Freude und auch kein Leid.
    Leise in den sanften Wogen senkt sich die Stille auf die Planken hinab
    und der Sonne heller Strahlenschleier spannt sich über dieses düstre Grab.
    Keine Rose schmückt die Stelle und kein Mausoleum zeigt den Ort,
    nur die Möwen und der Wind streifen einsam über Lucillas Grab hinfort.


    Am Morgen:


    Lucilla erwacht fröstelnd und braucht einige Herzschläge, bis sie ihre Gedanken sortiert hat. Sie erinnert sich an merkwürdige Träume, doch zum Glück fällt ihr keiner mehr davon ein. Vorsichtig hebt sie die Decke und schaut darunter. Dann seufzt sie erleichtert, da sie noch am Leben und sogar in einem Stück am Leben ist. Sie reckt sich und schält sich bibbernd aus der Decke. Ein Schiff mit Fußbodenheizung wäre nicht schlecht. Langsam und bedächtig macht sich Lucilla daran, sich herzurichten. Sie glaubt über sich Fußgetrappel zu vernehmen, doch vielleicht ist es nur das Schlagen eines Segels an einen Mast. Doch wenn sie schon nachsehen muss, ob noch irgendwer an Bord am Leben ist, möchte sie dabei wenigstens ordentlich aussehen. Sie bürstet sorgfältig ihre Haare, bindet sie locker zusammen, reinigt sich so gut wie möglich mit dem Wasser vom Vortag aus der Schale und zieht das Kleid vom Vorabend an, auch wenn es vielleicht für eine Bestattung unangemessen ist. Sie betrachtet ihr Gesicht in der Wasserschale und greift auch noch zu dem kleinen Ölfläschchen, das noch immer auf dem Tisch steht. "Was mache ich hier überhaupt?" fragt sie sich schließlich leise. "Wahrscheinlich werde ich schon verrückt. Prima, so habe ich mir mein Ende immer vorgestellt. Als verrückter Lemur auf dem Meer zu enden. Das erste Anzeichen von Wahnsinn war es schon immer Selbstgespräche zu führen, das hätte ich also schon einmal erledigt. Danach ..."


    Lucilla verstummt, als sie ein leises Klopfen an der Tür hört. Klopft Mercur an die Tür an, wenn er kommt um die Seele zu holen? Ihr Herz tut einen kleinen Freudensprung, als Tetischeri die Kabine betritt. "Tetischeri! Guten Morgen!" Lucillas Augen folgen dem Tablett auf den Tisch, sie hat unglaublichen Hunger, wenn sie genauer darüber nachdenkt. Doch ihre Aufmerksamkeit wird schnell von den Worten der Ägypterin gefesselt, bis die Tür auffliegt und der Wind eine Gestalt hereinweht, die direkt aus dem Hades zu kommen scheint. Tullius hat es wohl nicht für notwendig befunden, sich für den Tag herzurichten. Dunkle Ringe umranden seine Augen, sein Haar sieht zerzaust aus und seine Wangen eingefallen. Lucilla hat keine Ahnung, wie genau die Pest sich äußert, aber womöglich fängt es so an? Andererseits, nach durchgefeierten Nächten sahen ihre Brüder und Cousins auch schon so aus. Gerade als Lucilla die Stille zu schwer wird, und sie schnippisch fragen will, was ihr Herr und Meister befielt, da bricht der Kapitän die Stille selbst und fordert Lucilla auf, den Fluch zu lösen.


    Noch ehe sie darüber nachdenken kann, ob sie ihm sagen soll, dass sie keine Ahnung hat, wie sie das anstellen soll, da wird Tullius schon wieder an Deck gerufen. Lucilla schaut ihm zweifelnd hinterher und als die Tür durch die Bewegungen des Schiffes und den durch alle Ritzen ziehenden Wind zufällt, schüttelt sie den Kopf. "Männer!"
    Das schlimmste an der ganzen Situation ist natürlich, dass er Recht hat. Natürlich wusste Lucilla das schon vor ihm, aber ihr ist noch immer keine Lösung eingefallen. Allerdings hat sie es auch nicht wirklich eilig. Ein paar Piraten weniger wären sicher nicht so schlimm, hauptsache ein paar würden das Schiff an Land steuern. Dann sollen sie sich eben beeilen, so weit kann das Land ja nicht entfernt sein, denn wer ist schon so verrückt und steuert in dieser Jahreszeit mitten übers Meer? Nichteinmal Piraten können so verrückt sein, außerdem erwähnte der Kapitän am Vorabend, dass Hispania nicht weit ist. Und wenn doch?
    "Argh! Ich hasse dieses elende Piratenpack! Die machen mich noch ganz wahnsinnig! Da! Ich rede schon wieder mit mir selbst!"
    Wütend stößt sie die Tür auf, packt das Tablett und macht sich auf den Weg an Deck. Sie würde das Frühstück den Göttern übereignen im Versuch den Fluch durch ein Opfer zu lösen. Irgendwie müssen die Götter schließlich zu überzeugen sein. Mit energischem Schritt stampft Lucilla über die Holzplanken und kämpft sich schließlich an Deck vor, das Treiben der Piraten um sich herum völlig ignorierend.


    Auch den Sturm ignoriert Lucilla, zumindest versucht sie es, auch wenn es nicht leicht ist, sich gegen den starken Wind voranzukämpfen. Auf einmal jedoch hält sie wie vom Donner gerührt inne. Langsam öffnet sich ihr Mund, der scharfe Wind zieht ungehindert dort hinein, und sie zieht ein Gesicht, als würde sie einen Lemur sehen. Und tatsächlich, das tut sie. Denn dort an Deck steht Ambrosius. Ambrosius! Mit einem Krachen, das sicherlich nicht unbedingt leise wäre, wenn es nicht durch den Sturm völlig übertönt würde, schlägt das Tablett samt Schüssel, Becher, Essen und Wein auf dem Boden auf. Hinter Ambrosius schiebt sich langsam ein Schiff in Lucillas Blickfeld.


    Wiegende Wellen, wallende Fluten schaukeln hernieder und wieder zur Höh,
    tragen das Boot flink über die wilde, schäumende, brausende See.
    Ein stürmischer Wind weht die Harpya hin in dunkle, unbegrenzte Weiten,
    zu fernem, unbekanntem Ziel, getrieben durch die Launen dreier Gottheiten.
    Von Strudeln umlauert, von Ungeheuern beäugt und vom Feinde gejagt,
    doch allen Gefahren zum Trotz pflügt das Schiff durch die See mit unablässiger Fahrt.

  • Die schäumende See wogte wild und unbändig und einem Chrysaor oder einer Skylla gleichend tauchte das fremde Schiff aus den grauschwarzen Wolken und der beleierngrün changierenden See hervor. Die Masten stießen durch die Gischfetzen, der Bug durchbohrte einem wilden Wellenkamm und ähnlich eines Seeungeheuers schien die Triere die Harpyia verschlingen zu wollen. Die dunkle Wolkenmasse hatte nun beide Schiffe in ihre unerbittliche Umarmung gehüllt, wütende Sturmgeister zerrten an den Wellen und ließen sie in wilde Kreuzseen auftürmen. Der Wind heulte in bedrohlicher Lautstärke durch die Takelage des Piratenschiffes, der Mast stöhnte vernehmlich unter dem Druck und immer wieder donnerten die Wellen gegen die Planken des Schiffes, trugen Gischtfontänen auf das Deck und durchnässten jeden, der sich getraute oberhalb des Decks dem Wüten der Götter stand zu halten.
    "Hart wenden!"
    Selbst den Wind und das entfernte Donnergrollen konnte Tullius' Stimme noch übertönen. Das Schiff stöhnte protestierend auf als es von einem Moment zum anderen in den Sturmfluten zu halsen begann. Schwallwasser flutete über die schon rutschigen Planken, ein Pirat hastete an Lucilla vorbei, hangelte sich dabei von einem Haltepunkt zum Nächsten. Er warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu, ignorierte sie dann jedennoch. Schon glitt das Piratenschiff in ein Wellental hinein, die fremde Triere entschwand hinter einer brechenden Wellenkrone. Ein einzelner Eimer rollte über das Deck und tauchte in das hungrige Maul der See. Ein lauter Knall, ein Seil am vorderen Segel war gerissen und sauste einer Schlange der Medusa gleichend unbändig und wild durch die Luft. Männer rannten nach vorne und versuchten nach dem Seil zu greifen, auch Tullius kam hinzu.
    "Hoch mit Dir, Munan!"
    Halsbrecherisch kletterte der junge Mann an dem Mast nach oben, während der Bugspriet durch das Wasser pflügte und den steilen Aufstieg des Wellenkammes ertrotzte. Tullius spähte hinter dem Kletteraffen her, der mit Mühe und immer mal ablgeitend, das Seil wieder anbinden konnte. Erst dann wandte sich Tullius ab und sah Lucilla an. Wie gebannt blieb er stehen, ließ das Bild von ihrer Gestalt auf sich einwirken und presste seine Kiefer fest aufeinander. Das war alles ihre Schuld! Finsterer Miene schritt er auf Lucilla zu, hatte nicht übel Lust sie zu packen und über Bord zu werfen, Fluch hin oder her. Das Verhängnis schien schon längstens über ihn eingebrochen zu sein. Einen Schritt entfernt blieb er vor ihr stehen und sah sie mit kaltfunkelnden Augen an, seine Hand ballte sich zu einer Faust, mit der Anderen hielt er sich an einem Seil um den Mast fest. Als ob er einen Marathon gelaufen war, hob und senkte sich seine Brust und er schien mit sich innerlich zu kämpfen. Ein Grollen ertönte, war es von Tullius oder von dem Unwetter? Abrupt wandte er sich von Lucilla ab und marschierte abermals auf das Achterdeck hinauf.
    Einem Dreizack Neptuns gleichend stieß mit einem Mal die Spiere und die Galion der Ulpia durch den benachbarten Wellenkamm, ein lautes Pfeifen und etwas schlug durch das Großmastsegel der Harpyia. Eine eiserne Kugel, ähnlich Tullius' Ballistekugeln, polterte über das Deck, rollte angetrieben von der Fahrt des Schiffes an Lucilla vorbei und verschwand in den zornigen Wogen. Durchnässt und mit verblüfftem Gesichtsausdruck starrte Tullius hinüber zu dem feindlichen Schiff, er hatte nicht damit gerechnet, dass der andere Kapitän im Sturm einen Angriff befehlen würde. Was für ein Wahnsinn. Gleichwohl stieg Ingrimm in ihm auf, er würde nicht aufgeben, er würde nicht weichen.
    "Zu den Waffen!"
    Nicht zu früh, denn wie ein Inferno stieß die Ulpia auf die Harpyia hinunter, Planken stießen gegen Planken, Holz barst und Enterbrücken wurden heruntergeworfen. Soldaten, römische Classissoldaten, stürmten in der wogenden See, im Wüten des Sturmes, über die Enterbrücken. Die Gladii zischten durch die Luft, ihre Scuta schlugen gegen die Waffen der verteidigenden Piraten, Schreie vermischten sich mit dem donnernden Toben der Sturmgeister. Aus den Tiefen des Schiffes drangen mehr Piraten nach oben, Tabat trug dabei einen großen Säbel in der Hand. "Kapitän!" rief er laut und vernehmlich, er warf Tullius den Säbel zu, der ihn aufing und aus seiner schützenden Schwertscheide zog, mit einem Satz war er vom Achterdeck gesprungen und landete federnd neben einer Enterbrücke. Ein römischer Soldat sprang Tullius an, hinwieder verschwanden beide im Nebel einer grüngelblichen Gischtwolke. Chaotisch und wirr schien der Kampf auf dem Deck der Harpyia anzumuten, immer mehr Männer stürzten übereinander her, dabei schlingerten die beiden Schiffe halsbrecherisch und in Todesverachtung durch den Sturm. Unversehens rutschte ein silbern glänzender Säbel über das Deck, die Schwertspitze blieb an den Tauen des Großmast hängen, es war der Säbel des Piratenkapitäns, der rollte jedoch gleich aus dem Gewirr der kämpfenden Männer und rang mit einem Soldaten, seine Faust schmetterte dem Römer ins Gesicht, während dieser ihm mit dem Knie in die Buachgegend stieß, unerbittlich schlugen sie sich, hatten allesamt jedoch ihre Waffe bereits verloren. Leise und lockend summte der Säbel, als der Wind an der Klinge entlang glitt und sich um die scharfe Schneide teilte.

