Cubiculum der Claudia Aureliana Deandra

  • Zwei Wochen waren vergangen. Zwei Wochen, in denen sich die Dokumente und Wachtafeln auf meinem Schreibtisch angehäuft hatten. Zwei Wochen, in denen ich kaum etwas anderes getan hatte, als mich in Arbeit zu stürzen. Zwei Wochen, in denen ich versuchte, etwas aus meiner Brust zu verdrängen, das ich nicht dort wissen wollte. Eifersucht. Sorge. Ärger. Und sehr oft, wenn ich gerade nichts tat und entspannen wollte, tauchte Deandra vor meinem inneren Auge auf, wie sie an jenem Tag der Erkenntnis auf ihrem Bett saß, umgeben von halb gepackten Kisten und Truhen und im Begriff aufzuziehen. Ich fühlte mich immer novh verletzt, doch seit ihrem endgültigen Fortgang aus der villa Aurelia war noch etwas anderes hinzugekommen. Ein Gefühl, das mir durchaus nicht unbekannt war, und doch beim Gedanken an Deandra so fremd wie nur irgendmöglich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Zwei Wochen hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Man konnte sagen, was man wollte, sie fehlte mir schrecklich in der Kühle der entsetzlich leeren villa. Natürlich waren die Sklaven da, doch sonst niemand. Vater lief man gelegentlich über den Weg, Mutter sah ich nie, Corus war nicht zu Hause, Sophus in Rom. Führte ich mir dies vor Augen, wurde mir wieder bewusst, wie allein ich war ohne sie. Ohne Deandra. Ich hatte gewiss versucht, mich abzulenken, in jeder Art und Weise, in der man einen Manne ablenken konnte, aber es half nichts.


    So kam ich an diesem Morgen zur Erkenntnis, dass es an der Zeit war, das Stillschweigen zu brechen, mein selbstgewähltes und vermutlich auch selbstverschuldetes Exil aufzugeben und die villa Claudia aufzusuchen, in der hoffentlich Deandra anzutreffen war. Vielleicht ließen sich auch ein oder zwei Worte mit ihrer hübschen Schwester wechseln, aber der Grund, aus dem ich herkam, war... Nunja, ein Vorwand, um ehrlich zu mir selbst zu sein. Unter dem Arm Trautwinis befand sich ein willkürlich gegriffenes Dokument an irgendjemanden. Es war auch vollkommen gleich, an wen es gerichtet war. Ein Vorwand brauchte keine Begründung für seine Existenz zu haben, er war da, um eben das zu sein, was er war. Trautwini klopfte an der Porta, man öffnete und bat uns herein, immerhin kannte man mich hier bereits. Ich äußerte den Wunsch, dass man mich zu Deandra bringen möge, welcher auch umgehend gewährt wurde. An der Tür zu ihrem Zimmer bedeutete mir die Sklavin zu warten, was ich ungeduldig tat. Das Dokument hatte indes den Träger gewechselt und ruhte nun unter meinem Arm, Trautwini wartete unten in der Haupthalle, bis ich hier fertig war. Hoffentlich kam die Sklavin bald wieder aus Deandras Zimmer. Ich war recht nervös.


    edit: Thementitel

  • Als die Sklavin mein Zimmer betrat, zuckte ich zusammen. Gleichzeitig runzelte ich über mich selbst verärgert die Brauen. Meine Schreckhaftigkeit, verbunden mit einem schlechten Gewissen, kam sicherlich von den geheim gehaltenen Nachforschungen. Jenes Thema war mir in den Kopf gestiegen, hielt mich in Atem, sowohl am Tag als auch in der Nacht.


    „Mein Bruder, ähem … Corvinus sagst du? Und er steht bereits vor der Tür?“, fragte ich über die Schulter hinweg und höchst verwundert. Nicht etwa, weil ich überrascht war, dass mich Corvi besuchte, wohl aber weil er gerade in einem Moment eintraf, in dem ich aufgewühlt und abgelenkt war.
    Unbewusst heftig schob ich die Schublade zu und stellte mich demonstrativ vor die Kommode – die Hände rechts und links abgestützt, die Arme ähnelten Schranken. Während der Kopf voll aufregender Gedanken war, versuchte ich krampfhaft zu entscheiden, wie ich ihm gegenübertreten sollte – war doch bereits unsere letzte Unterredung kompliziert gewesen und zudem stand die in meinem Kopf spukende Thematik auch damals zur Diskussion.


