Umgeben von hohen Regalen, gefüllt mit Pergamenten und Papyri, saß Leontia an einem schweren Schreibtisch, und studierte schon seit Stunden eifrig das ‚Gastmahl des Kallias’ von Xenophon. Das Kinn in die Hand gestützt, die Augen vor Konzentration leicht zusammengekniffen, war sie gerade in den Redewettstreit vertieft, in dem die Gäste darum wetteiferten, welche ihrer Eigenschaften wohl am löblichsten zu nennen war. Hin und wieder machte sie sich kleine Notizen auf einem Wachstäfelchen, sah dann nachdenklich auf, und ihre schlanken Finger spielten an ihrem silbernen Ohrgehänge, ließen die kleinen Mondstein-Anhänger leise gegeneinander klimpern.
Sonst war es sehr still in dem großen Raum. Nur die Feder des Bibliothekars, eines verwitterten alten Sklaven namens Mago, der am einem Schreibpult vor dem Fenster ein Werk kopierte, glitt stetig über das Pergament, und erfüllte den Raum mit einem leisen und beruhigenden Schaben. Breite Fenster ließen auch an diesem eher trüben Tag ausreichend Licht ein, um den halbrunden Raum ganz zu erhellen. Ein klares Muster von glänzendem schwarzem und weißem Marmor zierte den Boden und setzte sich als Fries an den Wänden fort, dort prangte auch eine große Landkarte des Imperiums und seiner Grenzgebiete. Daneben standen eine Büste des Homer, sowie eine des Herodot.
Leontia liebte diese ruhige Atmosphäre, diese Aura des Geistes und der edlen Wissenschaften, die, völlig losgelöst von den banalen und profanen Begebenheiten des Alltags, dazu einlud, die Gedanken in kühne Höhen schweifen zu lassen. Allerdings erreichte sie heute nicht ganz jenes Stadium hochgemuter Kontemplation… - denn etwas irritierte sie: wieder und wieder stolperte sie in dem Werk, inmitten der geistreichen Wortgefechte, amüsanten Sottisen und klangvollen Formulierungen, über unverhohlene, geradezu derbe Anspielungen auf … nun ja, auf die Liebe zu den schönen Knaben. Und ganz eindeutig war hier nicht die Rede vom Hohen Eros.
Natürlich war Leontia bei ihren Studien der großen griechischen Philosophen bereits des öfteren diesem Thema begegnet, aber doch eher in verklärter und vergeistigter Form - niemals so direkt präsentiert. Worüber sie im 'Phaidros', diesem ergreifenden Hohelied der Schönheit noch mit Leichtigkeit hatte hinwegsehen können – hier sprang es ihr förmlich ins Auge, erregte mehr und mehr ihr Missfallen. Und auch die Darstellung des Sokrates widerstrebte ihr, er war hier reichlich mit menschlichen Schwächen versehen skizziert, trug bisweilen sogar silenenhafte Züge!
Sie las:
Das mag gut seyn, sagte Charmides. Aber du, Syrakusier, worauf thust du dir wohl am Meisten zu Gut? Vermuthlich auf deinen schönen Knaben hier? –
Nein, bey Gott nicht! war seine Antwort; ich bin vielmehr seinetwegen immer in großen Aengsten; denn ich habe bereits ihrer Mehrere ausgespürt, die ihm nachstellen und ihn zu Grunde richten möchten.
Großer Gott! sagte Sokrates, der dies gehört hatte, was für eine schwere Beleidigung können sie von dem Knaben erlitten haben, daß sie ihn umbringen wollen?
Sie wollen ihn auch nicht umbringen, sie wollen ihn nur verführen bey ihnen zu schlafen.
Und du glaubst, wenn dies geschähe, würd' es ihn zu Grunde richten?
Beym Jupiter ganz und gar!
Du selbst schläfst also nicht bey ihm?
Ja wohl, zum Jupiter! alle Nächte, ohne daß er je von meiner Seite kommt.
Da hast du wahrlich dich eines besondern Vorzugs zu rühmen, wenn deine Haut die Eigenschaft hat, daß du allein deinem Schlafgesellen keinen Schaden zufügst! Wenn auch auf nichts anders, kannst du wenigstens auf ein solches Fell stolz seyn.
Also nein! Leontia schob die Schriftrolle beiseite, spürte die Hitze in ihre Wangen steigen. Diese … Zote verletzte ganz entschieden ihren Sinn für Anstand und Moral. Warum hatte Manius ihr denn nur dieses Werk geschenkt? Wie konnte sie denn die Weisheiten von Männern hochschätzen, deren Lebenswandel offenbar ein höchst liederlicher gewesen war? Unbedingt mußte sie ihren Vetter dazu befragen, sicher würde er ihr mit seinem klugen Rat ganz andere Dimensionen des Textes eröffnet, und sie zu einer befriedigenden und erhellenden Interpretation des Werkes anleiten. Allerdings wollte sie ihn dann auch wieder nicht mit dummen Fragen behelligen… sich vielleicht blamieren… - was tun?
Grübelnd saß Leontia über das Werk gebeugt, und versuchte ausdauernd und verbissen, sich den tieferen Sinn, der dieser Darstellung der Verworfenheit ganz sicher zugrunde liegen musste, zu erschließen…