  • Lucilla hat kaum Zeit sich von dem Schock, dass Ambrosius am Leben ist, zu erholen, denn plötzlich geht es auf dem Schiff drunter und drüber. Von unten bäumen sich die Wellen auf, spritzen die Gischt bis weit über die Reling, von Oben ziehen dunkle Wolken über das Schiff und hüllen es in einen düsteren Sturm. Dazu wird plötzlich das andere Schiff auf dem Rücken einer Welle nah an die Harpyia herangetragen, der Angriff beginnt. Wahnsinn. Lucilla findet sich umgeben von Wahnsinn, und dass sie noch immer an Deck steht und sich kaum rühren kann, das zeugt vermutlich von ihrem eigenen Wahnsinn. Doch es geschieht alles so schnell und so merkwürdig, dass sie völlig den Kopf verliert, überhaupt nicht mehr weiß, wo sie hin sollte. Unter Deck wäre eine Möglichkeit, doch bei der rauhen See hat sie viel zu große Angst, dass das Schiff von Neptun hin und her geschüttelt und schließlich in die Tiefen des Meeres hinabgezogen wird und dann möchte sie nicht im Bauch des Ungeheuers stecken. Obwohl bei diesem Wetter auch an Deck nicht viel Aussicht auf Überleben besteht. An Deck herum zu stehen ist aber auch keine gute Idee, nur knapp vor Lucillas Füßen rollt eine dicke eiserne Kugel über die Planken, über das halbe Schiff und darüber hinaus ins Meer hinein. Aber das ist längst nicht alles. Die wahnsinnigen anderen Piraten entern doch tatsächlich die Harpyia! Als der bullige Tabat an Lucilla vorbei stürmt, weicht sie zurück und stolpert über irgend etwas am Boden. Mit einem spitzen Schrei, der völlig in der Geräuschkullisse des Sturmes, die jetzt noch vom ersten Kampflärm verstärkt wird, untergeht, fällt sie hart auf ihr Hinterteil und schlägt sich zu allem Übel auch noch den Kopf an einem Fass an.


    Benommen greift sich Lucilla an den Hinterkopf und reibt über eine Beule, die sich unter ihren Fingern gewaltig anfühlt, tatsächlich aber nicht besonders schlimm ist. Links von Lucilla steht ein Fass und rechts von ihr eine Kiste, über die sie gerade so drüber blicken kann. Mehr oder weniger schlecht in diesem Versteck in Sicherheit zieht Lucilla die Füße ein und bleibt erst einmal sitzen. Der Nebel wird immer dichter, trotzdem sieht sie nur allzu genau das spritzende Blut, das überall auf dem Schiff verteilt wird. Ein Mann stürzt direkt vor ihrem Schlupfwinkel auf die Planken, seine Augen starren weit aufgerissen direkt zu Lucilla und sie will ihm gerade bedeuten, dass er sie nicht verraten soll, da fällt ihr auf, wie sich das Holz unter seinem Bauch immer dunkler färbt. Zögernd streckt sie ihren Fuß aus und tippt an den toten Körper, zieht ihn dann eilig wieder ein und bemerkt nun, wie sehr sie schon wieder zittert. Plötzlich jedoch reißt auch Lucilla die Augen auf und starrt den Mann an. Es war ein Soldat der Classis! Ein Römer! Keine Piraten greifen die Harpyia an, sondern Römer, echte Römer! Lucillas Herz klopft laut, bis hinauf in ihre Ohren, denn ihre Rettung ist zum Greifen nah.


    Ihre Hoffnung lässt Lucilla alles vergessen. Wenn sie diese Gelegenheit nicht nutzt, dann würde sie es nur bereuen. Sie kämpft sich mühsam gegen den Sturm und die Gischt auf und kneift ihre Augen zusammen. Möglichst allen Kämpfen ausweichend und in der Hoffnung, sich mit aller Kraft ihrer Gedanken vielleicht unsichtbar machen zu können, schiebt sie sich langsam übers Deck. Vielleicht würde sie es auf das andere Schiff schaffen. Doch würden die Römer sie einfach so an Bord lassen? Wer weiß, ob sie nicht auf alles einstechen, was sich von dem Piratenschiff nähern würde? Doch für solche Gedanken ist es etwas zu spät. Tatsächlich schafft es Lucilla ein ganzes Stück unbehelligt voran zu kommen. Doch plötzlich reichen ihr die Götter einen Säbel aus dem Himmel herab, eine glänzende Klinge direkt vor ihre Nase, wie eine Aufforderung sie zu ergreifen. Ohne zu zögern befreit Lucilla den Säbel aus dem Tau, dann jedoch weiß sie nicht mehr recht weiter. Sie hat noch nie etwas größeres als ein Opfermesser in ihrem Händen gehalten. Mit Proximus hat sie sich als Kind ein paar mal mit Holzschwertern duelliert, aber immer, wenn er nur ein bisschen nach vorne zugestochen hat, ist Lucilla schrechhaft fortgehüpft. Meistens hat sie am Ende die Holzwaffe nach ihrem Cousin geworfen und ist dann so schnell wie möglich davon gerannt, möglichst in die Nähe ihrer Mutter, wo Proximus nicht mehr schlagen durfte.


    Mit beiden Händen hält sie den Säbel fest vor sich, sie würde einfach alles aus dem Weg fegen, was ihr in die Quere kommt. Ja, genau so würde sie das machen. Wenn nur nicht alles so ein Durcheinander wäre. Lucilla wendet ihren Kopf zur Seite, irgendwo muss hier auch Ambrosius sein, wenn er nicht doch nur ein Trugbild gewesen ist. Sie blickt noch einmal suchend zur anderen Seite und bemerkt dabei nicht, wie das kämpfende Knäul aus Tullius und römischem Soldat sich ihr nähert. Erst einen Faustschlag später, als ein Körper hart gegen die Klinge fällt und diese sich in die Seite des Mannes bohrt, oder besser gesagt der Mann sich auf die Klinge schiebt wie ein Stück Fleisch auf einen Spieß, liegt Lucillas Aufmerksamkeit wieder vor ihr. Nur noch Herzschläge lang behält sie den Säbel in ihren Händen, dann lässt sie ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund panisch los, als würde er wie heiße Kohlen glühen. Sie starrt auf den Mann, der sich erstaunt zu ihr umdreht, starrt in seine Augen, die sie anblicken, als wäre sie eine römische Dame und völlig fehl am Platz mittem im Kampf auf einem Piratenschiff. Er öffnet den Mund, doch es kommt nur schwerer Atem daraus hervor, dann geht der Mann langsam in die Knie, sein Blick fixiert noch immer Lucilla und Lucillas Blick hängt an seinen Augen, bis er zur Seite kippt und auf den Holzbrettern liegen bleibt.