    Schließlich hatte ich einen Einfall. Ich schnappte mir ein zu dekorativen Zwecken herumstehendes Buch – keine Ahnung, welchen Inhalts es war – nahm Anlauf und sprang auf mein Bett. Mit einem Plumps ließ ich mich fallen, ordnete flüchtig die Tunika, klappte das Buch auf und erteilte eine Anweisung:


    „Bitte ihn herein und schließe die Tür von außen.“ Sodann richtete ich den Blick auf die Zeilen, deren Bedeutung mir nicht klar wurde, weil ich sie nicht las.

  • Kaum war die Sklavin Deandras Zimmer entschlüpft und teilte mir mit, dass Deandra Besuch empfangen würde, schob ich die Tür wieder auf und trat ein. Hinter mir schloss ich sie und blickte zu der kleinen Sitzecke hinüber. Dort standen eine amphora und eine stattliche Obstschale. Keine Deandra. Ein Rascheln erklang und ich wandte den Kopf zur Seite. Sie lag auf dem Bett und schien in ein Buch vertieft. Erst beim Näherkommen sah ich, dass sie es verkehrt herum hielt. Mit einem flüchtigen Schmunzeln auf den Lippen legte ich meinen Entwurf auf den Nachtspint und setzte mich auf das letzte Drittel des Bettes, Deandra anblickend.


    "Was liest du da, Deandra?" fragte ich sie leise und ohne sie richtig zu begrüßen. Meine Hände waren locker gefaltet und die Ellbogen ruhten auf meinen Oberschenkeln, wodurch ich leicht vorgebeut saß und den Kopf in Richtung der hübschen Dame auf dem Bett gedreht hatte. Und sie war wirklich hübsch. Ein Maler hätte vermutlich gejauchzt und sogleich Staffelei und Pinsel hervorgeholt, um dieses Bild für die Ewigkeit festzuhalten. Der verkehrt herum gehaltene, schwere Lederband wäre ein belustigender Akzent gewesen.

  • Ich wusste nicht zu sagen, wie oft ich diesen Satz nun schon begonnen hatte, aber was da stand, ging einfach nicht in den Kopf. Kein Wunder, wenn man vielmehr beobachtet, was der soeben gemeldete Besucher gerade tut. Die Augen wanderten haarscharf über dem oberen Rand des Einbandes hinweg und registrierten jede Bewegung. Als sich Corvi dem Bett zuwandte, senkte ich hastig den Blick. Früher hätte ich einfach „Grüß dich!“ oder „Salve!“ gesagt. Seit kurzem war vieles anders geworden. Nicht einmal, als er sich setzte, hielt ich seinem Blick stand, sondern sah nur flüchtig auf.


    „Ähem … was ich lese?“ Ich versuchte Zeit zu schinden, weil ich ja nicht wusste, welchen Band ich in den Händen hielt. Warum musste er mich das auch fragen? Und warum auch noch so leise? Das verstärkte die Anspannung noch, unter der ich stand. Wie, zum Hades, bekam ich aber erst einmal den Buchtitel heraus, ohne auf die erste Seite oder den Einband zu schauen?


    „Och, das ist nichts für Männer deines Alters“, versuchte ich abzuwiegeln, bemerkte erst jetzt, dass die Seitenzahl auf dem Kopf stand und schlug das Buch zu. Es dauerte keine Sekunde, bis diese peinliche Feststellung mir das Blut in die Wangen trieb. Der empfunden Hitze nach zu urteilen, müsste ich ziemlich rot geworden sein. Niemals bei so etwas Schwäche zeigen, sondern forsch durch Blickkontakt auf Angriff gehen. So konnte nie jemand auf die Idee kommen, er hätte mich trotz der Peinlichkeit in die Enge getrieben. Also lächelte ich Corvi tapfer an.


    „Du wolltest mich besuchen?“ Konnte man eigentlich noch nutzlosere Fragen stellen? Am besten seine Hände in Augenschein nehmen, sonst kam ich nie von dieser ungesunden Gesichtsfarbe weg.

  • Meines Erachtens nach war die Frage nicht schwer oder gar zweideutig formuliert gewesen, sondern klar und unmissverständlich. Daher war es auch eher eindeutig für mich, was sie mit ihrer Nachfrage beabsichtigte. So schenkte ich ihr nur einen zweifelhaften Blick und schmunzelte anschließend, als sie behauptete, das Buch sei nichts für mich.