    Die Welt um Lucilla herum scheint stehen zu bleiben. Die Kämpfe an Deck der Harpyia verblassen zu einem grauen Schlieren, das schwarze Meer hält in seiner Gewalt inne, nur der Wind haucht quälend Laut an Lucillas Ohren vorbei. Dicke, schwere Gischttropfen legen sich auf Lucillas Wangen und sie weiß, ohne es zu sehen, dass sie dunkelrot sind. Eiskalt zerrt der Wind an ihrem Kleid ohne es zu bewegen, das Schiff schwankt schwerelos auf den schaumigen Wellen dahin und ein gerissenes Segel der Harpyia schlägt mit jedem Herzschlag krachend gegen einen Mast. Das Mare Internum bebt, die Harypia bebt, oder vielleicht ist es auch nur Lucillas Körper, der bebt. Fassungslos hebt sie ihren Blick von dem Toten und schaut Quintus Tullius an.

  • Ein Wetterleuchten zuckte über den düsteren Himmel und die Wolkenmassen hinweg, mit einem lauten Donnern spritzte eine Gischtfontäne an der Seite des Schiffes hoch und ergoss sich über das Oberdeck beider Schiffes, die Schreie der Männer wurden davon übertönt. Mächtige Berge von Wasser türmten sich vor den beiden Schiffen auf, drohten sie immer wieder mit der Macht ihrer Masse verschlingen zu wollen. Immer und immer wieder ritten die beiden Schiffe zu dem Kamm der Wellen hoch und glitten tief in das Tal hinab. Ein gellender Schrei und einer der Piraten fiel von Bord, war schon im nächsten Moment in den Fluten verschwunden. Im stürmischen Wind jagten die Kronen der Brecher vor der Dünung dahin und begruben die Wellenkämme, so weit das Auge reichte, in Strudeln von sahnigem Weiß. Nur in den jetzt viel tieferen Tälern zeigte das Meer seine graugrüne Farbe.
    Gewandt stand Tullius auf als er der Körper seines Angreifers tot von ihm herunter glitt. Überraschung zeichnete sich in seinem Gesicht ab und er sah auf den blutigen Säbel, seinen Säbel hinunter, den Lucilla in den Körper des Soldaten gestoßen hatte. Feine Wassertropfen perlten an seiner Wange entlang, seine dunklen Haare klebten ihm an der Stirn, seine Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln. In dem Augenblick der Zeitlosigkeit, kein Sandkorn schien mehr weiterrinnen zu können, erwiderte Tullius Lucillas Blick. Schwälle von Flugwasser wurden von den Kämmen der Wogen gerissen, legten einen dunklen, gräulichen Schleier über die wogenden Wasser und füllten die Luft mit Nässe. Feine Tröpfchen rieselten auf Lucilla und Tullius hinab, der sie mit seinen dunklen Augen ansah, seine Hand legte sich behutsam unter ihr Kinn, strich ihr mit seinen Fingerspitzen über die Kinnkuppe. Die Wärme seine Körpers war deutlich zu spüren, so nah stand er an Lucilla. Mit dem Blut an ihren Händen, den Toten zu ihren Füßen fand Tullius unversehens Gefallen an ihr. Die Erregung des Kampfes mischte sich zum ersten Mal während eines Gefechtes mit einem anderen Gefühl, Verlangen nach der, ihm doch bis dahin lästigen, Römerin. Als sich turmhohe Sturzseen am Heck aufbauten, beugte sich Tullius vor und küsste Lucilla, salzig schmeckten ihre Lippen. Seine Hand suchte sich einen Weg zu ihrem Rücken, glitt an dem Nassen und vom Meerwasser durchtränkten Gewand hoch, zog sie dabei fest an sich. Forsch und mit wachsender Leidenschaft küsste er Lucilla weiter. Völlig vergessen schien der Sturm, achtlos das wütende Gefecht um sie herum. Ein Todesschrei riss Tullius doch schnell wiederum in die Wirklichkeit zurück, nur ein kurzer Augenblick war vergangen, weniger als zwei Atemzüge. Tullius löste sich von Lucilla und sah sie amüsiert an. Schnell zog er seinen Säbel aus der Leiche und griff nach dem Gladius eines Soldaten, welchiges er Lucilla in die Hand drückte.
    “Das nächste Mal solltest Du das Schwert fester halten, Lucilla.“
    Eine feindliche Waffe blitzte auf und sauste in ihre Richtung, Tullius stieß Lucilla zur Seite, damit sie hinter dem Großmast Schutz fand, gerade im letzten Atemzug brachte er seinen Säbel dazwischen. Das Metall schlug gegen Metall, es gab ein hässliches Kreischen als die Schwertklingen übereinander schabten. Der römische und bullige Soldat drückte das Gladius herunter, Tullius stemmte sich dagegen. Immer tiefer sank das Gladius herunter, die Schneide wollte sich in das Fleisch des Piraten bohren, doch dann zog Tullius blitzschnell einen Dolch aus seinem Gürtel und stieß diesen in die ungeschützte Achselhöhle des Soldaten, der Druck schwand und mit einem überraschten Seufzen sank der Mann auf die Planken des Schiffes herunter, tränkte das Meerwasser mit seinem Lebenssaft.
    Schwer atmend wandte sich Tullius um und sah zu Lucilla, versicherte sich, dass ihr nicht geschehen war. Dieses Mal nicht nur aus dem Grund heraus, dass der Fluch sich erfüllen konnte. Die Frau gefiel ihm immer besser, unbeugsam, stolz und mutig, außerdem mit dem Blut eines römischen Soldaten der Classis an ihren Händen. Abermals war er durch sie abgelenkt, ein Fehler wie sich herausstellte. Zu spät bemerkte er einen Soldaten, der gewandt die stürmische See ausgleichend, auf ihn zusprang. Und obwohl er noch eine ausweichende Bewegung vollführte, drang das feindliche Schwert in seine Seite, warmes Blut lief über seine Haut. Trotzdem schlug er mit der Faust ins Gesicht des Soldaten und stieß mit seinem Säbel nach.
    „Trierarchus? Wir müssen uns von dem anderen Schiff lösen, das Wasser steht schon zu hoch bei uns!“ Der Kapitän der Ulpia, er stand noch auf seiner Schiffsseite, nickte. „Gleich! Pumpt weiter!“ Er meinte den feindlichen Kapitän ausgemacht zu haben, es war nicht das erste Mal, dass er jenen vor Augen hatte. Eine Hand schoss nach oben, sein Sklave reichte ihm sein Gladius und sein Scutum. Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen marschierte der Trierarchus auf die Enterbrücke zu. Wasser spritzte zwischen den Bordwänden hoch und abermalig schienen beide Schiffe in das Tal zu fallen. Mit einem Satz, trotz seiner nicht mehr ganz jungen Jahre, sprang er auf die Enterbrücke, wie so unzählige Male, nur erstmalig bei einem Sturm. Sein Gladius durchschnitt die Luft und drang in die Brust eines Piraten, der sich ihm entgegenstellen wollte. Als die See mit gierigen Fingern nach dem Kapitän der Ulpia griff, sprang er schon auf das Deck der Harpyia. Überrascht verharrte der Trierarchus als er Lucilla erblickte, mit einer Frau an Bord hatte er nicht gerechnet. Doch die Verblüffung währte nicht lange, zielstrebig arbeitete sich der Römer durch die Piraten hindurch, fällte sie wie der Schnitter die Ähren. Tullius starrte den Kapitän an und erkannte ihn sofort, Cluvius Hortalus. Die Blicke beider Männer trafen sich, Tullius voll des Hasses und Hortalus mit eisiger Kälte. In der Eintracht der gegenseitigen Mordlust hoben beide ihre Waffen und stürzten aufeinander zu.

  • Diese Saturnalien werden mir auf ewig im Gedächtnis brennen, selbst im Elysium, darauf verwette ich mein ganzes Vermögen. Aber eines muss ich schon dazusagen, ich hätte mir schon ein schöneres Ende der Feiern gewünscht, so sehr ich eigentlich gar nicht hier sein möchte. Das Rumstehen mit Zeuxis und darauf achtgeben, ob wir die Römer abgehängt haben, Leutchen, sowas zehrt schon an den Nerven. Und ihr Götter, was war ich müde. Ich konnte meine Augen kaum offenhalten. Als dann am frühen Morgen die Ablösung kam und ich dann endlich pennen konnte, ich schlief wie ein Stein... für etwa eine Stunde, dann wurde ich wieder aufgeweckt. Ehrlich, ich hätte Carnax umbringen können, das einzige was ich wollte war nur schlafen. Stattdessen musste ich wieder rauf auf Deck, sagte Carnax, die Römer seien hier. War ja klar. :fad: Und was war, als ich oben ankam? Der Cheffe teilte mich an die Balliste ein, zusammen mit Zeuxis. Als dann die Römer ankamen und unser Schiff enterten... es war grauenhaft. Ich war noch nie bei einer Schlacht dabei und hatte nie Lust auf dieses kriegerische Zeug da, und jetzt weiss ich auch wirklich warum. Da war ein Wüten und Morden um mich herum, das Blut spritzte, Gliedmaßen und tote Körper lagen herum... schrecklich. Irgendwann drückte Zeuxis mir ein Schwert in die Hand, aber ich hatte kaum Ahnung, was ich damit anstellen sollte. Und außerdem würde ich wohl kaum einen Kampf mit einem ausgebildeten miles überleben. Sicher wusste ich, wie man einigermaßen damit umgeht, das schon. Und ich war ja auch recht fit, aber man stelle sich vor: es ist neblig, es stürmt und das ganze Deck wuselt vor lauter Leuten. Ehrlich, keiner hätte mir einen Vorwurf machen können, wenn ich jetzt den falschen Mann abgestochen hätte. Und wenn ich weiter ehrlich bin, das einzige was ich wollte, war ein sicherer Platz, wo mir keiner zu nahe kommt. Aber man will immer mehr als man kriegt, denn in genau diesem Moment war ich mitten im Kampfgetümmel.


    Zeuxis hat schon ein wenig mit mir geübt die letzten Wochen hindurch. "Jüngelchen," hat er gesagt, und ich schwör bei meinen verstorbenen Eltern, eines Tages treib ich ihm das aus, "du musst das können, sonst biste tot." Na der war gut, das bisschen was ich geübt habe würde mich natürlich absolut für einen Kampf gegen einen Römer wappnen, ja klar. Also, was macht man in einer Situation wie dieser? Man fuchtelt und hofft, dass man überlebt. Diese Hoffnung senkte sich bei mir aber gegen Null, als dann einer der Classisleute vor mir stand und mich angrinste. Der wusste wohl schon, dass ich eine leichte Beute war. Aber schon im nächsten Moment erstarb sein Lächeln, er verdrehte seine Augen und sackte zu Boden. Fassungslos schaute ich auf den leblosen Körper, es ging alles so schnell. Als ich hochsah, ehrlich, ich war nie zuvor so froh, Zeuxis zu sehen. Er deutete, ich solle mich hinter ihm stellen, ihm den Rücken freihalten. Na, das ließ ich mir sicher nicht zweimal sagen. Was ich dort sah und tat, war sicher nicht rühmlich, zwei Menschen verloren durch mich ihr Leben, aber was sollte ich auch tun, ich hänge selber an meinem Leben. Ich hatte jetzt aber auch die Zeit, die Lage ein wenig zu überblicken, und was oder genauer: wen sah ich da?


    Meine Herrin. Was bei allen Göttern machte sie hier auf dem Deck? Und wie sah sie bloß aus? Und was tat sie da? Mit IHM??? 8o Also ne, dat geht jetzt wohl gar nich. Was soll das denn? Ich war nicht weit weg vom Grossmast, wo der Käptn Lucilla hinstieß. Und da mich Zeuxis ohnehin in die Richtung drängte, ergriff ich die Gelegenheit.
    "Ich schwöre bei allen Göttern, sollte ich je wieder an Land kommen, mache ich nie mehr eine Seereise." keuchte ich ihr zu.

  • Noch immer hat Lucilla nicht begriffen, was geschehen ist. Sie hat einen Menschen, einen Römer getötet. Sie hat das Schwert gehalten, das seinen Tod bedingte. An ihren Händen klebt das Blut eines Römers, eines Sohnes, eines Ehemannes, eines Bruders, eines Vaters, eines Cousins. Seiner Familie würde man erzählen, er sei beim Kampf mit den Piraten umgekommen. Und dabei starb er durch die Hand einer Römerin, durch Lucillas Hand. Wer weiß, vielleicht kam Proximus gar nicht durch das Schwert eines Germanen ums Leben. Vielleicht wollte er eine Römerin retten, die von einem Germanen angegriffen wurde. Vielleicht hat sie ihm ein Schwert in den Bauch gerammt. Vielleicht starb Mercator gar nicht durch die Hand eines elenden Mörders. Vielleicht wollte er einer Dame in Not zu Hilfe eilen und rannte in ihr Messer hinein. Vielleicht starb Flaccus gar nicht durch die Gewalt einer Sklavin, vielleicht war es ihr Herr? Bei allen Göttern, wer weiß schon, wieviele Römer durch Römer sterben, wenn der Tod so schnell kommen kann?


    Mit der langsam dämmernden Erkenntnis wird Lucilla merkwürdig ruhig und egal, was passiert, es würde sie nicht mehr wundern. Es würde sie nicht wundern, wenn sich das Meer endlich auftut und die Harpyia mit seinem gewaltigen Schlund verschlingen würde. Es würde sie nicht wundern, wenn der Himmel sich lösen und auf sie herab stürzen würde. Es wäre kaum seltsam, würde Avarus über die Enterbrücke der römischen Galeere kommen, um sie zu retten, selbst die Anwesenheit des Kaisers oder sogar Hungis samt seiner Ehefrau Livia würden Lucilla kaum mehr verwundern. Ein Löwe an Bord, Tibicines-Spieler um dieses Schauspiel musikalisch zu begleiten, eine Rose die zwischen den Planken des Schiffes emporwachsen würde, es könnte Lucilla nicht mehr schocken, denn in diesem Augenblick ist sie weit jenseits von Gut und Böse, und wo sie eine Zeit zuvor noch an ihrem Verstand gezweifelt hat, beginnt sie langsam, dies alles für die Normalität zu halten. Ihr früheres Leben ist so weit von ihr entfernt, wie es weiter nicht sein könnte. Eine Lucilla im Triclinium der Casa Decima scheint ihr so unwahrscheinlich, dass sie nicht mehr real sein kann. Wer weiß schon, ob sie überhaupt noch Decima Lucilla ist, denn der Name ihrer Gens beginnt schon lange zu verblassen.


    Doch gerade als Lucilla sich willenlos in die trübe, grelle, dumpfe und gleichsam verlockend glänzende Welt des Verrücktseins fallen lässt, als nichts mehr in dieser Welt sie verwundern, nichts mehr sie aus der Fassung bringen kann, da geschieht etwas, was selbst in diesem Wahnsinn unmöglich und undenkbar ist. Hat sie bisher angenommen, dass sie Quintus Tullius hasst und sie ihn verabscheut, so wird sie wieder eines besseren belehrt. Denn sie hasst und verabscheut ihn abgrundtief. Wie kann er es wagen, wie kann er es einfach so wagen, sie in dieser völlig absurden Situation an sich zu ziehen und ihr seine abscheuliche Froschzunge in den Hals zu stecken, ihr, Decima Lucilla, der Verlobten des Senators Germanicus Avarus, Schwester des Triumphators Decimus Meridius und Auctrix P.P.A. der imperialen Zeitung des Kaisers!? Lucilla wird mit so einer Wucht zurück in die Realität gerissen, dass sie kaum reagieren kann, dass sie sich weder gegen den Kuss des Piraten wehren, noch ihn erwidern könnte, wenn sie dies wollen würde, was sie jedoch auf keinen Fall tun wollte, nicht einmal, wenn er der letzte Mann auf dem ganzen Mare Internum wäre. Wäre sie Quintus Tullius zu einer anderen Zeit in einer anderen Welt begegnet, womöglich hätte sie durchaus Gefallen an ihm finden können. Schlecht sieht er ja nicht aus, mit seinen dunklen Haaren, den dunklen Augen und dem Blick, bei dem so manche Frau dahinschmelzen würde, wenn sie es denn könnte. Doch Lucilla kann nicht. Seit dem ersten Augenblick, seit Quintus Tullius wie ein Ochse in die Kabine auf dem gallischen Handelsschiff gestürmt ist, ist er bei ihr untendurch und als brutaler, hässlicher, rauhbeiniger und widerlicher Seeräuber abgestempelt. Da hilft kein Kuss, im Gegenteil, eer macht es alles nur noch schlimmer. Doch zumindest sorgt er dafür, dass sich die düsteren Wolken um Lucillas Geist etwas lichten.


    Schon wieder steht sie einfach nur völlig fassungslos da, als er wieder von ihr ablässt, ihr Körper scheint ihr so schwer, dass sie es nocht nichteinmal schafft, Tullius eine schallende Ohrfeige zu geben. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben und die Erschütterung der Ohrfeige, die er sich wegen all dem hier noch einhandeln würde, würden noch die Barbaren hinter dem Limes spüren. Lucilla starrt auf das Schwert in ihren Händen. Es ist unglaublich schwer, sie kann es kaum heben, Tod und Verderben kleben daran. Sie will es wegwerfen, doch nicht einmal dazu kann sie ihre Hände bewegen. Womöglich könnte sie ... ? Lucilla lugt um den Großmast herum, Tullius ist bereits in den nächsten Kampf verwickelt. Wenn sie von hinten nur wieder die Klinge gegen seinen Rücken hält ... Aber Lucilla bringt auch das nicht fertig. Was, wenn sie wieder den falschen treffen würde? Was, wenn noch mehr Römerblut an ihren Händen kleben würde? Und wäre Piratenblut so viel besser als Römerblut? Lucilla wünscht sich in ihr Bett zurück, nach Hause in die Casa Decima, wo die schwierigste Entscheidung diejenige ist, ob sie zum Frühstück Wasser oder Traubensaft trinken soll.


    Dass Ambrosius auf einmal neben ihr steht, scheint das natürlichste der Welt zu sein. Obwohl Lucilla danach ist, ihm um den Hals zu fallen, ihn zur drücken und vielleicht sogar abzuküssen, hält sie nur weiterhin das Schwert in ihren Händen, dessen Klinge schwer nach unten zieht. Sie hat keine Ahnung, auf welcher Seite Ambrosius kämpft, doch da er überhaupt nicht kämpft ist das nicht so wichtig.
    "Nur noch Straßen." antwortet sie knapp und nickt schwach. Und dann, ganz leise, fast unhörbar im sausenden Wind und begleitet von einer Träne, die in den Gischttropfen auf ihrer Wange unsichtbar bleibt, folgt ein: "Ich bin so froh, dass du am Leben bist, Brosi." Denn Ambrosius scheint wie der gütige Geist aus einer anderen Welt zu sein. Selbst wenn er hier herum rennt wie ein Pirat, Ambrosius ist und bleibt Ambrosius, er ist und bleibt Lucillas Brosi und er verkörpert alles, was Lucilla verloren geglaubt hat - in diesem Augenblick verkörpert Ambrosius Rom.