    "Ah. Na wenn das so ist... Vielleicht hättest du den Inhalt eher ergründen können, hättest du es richtig herum gehalten, aber vermutlich hast du ein Abbild betrachtet und wolltest es nur aus einem anderen Blickwinkel ansehen", sagte ich mit leicht spottendem Unterton in der Stimme. Ihr Erröten zeigte mir, dass die Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten, und ich lachte kurz und lehnte mich zurück. Eine Hand lag nun nahe Deandras schlankem Knöchel, an welchem das Abbild eines kleinen, elfenbeinfarbenen Halbmondes zum Zeichen unseres Standes baumelte. Ich sah darauf hinab, er übte eine ungeahnte Faszination auf mich aus, sodass ich nicht umhin kam, die Hand wieder zu heben und die Konturen des kleinen, schmuckvollen Standesabzeichen mit dem Zeigefinger nachzufahren. Wie durch Nebel drangen Deandras Worte in meinen gedankenlosen Verstand ein.


    "Eh, ja. Genau."
    Ich ließ die Hand wieder auf die weiche Unterlage sinken und blickte sie an. Ihr Gesicht war immer noch gerötet, die Nervosität war ihr deutlich anzusehen. Meine verbarg ich so gut ich konnte.


    "Richtig. Ich wollte dich fragen..." Ich dachte an das Dokument auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett und konnte mich einfach nicht entsinnen, von welchem Stapel ich es genommen hatte. Was darauf stand, wusste ich auch nicht mehr. Seltsam. Alle Gedanken schienen wie fortgeweht, nun, da ich hier war. Ich schloss die Augen und suchte in der Dunkelheit nach einem Gedanken. Schließlich fand ich ihn, öffnete die Augen und formulierte ihn.


    "...wie es dir geht. Ich habe schon seit einer Weile nichts mehr von dir gehört, und, nun ja, ich habe mir Sorgen gemacht, dass es dir vielleicht nicht gut geht", beendete ich den Satz recht ungelenk. Eigentlich hatte ich an kaum etwas anderes denken können als an sie, aber das musste ich ihr schließlich nicht jetzt anvertrauen. Vielleicht später einmal, wenn sie ihren Verehrer geheiratet und Kinder hatte. Ja richtig, dann wäre es an der Zeit. Oder wenn ich selbst ein Eheweib gefunden hatte, das eine Bereicherung der gens und eine Verschönerung meines eigenen Daseins darstellte. Dann.

  • Zitat

    Original von Marcus Aurelius Corvinus
    "Vielleicht hättest du den Inhalt eher ergründen können, hättest du es richtig herum gehalten, aber vermutlich hast du ein Abbild betrachtet und wolltest es nur aus einem anderen Blickwinkel ansehen" ...


    Ich mochte es nicht, wenn er mich verspottete, daher antwortete ich mit Überzeugungskraft in der Stimme: „Genauso verhält es sich.“ Zur Unterstreichung nickte ich noch, musste aber einen Augenblick später doch schmunzeln, weil er mich ja beim Flunkern ertappt hatte. Es war unvorteilhaft, wenn man, wie ich, so leicht durchschaubar war.


    Aber nicht einmal im Anschluss an diese peinliche Szene gab er mir die Chance, mich von meiner Verlegenheit erholen zu können, sondern tastete meinen kleinen Halbmond ab. Die Tatsache an sich war keineswegs schlimm, aber WIE er es tat … Ich zog die Luft ein und hielt sie für Momente an.
    Verhält sich so ein Bruder? Vielleicht ja ein Ex-Bruder? Bestimmt sogar! Oder doch eher ein Mann mit romantischen Gedanken? So durcheinander, wie mein Verhältnis zu Corvinus war, so drunter und drüber ging es in meinem Kopf. Ich sortierte vergeblich, wusste am Ende nicht einmal mehr, was in welcher Form angebracht war und was verwundern musste. Auf meinen Verstand konnte ich also nicht zurückgreifen, während mein Blick den Bewegungen seines Fingers folgte. Und mit den Gefühlen konnte ich noch viel weniger anfangen. Hätte ich geahnt, welche Folgen die Adoption haben würde, ich wäre sie weniger mutig angegangen. Corvi wurde für mich immer undurchsichtiger, fremder – nah und doch gleichzeitig unnahbar.


    Seinen Erklärungen, warum er mich aufgesucht hatte, versuchte ich zu folgen, aber viel verstand ich nicht. Er klang nicht überzeugend. Vielleicht hatte er mir ja etwas zu offenbaren, allerdings seinem Verhalten nach zu urteilen, musste es eine schlechte Nachricht sein. Fragend suchte mein Blick sein Gesicht ab, konnte dort aber keine Antwort finden.