  • Um eine weitere Oktave höher pfiff der tobende Wind über die beiden Schiffe, die sich, zwei trägen Walen gleichend, durch das stürmische Meer schoben. Mit aller Gewalt schien Neptun seine Fühler nach den Männern auszustrecken, suchte mit jedem Wellenkamm die Schiff in seine Arme schließen und in die Tiefen, die Abgründe der See, reißen zu wollen. Ein brechender Wellenkamm schoss auf das Deck der Harpyia herunter, ergoss sich auf das Deck und riss einige Männer mit sich, ein Verletzter schlitterte über die Planken, seine aufgerissenen Augen starrten in den schwarzgrauen Wolkenhimmel. Die Wucht des Scutum schleuderte Tullius zurück, einen Moment zu spät war er dem fremden Kapitän, Cluvius Hortalus, ausgewichen. Heftiger Schmerz zuckte durch seine bereits verletzte Seite und er stolperte um Haaresbreite über den Verletzten hinter ihm, der nur schwach atmete und mit seinen Fingern nach etwas zu suchen schien. Als sich das Schiff wieder anhob den Wellenkamm zu erklimmen und sich abermals den stürmischen Fluten zu stellen, fing sich desgleichen Tullius und umgriff fester den Griff seines Säbels. Seine Augen fixierten seinen Feind, seinen Gegner, der mit Kälte in den Augen und einem verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht Hortalus sein Gladius durch die Luft schwang, dabei mit dem Metall eine Gischtfontäne durchschnitt. Beide Männer verschwanden in einem feinen Regen aus grüngrauen Meerwassertropfen, dumpf schlug eine Waffe gegen Holz, ein ächzendes Stöhnen wurde von dem lauten Donnern der Wellen übertönt.
    Mittlerweile waren die Piraten in einer immer schlechteren und prekäreren Lage geraten, viele von den Männern, ehemalige Sklaven oder Galeerenruderer, lagen tot oder verwundert auf dem Deck danieder. Die Soldaten der römischen Triere umringten ein letztes Widerstandsnest der Piraten, ihre Aussichtlosigkeit begreifend ließen manche der Meeresräuber die Waffen fallen, andere wurden von den Gladii der Römer niedergestreckt. Mit einem zufriedenen Lächeln wandte sich ein römischer Offizier um, wollte seinem Kapitän von ihrem Sieg berichten, doch in jenem Augenblick schlug Hortalus wuchtig gegen das Holz des Achterdecks, sein Scutum rutschte ihm aus der Hand und aus seiner Nase floss ein feines Rinnsal Blut. Sein Gladius wehrte den Hieb des Säbels aus, schwer atmend stand Tullius vor ihm und sah auf Hortalus herunter. Schwarze Sterne tanzten vor den Augen des Piraten, seine rechte Hand fühlte sich schon ganz taub an und er hatte seinen Säbel in die linke Hand wechseln müssen, wenngleich auch seine Hiebe niemals mit jener Hand kräftig genug waren, um dem römischen Kapitän das Schwert zu entwinden.
    Der römische Offizier eilte im tosenden Wind auf das Achterdeck zu, wollte seinem Kapitän zu Hilfe eilen, der das jedoch aus den Augenwinkeln wahr nahm und ihn mit einer Handbewegung zurückhielt. Erneut stieß Tullius Säbel nach unten, suchte seinen Weg, um den Kapitän zu durchbohren und wieder das Herzblut durch die gierige Klinge vergießen zu lassen. Die Waffe glitt jedoch vorbei als sich der Kapitän zur Seite warf und von Tullius hinweg rollte, schnell wieder auf die Beine kam und herumwirbelte. Als der Säbel gegen das nasse Holz des Decks stieß, schien es vor Tullius Augen in einem wilden Sternenmeer zu explodieren. Als ob er lange in die Sonne gestarrt hätte, verschmolz alles zu einem schwarzen Fleck um ihn herum. Seine Hand glitt über seine warmfeuchte, blutige Seite, die Kälte war längstens in seine Glieder gekrochen, als das Schwert des Kapitäns sich in seinen Oberschenkel bohrte, spürte Tullius davon bereits nichts mehr.
    Leise seufzend schloss er die Augen und spürte die Wellen unter sich, schien sich von ihnen zu entfernen und wie eine Möwe gen Himmel zu steigen. Fern von all dem Irdischen und fern von allem Ballast schwang er sich zu den schwarzgrauen Wolken hoch, deren Toben und Wüten ihm nichts anhaben konnten. Während Tullius Geist in die tiefe und bodenlose Schwärze hinab glitt, schlug sein Körper auf die Holzplanken, der Gladius wurde dem Kapitän der Triere aus der Hand gerissen. Verdutzt sah der Römer auf Tullius herunter, wusste er doch zu gut, dass er den Piraten kaum verletzt haben könnte. Ein wütendes Knurren entrann der Kehle von Hortalus, er packte den Griff seines Schwertes und hob die Klinge hoch, um sie dem Piraten in den Rücken zu stoßen, aus den Augenwinkeln bemerkte er den Mann zu spät, der sich über Tullius warf, Dardarshi, und ihn mit seinem eigenen Körper zu schützen versuchte.
    Die graublauen Augen des Kapitäns hafteten unverwandt auf dem Gesicht des Piratenkapitäns, Wut und eine gewisse Enttäuschung waren dort abzulesen. Es war nur der Bruchteil einiger weniger Atemzüge, in denen er mit einer Entscheidung rang. Mit einer Hand winkte er den Offizier heran. „Bring Beide rüber und auch die Gefangenen! So leicht werden sie nicht den Tod als Geschenk erhalten, dieses Pack!“ Er schien das letzte Wort schier auszuspucken, erst dann entsann sich der Kapitän der Ulpia wieder an die Frau, sah zu Lucilla herüber und musterte sie mit einer unschlüssigen Falte zwischen seinen beiden buschigen, graumelierten Augenbrauen. Gerade als er auf sie zutreten wollte, die Piraten schon auf die Ulpia gebracht wurden, tobte der Wind heftiger in den Segeln, der Großmast der Harpyia gab ein lautes Stöhnen von sich, ein sterbender Laut gleichend und neigte sich immer mehr zur Seite. Im Fall durch das Wellental brach der Großmast und fiel mit einem tosendem Gebrüll auf das Deck herunter, Holz barst und der Mast drang in die Seite der Harpyia hinein, schon streckten sich die Finger der See gierig nach dem Inneren des Schiffes aus und die Wassermassen fluteten über und unter das Deck. Schreie ertönten von der Seite der Ulpia, deren Deck sich rapide mit zur Seite neigte. Nicht mal einen Atemzug brauchte Hortalus, lief auf die Enterbrücken zu, trotz der gefährlichen Neige und packte schnell Lucilla am Handgelenk, zog sie mit auf die Enterbrücke und auf die Ulpia hinüber. Um Ambrosius hatte sich der Römer nicht gekümmert, ein Mann mehr oder weniger schien ihn nicht zu interessieren. „Macht die Enterbrücken los!“ Was noch auf der Harpyia stehen oder gehen konnte, versuchte schnellstens noch auf die römische Triere zu kommen, einige Enterbrücken wurden von der Wucht der Harpyia mitgerissen, viele gelöst und Taue wurden gekappt. Von der Harpyia tönten verzweifelte Schrei von all jenen, die es nicht mehr geschafft hatten, darunter mischte sich auch der ängstliche Schrei einer Frau, Tetischeri floh an die Rehling und versuchte auf die Bordwand zu klettern, streckte die Hände aus, doch die Wellen trennten ohne Gnade die Schiffe auseinander.
    „Nein!“ Dardarshi wehrte sich nun gegen den Griff seiner Wärter, die ihn unter das Deck werfen wollte. „Tischeri…! Helft ihr doch…“ rief er noch laut und wollte wieder zurück zur Harpyia. Schon wurde das ehemalige Piratenschiff von einer hohen Welle gepackt, ohne Segel schaffte es den Aufstieg nicht mehr, das Schiff wurde unter der riesigen Welle begraben und riss die Unglückseligen an Bord mit in die Tiefe. „Nein…!“ flüsterte Dardarshi, Entsetzt und Ungläubig starrte er auf die Stelle, wo das Schiff verschwunden war. Einer der römischen Soldaten hielt inne und lockerte den Griff um Dardarshis Armen, dem nun Tränen über sein zernarbtes Gesicht liefen. „Rafft die Vordersegel, bringt die Gefangenen unter Deck!“ Der Sturm wütete um die Ulpia, ganz als ob die Winde und das Meer zeigen wollten: Ein Schiff war ihnen nicht genug.

  • Das Tosen des Windes ist noch schlimmer, als beim letzten Sturm, doch die Situation mag ähnlich sein. Lucilla weiß es nicht, denn beim letzten Sturm saß sie unter Deck unter einer Decke mit einer Schüssel und einem Löffel in den Händen. Heute steht sie an Deck, mitten in einem Gemetzel das Seinesgleichen sucht - zumindest in ihrem Leben - und hält ein Schwert in ihren Händen, ein schweres, römisches Schwert. Außerdem kann sich Lucilla an den letzten Sturm schon fast nicht mehr erinnern, es kommt ihr vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Auch heute kommt es ihr so vor, als wäre dies ein anderes Leben, nicht ihres, als wäre sie in ein falsches Leben hinein gerutscht, aus dem sie nur keinen Ausgang mehr findet. Wie durch einen Schleier nimmt sie den Tod um sich herum wahr und ihr Hirn weigert sich beharrlich, die Bilder, die von ihren Augen kommen, zu verarbeiten, denn andernfalls wäre sie entweder in Ohnmacht umgekippt oder endlich in den verdienten Wahnsinn gefallen. Nur den Kampf zwischen Quintus Tullius und Cluvius Hortalus nimmt Lucilla mit voller Aufmerksamkeit wahr. Jeder Stich in sein Fleisch, jede Wunde am Körper des Piratenkapitäns bringt Lucilla der Genugtuung ein Stück näher. Noch in einem Augenblick bangt sie um den römischen Kapitän, ihre größte Hoffnung auf die Rückkehr zu ihrem eigenen Leben, doch Bangen ist nicht nötig, denn sein Schwert findet seinen Weg gezielt in Tullius Schenkel. Im nächsten Augenblick dann kracht schon der Körper des Piraten auf den Boden, doch im gleichen Herzschlag durchfährt es Lucilla wie ein Blitz. Sie reißt erschrocken die Augen auf als der Römer sein Schwert zum tödlichen Stoß hebt, lässt die Waffe in ihren Händen fallen und öffnet den Mund. Mehr als ein erstickter Schrei der im Rauschen der See und des Sturmes vergeblich ist, kommt jedoch nicht aus ihrer Kehle.