    Ich gab mir einen Ruck und rutschte Richtung Fußende – in seine Nähe. Mit dem einen Arm das Gewicht haltend, den anderen auf die angezogenen Beine gelegt, hielt sich mein Blick an seinen Knien fest, nur um ihn bei den folgenden Worten nicht anschauen zu müssen.


    „Corvi …, hast du mich noch genauso lieb wie vor der Adoption?“

  • Hatte ich sie eben noch mit jenem Ausdruck angesehen, der interessiert und bedauernd zugleich erschien, fiel mir eben jener Ausdruck nun vom Antlitz ab und machte der reinen Verwirrung Platz. Ich hätte damit gerechnet, dass sie gut ohne mich auskam, dass es ihr nichts ausmachte, mich nicht mehr so oft wie sonst zu sehen oder sogar, dass es ihr schlecht ging und sie ein seelisches Leiden gleich welcher Art hatte, aber diese Frage war etwas, mit dem ich weniger als gar nicht gerechnet hatte. Die Verwirrung wich zugunsten eines unsichern wie einnehmenden Lächelns, das allerdings nicht lange von Bestand war. Zurück blieb ein leicht melancholischer Ausdruck, mit dem ich Deandra nun bedachte, da sie näher an mich herangerückt war. Ich bemerkte wohl, dass sie mich nicht ansah. Mir fiel bei der näheren Betrachtung ihres Gesichts die Farbe auf ihren Lidern auf, zum ersten Mal. Auch die Wangen waren bedeckt von der Farbe eines Pfirsichs, der gerade reif geworden war, die Lippen schienen -


    Ich blinzelte erschrocken und sah weg, irgendwo in den Raum hinein. Mein Blick fand Halt an der glatten, kalten Oberfläche eines Kosmetikspiegels, der nicht weit entfernt aufgebaut war. Mein Spiegelbild blickte mich an und ich erkannte, dass es in einer Zwickmühle steckte. Auf Antwort auf ihre Frage musste Deandra noch einen Moment warten. Zuerst fuhr ich mir durchs Haar und übers Gesicht, dann wandte ich den Kopf und griff nach einer ihrer Hände, um sie locker in meiner kalten Hand zu bergen. Mein Blick spiegelte große Zuneigung wieder, gleichzeitig wirkte ich gefasst. Ich mochte Gefühlsduselei eigentlich nicht, aus dem einfachen Grund heraus, dass sie mir nicht lag.


    "Deandra", begann ich in leicht tadelndem Tonfall.
    "Wieso sollte ich das denn nicht tun? Dafür gibt es doch gar keinen Grund."


    Was tun? Um eine klare Antwort hatte ich mich ja bereits gedrückt. Ob mit Erfolg oder nicht, galt es abzuwarten. Vorerst aber schob ich meinen freien Arm um ihre Taille und zog sie in eine Umarmung. Vertraut sollte sie ausfallen, brüderlich, warm. Aber nein, mein Körper machte mir einen Strich durch die Rechnung. Deandra war eine Frau, sie war nicht mehr meine Schwester, sie war anziehend und wirkte in diesem Moment schutzlos und zerbrechlich. Etwas, das mich an Frauen schon immer gereizt hatte. Wenigstens musste ich sie nun nicht mehr ansehen, denn ihren Kopf hatte ich durch die "erzwungene" Umarmung an meine Halsbeuge gebettet. Die Augen schlossen sich fast von allein, während ich mich gegen das aufkeimende Gefühl wehrte. Deandras Duft und ihre Nähe machte es nicht gerade einfacher für mich. Ich befand mich in einer Zwickmühle und betete zu Venus, mich nur einen einzigen Tag lang nicht mit Aufmerksamkeit zu beehren.

  • „Keinen Grund? Doch, ich habe dich enttäuscht.“


    Sein Verhalten ließ mich zu dieser Annahme kommen, die ausweichende Antwort tat ihr Übriges. Ich ließ mich widerstandslos umarmen, aber die beruhigende Wirkung blieb aus. Wie schon oft in den letzten Tagen, spürte ich dieses unbewegliche Gesicht, das scheinbar unfähig war, ein Lächeln zustande zu bringen. Es kostete Kraft, die Mundwinkel zu heben. Nach einem erfolglosen Versuch gab ich auf.


    Eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab, die Umarmung zu erwidern und so hing der eine Arm kraftlos herab, während der andere noch immer zum Abstützen diente. Früher hätte ich mich in die Arme gekuschelt …


    „Warum kann nicht alles einfach ein? Wieso fügt sich nicht alles wunschgemäß, wo man sich doch solche Mühe gibt, dass genau dies gelingt? Weshalb kann man nicht gewinnen, ohne gleichzeitig etwas zu verlieren?“


    Ich hoffte, er wusste Antworten darauf und wich nicht erneut aus.

  • Venus erhörte mich nicht, doch die nachfolgenden Worte Deandras taten ihr übriges. Das Verlangen verschwand dorthin zurück, wo es aufgekeimt war und zurück blieb wieder Verwirrung und das Gefühl, dass sich ein kaltes Band um meine Brust legte. Deandra fühlte sich an, als widerstrebte ihr die Umarmung aufs äußerste. Ich seufzte und entließ sie, verfehlte die freundliche Geste doch ihren Zweck. Stattdessen hob ich die Hände und umschloss ihr Antlitz. Meine Stirn legte ich an ihre.


    "Du hast mich nicht enttäuscht. Ich war verletzt und traurig, weil du die einzige Person bist, die beinahe alles über mich weiß. Und dann kamst du und erzähltest mir von der Adoption. Du zogst hierher und ließest mich allein. Die villa Aurelia ist kalt und leer, seitdem du sie verlassen hast und nur noch eine Nuance deines Geistes durch die leeren Räume des Gebäudes streift. Vater und Mutter sind kaum mehr anwesend und verbringen die Zeit lieber mit sich auf dem Landgut, Corus ist absent, Eugenius in Germanien. Und nun hast du dich so lange Zeit nicht mehr gemeldet. Ich fühle mich allein, Deandra."


    Ich legte all meine Überzeugungskraft in ein Lächeln, das dennoch nur halbherzig ausfiel, daher schaltete ich es ab und seufzte stattdessen.


    "Vielleicht hast du nicht verloren, was du verloren glaubst, sondern hast es nur verändert."

  • Auch wieder mehr oder weniger willenlos ließ ich Corvi gewähren, blickte ihn sogar kurzzeitig in die Augen, während er sprach, senkte aber anschließend den Blick. Fast zeigte seine einfühlsame Art Wirkung, weil sie mich an früher erinnerte, aber dann sprach er von Einsamkeit. Ich überlegte kurz, runzelte die Brauen, rückte nach wenigen Augenblicken von ihm ab und stand letztlich sogar auf. Sein halbherziges Lächeln, das ich bemerkte, als ich mich ihm zuwandte, bekräftigte meinen Gedanken, den ich aussprach, noch bevor seine letzten Worte zu mir durchdrangen. Es war nicht gewollt und doch blickte ich gerade von oben auf ihn herab. Fühlte ich mich so sicherer, bei dem, was ich zu sagen hatte?


    „Du hast dich doch sonst mit allerlei Geschöpfen amüsiert und dabei keine Langeweile oder Einsamkeit empfunden“, entgegnete ich in einem Tonfall, der patziger als gewollt ausfiel.
    Ich konnte mit dem mir vor Wochen anvertrauten Wissen einfach nicht umgehen und weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte, drückte es mich ab. Es war mir zudem unmöglich, ihm dieses Fehlverhalten zu verzeihen. Warum das so war, darüber dachte ich nicht nach. Vielleicht wäre mir dann klar geworden, dass ich ihn nicht mit anderen teilen wollte, weil aber dieser Gedanke über meinen wenn auch ehemaligen Bruder derart absurd war, blieb er in der hinterste Ecke meines Kopfes versteckt, von wichtigeren Dingen überlagert und unbewusst verdrängt.


    Erst langsam kamen mir seine letzten Worte in den Sinn und es dauerte zudem gewisse Zeit, bis ich in der Lage war, darauf einzugehen.


    „Ich würde ja nicht jammern, wenn mir die Veränderung gut tun würde, aber das ist nicht der Fall. Deswegen wiegt der Verlust schwer“, sagte ich schließlich resigniert.

  • Deandra floh. Und wieder verstärkte sich das Gefühl des Alleinseins, obwohl sie doch nur wenige Schritte entfernt stand und zu mir hersah. Die folgenden Worte waren hart und ließen mich ob der Situation sogar den Kopf senken. So konnte ich besser überlegen, doch schuldig fühlte ich mich nicht. Auch nicht peinlich berührt. Natürlich hatte ich ab und an Mädchen bei mir, die meine physischen Bedürfnisse stillten oder es zumindest versuchten, doch das geistige Befinden blieb unangetastet. Ich hob den Kopf und sah Deandra ernst an. Der angriffslustige Ton in ihrer Stimme war mir keinesfalls entgangen und verärgerte mich, was vermutlich auch auf meinen Zügen zu sehen war. Ich erhob mich ebenfalls und demonstrierte Deandra nun die Wirkung, die sie eben auf mich gehabt hatte, denn ich war um einiges größer als sie. Nun war ich es, der von oben herab sah.