    Dardashi ist es, der das Schicksal noch einmal wendet, und danach geht plötzlich alles ganz schnell. Neptun streckt seine Arme gierig nach der Harpyia aus und rüttelt ungeduldig an seinem Opfer, bis das Schiff nach- und sich dem Meeresgott hingibt. Völlig unfähig irgend eine Entscheidung zu treffen lässt sich Lucilla willenlos von dem römischen Kapitän mitreißen. Doch im Gegensatz zu Cluvius Hortalus kümmert sie sich sehr wohl um ihren Ambrosius. Noch in der gleichen Bewegung, da der Kapitän sie mit sich zieht, packt Lucilla in einem Reflex ihren neben sich stehenden Sklaven mit der freien Hand am Oberarm und zieht ihn ihrerseits ein Stück mit, bis er sich von seinem eigenen Schrecken gelöst selbst in Bewegung setzt. Im Normalfall hätte Lucilla wohl keinen Schritt auf die Enterbrücke getan, geschweige denn darüber hinüber. Doch in diesem Augenblick sind ihre Gedanken nicht wirklich bei der zu überwindenden Höhe bis zum Meeresgrund und da die Wellen immer wieder weit am Rumpf der Schiffe hinauf schlagen ist der 'Boden' auch gar nicht mehr so weit weg.


    An Bord der Ulpia bleibt auch Lucilla nichts übrig, als mit anzusehen, wie die Harpyia mit Mann und Maus von der gierigen See verschluckt wird. All die elenden, widerlichen Piraten ereilt ihr gerechtes Schicksal, trifft das Ende, das sie selbst so oft ausgeteilt haben. Trotzdem empfindet Lucilla keine Freude, keine Genugtuung, nicht einmal Gleichgültigkeit. Das ganze Leben scheint nur noch aus Tod zu bestehen, mehr Tod, als es für ein einzelnes Leben gut ist. Im gleichen Augenblick, da kein halbes stadium entfernt unzählige Menschen in den Tod gerissen werden, geht auf der Ulpia das Leben unbarmherzig weiter. Und es geht drunter und drüber. Zumindest scheint es für eine Landratte wie Lucilla so, obwohl natürlich jeder genau weiß, was er zu tun hat und in der gegenwärtigen Situtation kein Mann einen überflüssigen Handgriff tut. Lucilla jedoch ist völlig fehl am Platz, wie eigentlich fortwährend in der letzten Zeit. Da der Kapitän sie erst einmal stehen lässt um sein Schiff aus dem Sturm heraus und in Sicherheit zu bringen, lässt sie sich dort wo sie steht auf einer Kiste nieder. Sie hört die Schreie nachhallen, sie hört Tetischeris verzweifelten Ruf in ihren Ohren und sie hört die Piraten, die ihre derben Lieder singend auf den Meeresgrund hinab in den Hades fahren. Erschüttert bleibt Lucilla einfach auf der Kiste sitzen, lässt sich nicht vom Sturm stören und nicht von den römischen Seeleuten. Sie bleibt einfach nur sitzen und fängt an zu Weinen, ohne dass es irgendwer sehen könnte, denn ihr Gesicht ist von der Gischt nass, ebenso wie ihr Haar und ihr Kleid. Nur das leichte Beben ihres Körpers verrät ihre Gefühle vielleicht, doch sie kann es sich leisten zu Weinen. Sie kann sich alles leisten, denn mag das Meer noch so zornig sein, mag der Sturm die Segel zerreißen, Lucilla ist in Sicherheit und nun kann ihr nichts mehr passieren. Denn sie ist umgeben von Römern, auf einem römischen Schiff und Quintus Tullius ist am Leben.

  • Den ganzen nächsten Tag über ritt die Ulpia mit, so weit es möglich war, gerafften Segeln den Sturm ab. Immer wieder suchte das Meer die Triere zu packen und in ihre grünschwarze Fluten hinabzuziehen. Abgesehen von einigen Planken und einigen alten Fässern war von dem Piratenschiff und den Ertrunkenen nichts mehr gesehen worden. Mit eiserner Disziplin trieb Cluvius Hortalus seine Soldaten an, wie ein alexandrinische Wundermaschine, wie die des Archimedes, wirkte das Zusammenspiel der Soldaten, die kaum ein Wort über ihre Arbeit zu wechseln brauchten. Lucilla und Ambrosius hatten tief unten im Schiff eine winzige Kabine erhalten, in denen sie sich zurückziehen konnte, wohin die Gefangenen gebracht wurden, wussten nur die Soldaten auf dem Schiff. Erst am späten Nachmittag und zur beginnenden Dämmerung hatte sich der Sturm wieder gelegt, hatte die strapazierte Ulpia aus ihren Fängen entlassen und nun trieb das Schiff auf scheinbar sanften Wellen durch das salzige Nass.
    Weit, weit entfernt schien der gewaltige Sturm über das Land, Afrika zu wüten, und wirbelte solche Staubwolken auf, dass sich die Sonne hinter einem rötlichen Schleier verbarg, die klare Seeluft, vom Unwetter gereinigt, bernsteingelb und die Wellen jadegrün leuchteten. Binnen weniger Minuten würde dieselbe Sonne mit einem glorreichen purpurroten Feuerwerk versinken und die Farbe der See in ein tiefes Violett übergehen. Im Schein der blutroten Sonne fielen sanfte weiße Flocken vom Himmel, Schneeflocken und so sanft wie die Brustfedern einer blütenweißen Taube. Lautlos legten sie sich auf das dunkle Deck der Ulpia und schon nach Minuten war das Schiff mit einem feinen weißen Flaum zugedeckt.
    Unter den Stiefeln des Kapitäns knarrte leise der Schnee als er aus der Tiefe des Schiffes nach oben stieg, er humpelte leicht von dem Kampf voriger Nacht und ging somit langsam auf den Bug des Schiffes zu. Der Schnee lullte alles in eine gespenstische Stille, das Rauschen der Wellen und das Plätschern des Wassers schienen weit weg zu sein. Hortalus stellte sich an die Rehling und zog seinen festen Wollumhang zu Recht, der mit einem dicken Bärenfell gefüttert war. Seine Augen richteten sich auf die glutrote Sonne, deren Strahlen einen schwarzen Horizont erleuchtete.
    Mit zusammengepressten Lippen zog der ältliche Offizier eine feine goldene orientalische Pfeife hervor und einen kleinen schwarzen Lederbeutel. Er spürte wieder das Ziehen in seinen Knochen, das schmerzhafte Pochen an seinem Fuß und seinen Fingerknöcheln, was von der Gicht herrührte. Er seufzte schwer und stopfte langsam die Pfeife, trat zu einem der Wachlampen und zündete sich den ägyptischen Hanf an. Mit halbgeschlossenen Augen sog er an dem Gemisch aus Opion und Hanf, der ihm immer gut in den Stunden des Schmerzes half. Die Kälte um ihn herum nahm er schon nach einigen Minuten nicht mehr wahr, seine Gedanken kreisten um das Schicksal der Gefangenen und um die Frau, die jetzt unten in seiner Kabine untergebracht war. Muse sich mit ihr auseinander zu setzen hatte Hortalus noch nicht gehabt, wenngleich sie keine Gefangene an Bord war und somit die Kabine jederzeit verlassen konnte, war sie ihm noch nicht unter die Augen getreten. Der Hanf glühte rot und knisternd auf als er noch mal tief von der Pfeife sog und mit einem leisen Hauchen den Rauch aus seiner Nase und seinem Mund steigen ließ.
    Tief unten im Bauche des Schiffes wälzte sich unruhig und fiebernd ein verletzter Piratenkapitän auf nassem Stroh hin und her, die Ketten an seinen Füßen und um seine Hände spürte er kaum, war sein Geist doch von den Qualen der Wunden gefangen. Immer wieder stöhnte er leise und raunte ohne Zusammenhang Namen und Worte vor sich hin. Den Sturm hatte Tullius immer wieder in Fieberschüben, Schüttelfrostanfällen und kurzen Momenten des Bewusstseins erlebt. Ein leises Schluchzen an seiner Seite brachte ihn in dem Moment des farbenprächtigen Sonnenuntergangs wieder in die Wirklichkeit zurück. Mit einem schmerzhaften Keuchen riss er die Augen auf und sah sich im Halbdunkel um, dass nur von einer alten Messingöllampe durchbrochen wurde. Irritiert sah er sich um und zu Dardarshi, der genauso gefesselt, leise weinte.
    „Wir kommen schon weg, Darshi!“
    Kaum hörbar und krächzend raunte Tullius die Worte. Seine Augen glänzten vom Fieber und wieder erbebte er in der Kälte des nassen Strohs.
    „Ich bring ihn um…ich bring ihn um, Darshi. Er…wird kein einziges Mal die Peitsche heben können!“
    Erschöpft von den wenigen Worten sank Tullius wieder in sich zusammen. Dardarshi hob trübe den Blick und sah auf den ehemaligen Piratenkapitän herunter. „Peitsche? Ach, Amicus, Cluvius Calvaster hast Du schon getötet. Wir sind bei seinem Bruder…“ Doch Tullius hörte ihn bereits nicht mehr, erneut hatte ihn das Fieber aus der Welt entrissen.

  • Niemand hat Lucilla nach ihrem Namen gefragt, niemand hat überhaupt irgendwas gefragt. Zwischen Gischt und Sturm und der Aufforderung, sich unter Deck zu begeben, hat ein Seemann sie mit den Worten getröstet, dass sie keine Angst haben muss, dass sie keine Gefangene mehr ist. Man wollte ihr Ambrosius wegnehmen, doch Lucilla hat ihn vehement in Schutz genommen, hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass er zu ihr gehört und dass niemand ihn anzurühren hat. Außer ihr natürlich. Da der Sklave auf dem Weg zwischen den beiden Schiffen sein Schwert verloren oder fallen lassen hatte, ist für niemanden ersichtlich, ob er an Bord der Harpyia ein Gefangener war oder ein Pirat, doch an Lucillas Wort will anscheinend niemand zweifeln. Im Grunde hat auch keiner Zeit dafür, denn die Soldten sind vollauf damit beschäftigt, das Schiff aus der Gefahr zu manövrieren.


    Am Abend bringt ein junger Seemann etwas zu Essen und zu Trinken in die Kabine, doch Lucilla hat kaum Hunger und schiebt das meiste zu Ambrosius hin. Obwohl sie sehr froh ist, dass der Sklave bei ihr ist, redet sie kaum ein Wort mit ihm und hängt nur ihren Gedanken nach. Früh schon verzieht sie sich unter die Decke in die harte Koje, doch die halbe Nacht über macht sie kein Auge zu, nicht nur, weil das Schiff noch immer von den Wellen hin und hergeworfen wird wie das Blatt einer Rose in der Badewanne, wenn man mit den Händen einen kleinen Wannensturm produziert. Am folgenden Tag bleibt Lucilla lange liegen, noch immer tobt der Sturm, das karge Frühstück, welches vorbei gebracht wird, verschmäht sie. Gegen Mittag dann schält sie sich langsam aus der Decke heraus und richtet sich mit Ambrosius Hilfe einigermaßen her. Als er an ihren Haaren herumfuhrwerkt, bricht sie endlich das Schweigen. "Wenn du über die Schifffahrt so gemeckert hast, wie in meiner Nähe, dann warst du sicher ein mieser Pirat, Ambrosius. Aber ich bin wirklich froh, dass sie dich am Leben gelassen haben."


    Später dann begibt sich Lucilla, in einen dicken Wollmantel gehüllt, an Deck und fragt sich zum Kapitän des Schiffes durch. "Cluvius Hortalus?" Am Vortag, in den Kampf mit Tullius verwickelt, hatte der Kapitän einen viel jüngeren Eindruck gemacht. Heute sieht er eher aus wie ein gebrochener Mann, obwohl seine Haltung die eines aufrechten, römischen Soldaten ist. "Mein Name ist Decima Lucilla, ich möchte dir dafür danken, dass du mich von Bord dieses Schiffes geholt hast. Ich werde dafür sorgen, dass man deinen Namen in Rom zu würdigen weiß, mein Bruder ist Senator Decimus Meridius und mein Verlobter Senator Germanicus Avarus." Eine kurze Pause, dann fährt sie zögernd fort. "Was ist ... was wird mit den Gefangenen geschehen?"


    Beim Gedanken an Tullius zieht es Lucilla das Herz zusammen. Am liebsten würde sie sich wünschen, dass er im tiesten Kerkerloch verrecken möge, doch ganz so einfach ist es nicht, denn im gleichen Herzschlag bangt sie um sein Leben. Dieses Bangen ist es auch, das ihr die nächsten Worte aus dem Mund sprudeln lässt. "Der Piratenkapitän, Quintus Tullius ... er ... du musst dafür sorgen, dass er am Leben bleibt. Das ist ... das ist unglaublich wichtig." Sie schaut Hortalus aus großen, verzweifelten Augen an. "Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er überfiel mit seinen Männern das Schiff, auf dem ich nach Rom reisen wollte, er stand plötzlich in der Tür der Kabine und sah aus, als würde er direkt aus dem Hades kommen. Ich dachte, er will mich umbringen, und ich bin sicher, er wollte das auch tun. Wenn ich schon sterben musste, dann sollte er dafür leiden müssen, dann sollte er ebenfalls samt seines ganzen Schiffes untergehen. Ich ... also ... ich habe einen Fluch auf ihn gesprochen ... einen ... naja ... ziemlich starken Fluch ... ich habe mein Leben mit seinem verknüpft, sein Leben von meinem abhängig gemacht." Die ganze Sache macht Lucilla doch ein bisschen verlegen. Natürlich sprechen römische Frauen ständig Flüche, gegen unliebsame Konkurrentinnen, gegen die politischen Feinde ihrer Ehemänner oder gegen den Händler, der den Stoff partout nicht günstiger verkaufen will. Aber dabei geht es eher darum, dass jemand einen Tag lang nicht von der Latrine kommt, dass ein Mann einen Monat lang nicht seine Frau beglücken kann, oder dass sich eine hässliche Warze auf der Nase bildet. Außerdem redet man auch nicht darüber.


    "Wie du siehst, war ich durchaus erfolgreich, immerhin lebe ich noch. Allerdings ... also ... ich weiß nicht, ob das ganze auch im umgekehrten Fall wirkt. Ehrlich gesagt, ich bin damit etwas überfordert. Ich habe auch keinen blassen Schimmer, wie man so einen Fluch wieder lösen kann." Sie schaut Hortalus verzweifelt an. "Ich habe soetwas schließlich noch nie getan. Deswegen muss er am Leben bleiben. Denn wenn er ... dann ... ich habe Angst, dass ich dann ebenfalls ... verstehst du?" Lucilla ist nicht dazu in der Lage, den Satz zu Ende zu sprechen, nicht, nachdem sie sich schon in Sicherheit, in Rom sieht. Und auch nicht, nachdem sie nun endlich aus Tullius Gewalt befreit ist, ihr Leben jedoch trotzdem von ihm abhängt. Wie sie diesen Mann nur hasst.

  • Sanft legten sich die weißen Schneeflocken auf den dunklen Mantel des Trierarchius, schmolzen binnen kurzem hinweg und kleine Wassertropfen perlten an dem schwarzen Stoff ab. Ein goldener Equesring blitzte im Schein des farbenprächtigen Sonnenuntergangs auf als Hortalus seine Opionpfeife absetzte und nochmalig einen Schwall von Würzigduftenden Rauch ausstieß. Ruhig und scheinbar abwesend betrachtete er die Facetten von den Tiefpurpur bis zu den Pastellorangen Strahlen der Sonnenscheibe. Seine Zähne klackten leise auf dem Metall der Pfeife, er sog einen Zug tief in seinen Mund hinein, unter seinen Füßen rauschte das Meer, das Holz knarrte leise und stetig trieb das Schiff durch die ruhige See, die sich von ihrer lieblicheren Seite zeigen wollte als noch in der vergangenen Nacht. Schweigend sah er über das Meer und zeigte keine Reaktion, ob er Lucilla Worte vernommen hatte oder etwas darauf erwidern wollte. Schließlich sank doch die Pfeife herunter und seine graublauen Augen richteten sich kühl auf Lucilla. Einige Atemzüge lang musterte der ältliche Mann, dessen Schläfen und Augenbrauen graumeliert waren und sein Gesicht von Falten und dem Alter gezeichnet waren, Lucilla. Erst dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem andeutungsweisen Lächeln. „Es war mir eine innere Genugtuung, diese Meuterer und Mörder endlich zu fassen. Dass Deine Rettung dabei erfolgte, ist eine glückliche Fügung der Götter gewesen, Decima.“
    Kleine Grübchen bildeten sich an seinen Wangen als seine Mundwinkel stärker zuckten, seine Augen wanderten zurück zu dem Farbenmeer und der immer dunkler werdenden See. „Meine Amme pflegte mir stets von allerlei schauerlichen Geschichten zu erzählen. Einst erzählte sie mir von dem Schicksal eines Mannes, der den Tod seines Blutsverwandten nicht zu rächen vermochte. Die Furien ereilten ihn und verhängten die Strafe des Wahnsinns über ihn, verfluchten ihn für seine mangelnde Loyalität gegenüber seiner Familie. Deine Forderung stellt mich vor eine schwierigen Wahl!“
    Er verstummte und sog nochmalig von seiner goldenen Pfeife, spielerisch ließ er den Rauch in kleinen Kringeln aus seinem Mund entweichen und seufzte leise. „Töte ich ihn nicht, so könnten die Furien mich bestrafen. Immerhin ist der Meuterer dort unten der Mörder meines Bruders. Töte ich ihn doch, dann wird Dich ein Fluch ereilen, den Du selbst scheinbar ausgesprochen hast, Decima!“
    Mit einer herrischen Geste winkte er einen Römer heran, der einige Fuß entfernt stand und von der Unterhaltung scheinbar nichts mitbekam. „Setz den Kurs nördlicher, wir wollen doch nicht an die Küste Afrikas stoßen. Und schick mir den Zimmermann nach oben, ich will unverzüglich den Bericht über die Schäden erhalten!“ Der Soldat nickte eifrig, salutierte und warf Lucilla nur einen schnellen neugierigen Blick zu ehe er aus der Sicht verschwand.
    „Wir könnten uns natürlich auch darauf einigen, dass wohl beide schlimme Szenarien niemals eintreffen werden. Kein Fluch würde uns ereilen und wir täten das, was unsere Pflicht als Römer wäre. Die Welt von einem bösen Mann befreien, der Menschen ermordet hat und es weiter tun würde.“
    Mit einem entschlossenen Klacken schlug er die Pfeife gegen die Rehling und leerte das feine silbergoldene Pfeifenköpfchen von den Resten der Hanfopionmischung, die in die See fiel und von ihr verschluckt wurde.
    „Die Meuterer und Piraten werden, sobald wir die italische Küste erreichen, an Land gekreuzigt werden. Und eigentlich hatte ich vor, dem Meuterer und Mörder alle Glieder vorher zertrümmern zu lassen. Als Sühne für seine schrecklichen Taten soll er einen genauso schrecklichen Tod erleben.“
    Das Ziehen an seinem Fuß und das grausame Stechen, was ihn manchmal in wütende Tobsuchtsanfälle trieb, war schon fast verklungen. Eine angenehme Leichtigkeit breitete sich in dem Trierarchius aus und er lächelte nun deutlich milder und seine schmalen Lippen entspannten sich. „Möchtest Du uns bis zum Stützpunkt in Ravenna begleiten oder sollen wir Dich an der süditalischen Küste absetzen, Decima?“
    Eisig wehte der Wind über das Deck, Mit einer Hand löste der Trierarchius die Fibel seines Umhanges und zog ihn von seiner Schulter, darunter kam die eine dunkelblaue, wollene Tunica zum Vorschein. Stumm legte Hortalus Lucilla den warmen und schweren Umhang um die Schultern. Sanft schaukelnd glitt die Ulpia weiter durch die mittlerweile violette See und folgte dem glutroten Sonnenball, der beinahe vom Horizont verschluckt war und nur noch mit einem letzten Blinzeln auf die kleine Triere in der Weite des Mittelmeers hinabspähte. Der erste Stern erschien am Himmel, der Abendstern.