    "Das habe ich auch nicht behauptet", entgegnete ich, ebenfalls schärfer als beabsichtigt.
    "Du jedoch scheinst dir ziemlich sicher zu sein, dass körperliche Vergnügen ein Mittel gegen das Alleinsein sind, obwohl du noch nie in den Geschmack gekommen bist."


    Vielleicht war das zum Teil auch mein Verdienst, überlegte ich. Immerhin war sie zu mir gekommen, um Aufklärung zu erlangen. Vielleicht war diese Annahme meine Schuld, die nun in ihrem Kopf spukte. Das stimmte mich milder und ich seufzte resigniert. "Wie dem auch sei, ich bin nicht gekommen, weil ich mit dir streiten will, sondern weil ich dich vermisse."


    Nun setzte ich mich wieder, es brachte nichts, vor ihr zu stehen und sie auf einen nonverbalen Kampf herauszufordern. Auf ihrem Bett sitzend sah ich erneut zu ihr auf. Diesmal stützte ich mich mit beinen Armen ab.
    "Veränderungen sind nie leicht. Man kann sie nur akzeptieren oder ablehnen. Und wenn man sich nicht sicher ist, muss man es herausfinden", erklärte ich kategorisch und gab mir damit selbst die Antwort auf eine Frage, die seit einer Weile in meinem Kopf herumspukte, wie ich verblüfft bemerkte.

  • Stärke drückt sich nicht allein in Körpergröße aus – das wusste ich. Aber in Verbindung mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck, und den hatte Corvi gerade aufgesetzt, beeindruckte sie mich doch. Unter seinen scharfen Worten zuckte ich innerlich zusammen. Es lag nicht daran, weil ich generell schnell einzuschüchtern war, keineswegs. Für mich machte es erhebliche Unterschiede, wer jeweils mit mir in diesem Ton sprach. Bei Fremden oder nicht nahe stehenden Personen ließen mich Angriffe, Abfälligkeiten oder Zurechtweisungen kalt, nicht so bei Menschen, die mir wichtig waren. Ihnen gegenüber hatte ich meine sonst hilfreiche Schutzrüstung abgelegt. Daher gingen die sonst abprallenden Worte unter die Haut, oft drangen sie sogar tief.


    Bei jedem Angriff, der einen Treffer erzielte, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder man gab sich geschlagen oder schlug nochmals zurück. Mein Brustkorb hob sich, weil ich bereits zu einem verbalen Gegenangriff ausholte, dann aber hörte ich seine Worte, die besänftigend wirkten.


    „Ich habe ja auch nicht vor, mit dir zu streiten“, gab ich zerknirscht zu. „Ich freue mich doch sogar über deinen Besuch, aber etwa steht zwischen uns, merkst du das nicht?“


    Weil er sich wieder setzte, trat ich dichter an ihn heran und suchte bewusst den Blickkontakt. Offensichtlich war er genauso ratlos wie ich. Zumindest schien es so.


    „Herausfinden, ob man Veränderungen ablehnen oder akzeptieren kann? Und wie soll das gehen?“ Hatte man denn überhaupt eine Wahl? Ich wartete gespannt auf die Antwort, stellte aber auch sogleich Überlegungen an. Beim einsetzenden Grübeln wurde mir zudem klar, dass Corvi inzwischen beträchtlich gereift war. Ich konnte von ihm Lösungen erwarteten, obwohl er eigentlich der jüngere war.

  • Eigentlich grübelte ich noch darüber nach, wie ich selbst herausfinden sollte, ob ich die Veränderung guthieß oder ablehnte, dich sich bezüglich Deandra ergeben hatte. Wie sollte ich ihr dann die Frage beantworten? Herausfinden...das war vermutlich auch leichter gesagt als getan. Wie fand man heraus, ob man jemand mochte oder nur mochte? Ob man jemanden schätzte oder schätzte? Sogar die umschreibenden Worte waren die gleichen, wie sollte man da jemals Ordnung in seine Gedanken bekommen?


    Ich blickte Deandra an und sie sah mich an. Zwei ratlose Menschen, jeder auf seine Art verwirrt, jeder auf seine Art von der Adoptionssituation zermürbt und gequält. Wie automatisch hob ich meine Arme und hielt Deandra meine nach oben zeigenden Handflächen hin, aufdass sie mir ihre Hände reichen möge. Es vergingen einige Sekunden, dann hielt ich ihre zierlichen Hände geborgen in meinen. Mit einem nachdenklichen Ausdruck sah ich darauf hinab und strich mit dem Daumen über ihre zarte Haut ihres Handrückens. Einem inneren Impuls folgend zog ich sie näher heran, was angesichts der bereits vorhandenen Nähe zu mir unweigerlich darin gipfelte, dass sie seitlich auf meinen Knien Platz nehmen musste. Hier ließ ich eine Hand nun los und legte sie locker um ihre Hüfte, sie von unten ansehend.


    "Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Deandra. Mir kommt alles unwirklich vor. Falsch. Als sei es nicht ich, der hier ist, sondern jemand anderer, der nur meinen Namen trägt. Ich kann mich nicht mehr so verhalten wie früher, wenn ich dir nahe bin. Es ist, als sei da ein Abgrund und ich balancierte daran entlang. Jeden Moment drohe ich abrutschen, jede falsche Bemerkung, jedes unbedachte Wort erhöht die Absturzgefahr."


    Ich verstummte und blickte bedrückt drein. Mit einer Hand strich ich Deandra mit dem Anflug eines Lächelns über die Wange, dann ließ ich sie wieder sinken.


    "Du hast Recht, es steht etwas zwischen uns. Ich habe die vage Ahnung, worauf das hinausführen mag. Deandra, sage mir hier und jetzt, dass ich gehen soll, und ich schwöre dir, dass von meiner Seite aus nie wieder eine Situation entstehen wird, in der ich nicht Herr über mein Empfinden bin. Per iovem lapidem", sagte ich endringlich und leise, um den Worten das nötige Ambiente zu verschaffen.

  • In dem Vertrauen, dass er schon Antwort und Lösung finden würde, legte ich meine Hände in seine, verfolgte das Streichen seines Daumens und ließ mich schließlich heranziehen. Bereitwillig setzte ich mich auf seinen Schoß, legte sogar eine Hand auf seine Schulter – für den ganzen Arm fehlte der Mut, weil die Atmosphäre insgesamt angespannt war.


    Während ich meine andere Hand, die er noch immer hielt, auf meinem Schoß betrachtete, hörte ich aufmerksam zu, was er zu sagen hatte. Seine Aussage bezüglich des Abgrunds stellte ich mir bildlich vor. Das Gefühl des Fallens musste furchtbar sein, ich konnte es nachvollziehen. Leider kam ich zu keinem Ergebnis, welche Art von Bemerkungen einen Absturz verursachen könnte. Was sollte denn jetzt noch passieren, die Adoption war doch schon vollzogen? Dass wir beide mit der Veränderung schlecht umgehen konnten, war offensichtlich.


    Und trotzdem … Bauchwand und Brustkorb zogen sich schmerzhaft zusammen, als er aussprach, nochmals bestätigte, dass etwas zwischen uns stand. Die Dinge selbst zu äußern, war tausendmal leichter als sie hören zu müssen. Betroffen schaute ich ihn an.
    Und wieso wollte er gehen? Bot es überhaupt an? Atmen fiel daraufhin schwer, weil sich Lasten auf meine Schultern legten. All das kam mir wie ein definitiver Abschied vor und den wollte ich nicht.


    Die nächsten Augenblicke waren so endlos wie stumm. Ratlosigkeit hielt sich mit Mutlosigkeit die Waage, bis ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, deren Tragweite ich nicht einmal ansatzweise überblickte. Ich wusste nur, dass es in dem Moment für mich richtig war.
    Vorsichtig hob ich meine Hand, die er bereits mit dem Streicheln freigegeben hatte, verhielt kurz auf dem Weg zu seinem Gesicht, weil unvermutet und heftig Herzklopfen einsetzte, nahm dann aber doch allen Mut zusammen, denn uns sah ja niemand zu und er konnte das Pochen im Herzen zum Glück nicht hören – hoffte ich wenigstens. An seiner Stirn angelangt setzte ich nur zwei Fingerkuppen auf. Ich traute mir einfach nicht mehr und selbst das kam mir bereits wie eine verbotene Handlung vor.


    „Ich möchte nicht, dass du gehst“, flüsterte ich, während eine unerklärliche Kraft meine mutlose Hand über seinen Haaransatz streichen ließ.