  • Es ging alles ziemlich schnell. Im nachhinein betrachtet kann ich mich kaum mehr erinnern, was genau passierte. Ich hatte irgendwie einen Schlag auf den Kopf bekommen, von dem mir noch am nächsten Tag der Schädel brummte, und dabei das Schwert und für einige Momente auch das Bewusstsein verloren. Irgendwann war alles vorbei und ehe ich es mich versah, war ich auch schon auf dem anderen Schiff. Der Schmerz in meinem Kopf, das Pochen übertönte alles, so sehr, dass ich zuerst gar nicht gemerkt habe, was auf dem anderen Schiff geschah. Erst später realisierte ich das ganze Geschehen... und ich weiß bis heute nicht, ob ich in diesem Moment froh war, endlich vom Piratenschiff weg zu sein, oder ob ich um jene trauerte, die ich dort liebgewonnen hatte. In diesem Moment stand ich einfach nur wie dumm auf Deck herum, hielt mich fest, weil der Sturm noch immer tobte und sonst schaute ich nur den anderen zu. Als zwei Soldaten auf mich zugingen und mich gefangennehmen wollten, hätte ich keinen Widerstand geleistet, doch das energische Einschreiten von Lucilla verhinderte dies. Ich habe nicht so genau verstanden, was sie gerufen hatte, weil der Sturm einfach viel zu stark war, aber es war wohl beeindruckend, denn die Soldaten zuckten nur mit den Schultern und liessen mich in Ruhe. Nach einiger Zeit haben wir dann ein Zimmer bekommen, oder eine Kajüte oder wie man so einen Abstellraum auf Schiff auch immer bezeichnen mag. Es war dunkel, ich hatte keine Ahnung, wann dieser Raum das letzte Mal gesäubert wurde, aber es war mir egal. Ich ließ mich einfach fallen, ich war erschöpft und fertig und wollte nur endlich festen Boden unter den Füßen und die warme Sonne über mir. Doch die Erlösung in Form von Schlaf ereilte mir nicht, dafür war die See einfach zu unruhig, vielmehr lag ich nur da und tat ... nichts. Das erste Mal seit langer Zeit lag ich einfach nur so da. Bei den Piraten war ständig etwas zu tun, erst recht für mich als den damals neuesten Zugang, die wurden ja immer am meisten herumgeschickt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ein anderer Neuer aufs Schiff kam.


    Die Stimmung zwischen meiner Herrin und mir war merkwürdig und fremd. Vor der Entführung haben wir ständig miteinander geredet, mehr getratscht, gelacht und ab und an auch gestritten, wenn sie wieder schlimmste Farbkombinationen anziehen wollte. Ruhig war es nie gewesen. Doch dieses Mal war es ganz anders. Nicht nur sie wollte nicht reden, auch ich hatte kaum Lust, meinen Mund aufzumachen. Wir beide lagen einfach nur so da, in diesem kleinen dunklen Raum. Selbst wenn ich hätte reden wollen, mir wäre kein Thema eingefallen, über das wir hätten sprechen können. Es war merkwürdig, aber wir waren auf demselben Schiff, die ganze Zeit, und haben doch Situationen erlebt, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten.


    Der nächste Tag begann so, wie der vorige geendet hatte. Der Sturm hatte sich noch vor der Nacht gelegt, die See war ruhig, den Göttern sei Dank. Wir sprachen noch immer kaum ein Wort zueinander, aber ich war unruhig geworden. Meine Muskeln wollten wieder betätigt werden, also stand ich auf und streckte mich und machte ein paar Übungen. Dann bewegte sich auch meine Herrin und jetzt nahm ich mir Zeit, sie mir einmal näher anzusehen. Jedesmal, wenn ich mich daran erinnere, muss ich seufzen, so muss sich ein Baumeister fühlen, dessen Bauwerk sich durch ein Erdbeben in eine Ruine verwandelte. Nicht, dass sie jetzt hässlich war, nein, das nicht, aber aus ihrem Gesicht war jeglicher Glanz verschwunden. Aber ich konnte nichts tun, ich hatte ja nichts hier, nicht einmal einen Kamm. Notdürftig mit den Fingern strich ich ihr durch die Haare, versuchte, sie nicht ganz so struwwelig aussehen zu lassen. Als sie dann doch zu mir sprach, erwiderte ich nichts. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Später begleitete ich sie an Deck, ich brauchte Frischluft.

  • Nach Hortalus fällt nun Lucilla ersteinmal in Schweigen. Nicht, dass die Situation in den letzten Tagen je einfach gewesen wäre, doch trotz der Rückkehr zu ihrem Leben im geliebten römischen Imperium scheint alles nur noch komplizierter zu werden. Nicht Lucilla hat den Fluch gewirkt, da ist sie langsam sicher, nein Quintus Tullius ist der Fluch, und nun haftet er ihr an.


    Als Cluvius Hortalus von seinem Bruder spricht, zieht es Lucilla das Herz zusammen. Sie kann ihn gut verstehen, viel zu gut, auch sie hatte dem Mörder ihres Onkels und den Feinden ihrer Soldaten den Tod gewünscht. Doch gleichzeitig überkommt Lucilla ein furchtbares Gefühl der Schwere und Schuld. Der weiche, warme Mantel des Seemannes scheint mit jeder Schneeflocke, die sich darauf nieder lässt, schwerer und schwerer auf ihren Schultern zu lasten. Lucilla dreht sich zur See hin und stütz sich auf der Rehling ab, schließt einen Moment lang die Augen und atmet tief die frische, Sinne klärende Seeluft ein. Wer weiß schon, wie Hortalus Bruder ums Leben kam und wer ihn wirklich getötet hat. Vielleicht war es Quintus Tullius. Doch vielleicht war es auch eine Römerin, eine, die Quintus Tullius danach aus welchen Gründen auch immer geküsst hat. Vielleicht hieß sie Lucilla, immerhin gibt es sicherlich viele Lucillae im Imperium Romanum. Quintus Tullius würde am Kreuz hängen, keine Frage, er hat es verdient, doch was ist mit jener Lucilla, die die Schuld am Tod eines Römers trägt? Sollte sie nicht eigentlich auch hängen? Was nützt es ihr, sich von Quintus Tullius zu befreien, wenn sie danach vielleicht eh der Fluch der Schwester des toten Römers treffen und richten würde?


    "Vergeltung ist ein furchtbarer Fluch. Sie ist beinahe so schlimm wie Quintus Tullius." Langsam öffnet Lucilla die Augen und starrt hinaus auf das dunkle, doch nun wieder so friedliche Mare Internum. Die feinen Schneeflocken, die aus dem Himmel herabtanzen, rieseln auf das Wasser hinab und hören in dem Moment auf zu existieren, in dem sie die Oberfläche berühren. Nein, sie hören nicht auf zu existieren, sie werden nur Teil eines größeren Ganzen. "Mein Fluch ist Quintus Tullius, mein Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Wenn du ihn kreuzigst, dann wird es mir eine Freude sein, dir die Nägel zu reichen." Sie dreht sich vom Meer fort und blickt den Kapitän an. "Doch bitte, gibt mir zuvor die Gelegenheit, dieses Band zu lösen. Ich bin sicher, dass es irgend eine Möglichkeit gibt, den Fluch aufzuheben. Mit einem Ersatzopfer für die Götter oder etwas in dieser Art. Ich muss nur irgendwen fragen, der sich damit auskennt, einen Haruspex oder Pontifex. Wenn du ihn so lange nur am Leben lassen kannst?"


    Lucilla ist sich nicht sicher, wie viel sie von Hortalus verlangen kann. Natürlich sind in ihrer Vorstellung alle römischen Soldaten ehrenhaft, allerdings muss man immer vorsichtig sein, wenn Vergeltung im Spiel ist. Doch zumindest scheint er keiner von diesen Menschen zu sein, die die Götter nicht mehr ehren. Sie ruft sich die Karten des Cursus Publicus in Erinnerung. Ravenna, Italia, das klingt wie Musik in ihren Ohren. Doch wenn das Schiff irgendwo vor der africanischen Küste segelt, dann wäre dies noch ein weiter Weg. "Welche Route wirst du bis Italia nehmen? Wo genau sind wir überhaupt?" Sie blickt zum blutroten Himmel hinauf. Eigentlich will Lucilla nur so schnell wie möglich zurück nach Rom.

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