  • Stille lag schwer zwischen uns. Bedrückende Stille, nich jene, die Freunde miteinander teilten, weil sie dasselbe empfanden und daher keine Worte von Nöten waren. Nein, diese Stille war anders. Es war eine einengende, atemraubende Stille, eine dedrückende und zugleich erdrückende Stille. Und Deandra brach sie schließlich, indem sie unendlich langsam ihre Hand hob und meine Strin berührte. Anspannung viel von mir ab, weil sie mich nicht gebeten hatte, zu gehen. Sie wich zugunsten der Erleichterung. Ich seufzte auf und schloss die Augen. Für einen winzigen Moment hatte ich das gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, doch ehe sich nachforschen konnte, von welcher Entscheidung mein Unterbewusstsein überzeugt war, war das Gefühl verschwunden, hinfortgeweht von Deandras Berührung. Zurück blieb das ureigenste Gefühl tiefer Zuneigung, als ich meine Hand hob und ihre damit umschloss, sie an mein Gesicht drückte und einen Kuss darauf setzte. Die ganze Zeit sah ich Deandra dabei an, las in ihrem Gesicht und fragte mich, ob ihr diese ganze Situation wohl auch seltsam befremdlich vorkam.


    "Schon gut. Ich bleibe hier", gab ich nun ebenfalls flüsternd zurück. Unsere Hände lagen nun an meiner Wange; ich hielt ihre Hand dort fest, weil von der Berührung ein angemehn tröstliches Gefühl ausging, das ist genoss und nicht missen wollte. Ich fand mich wahrhaftig ungeschickt im liebevollen Umgang mit Frauen, die mehr als körperliche Zuwendung verdient hatten, und das waren wahrlich nicht viele. Dennoch war es schwierig für mich, in prekären Situationen wie dieser die richtigen Worte zu finden. Ein Themenwechsel erschein mir essentiell, um der Situation angenehm zu entfliehen.


    "Ich habe den Kaiser ersucht, mir einen Platz als tribunus zuzuteilen", sagte ich daher plötzlich, um das Thema zu wechseln. Ob es mir gelang, war eine andere Frage, doch noch hatte ich niemandem diesen Schritt mitgeteilt, nicht einmal Vater, denn der war ja nie zu Hause.

  • Es war selbst unter den engsten Verwandten nicht üblich, Zuneigung füreinander in derart direkter Weise zu zeigen. Ich wusste das und dennoch ließ ich ihn gewähren, fand es sogar schön, als ein Kuss meine Hand traf. Ein winziges Lächeln umspielte meinen Mund, weil der Druck in Brustkorb und Bauch einer Art von Ruhe gewichen war. Keiner, die den Herzschlag gänzlich beruhigte und auch keine in Form von Sicherheit, die ich früher als seine Schwester gespürt hatte, wohl aber die beruhigende Gewissheit, dass wir uns nicht verlieren würden, niemals.


    Flüchtig kam mir die Erkenntnis, dass es jede Frau schwer haben würde, die ihn einmal als ihren Gemahl bezeichnen konnte. Sie musste mich praktisch mitheiraten. Der Gedanke gefiel mir so lange, wie ich ihn aus der Sicht einer ehemaligen Schwester betrachtete. Er wurde in dem Augenblick unangenehm, als ich ihn mit Frauenaugen sah.
    Beschämt senkte ich den Blick, weil mir klar wurde, dass ich egoistische Züge besaß, dass ich im Grunde nicht willens war, ihn jemals vollkommen an eine andere abzugeben. Vielleicht würde ich die Götter um Beistand bitten müssen, damit ich ihn großzügigen Herzens wie jede andere Schwester sein Leben gestalten lassen konnte.


    Ich seufzte vernehmlich, schaute ihn wieder an und hörte irgendetwas von einem Tribun. Augenblicklich setzte mein Herzschlag aus. Tribunus – Legion – Sophus, die Verknüpfung schoss in Pfeilgeschwindigkeit durch meinen Kopf. Oh, ihr Götter! Wie konntet ihr mich IHN vergessen lassen? Abrupt stand ich wieder auf, strich nervös die Tunika glatt und starrte betreten auf den Fußboden, als ich mein Verhalten erklärte: „Er würde es nicht verstehen und auch nicht gutheißen.“ Mehr bekam ich nicht heraus.

  • Lag es an meiner Mitteilung oder war es etwas anderes, das Deandra zum Aufsprung veranlasste? Mit stummem Blick verfolgte ich ihre Bewegung, als sie so dastand und verlegen wie beschämt wirkte.


    "Er würde es nicht....?" begann ich schon verwirrt, da dämmerte mir, dass sie nicht den verehrten imperator meinte, sondern meinen Vetter. Diese Erkenntnis machte mich melancholisch. Ich seufzte und versuchte, nicht allzu offen zu zeigen, dass mich Sophus' indirektes Einmischen in mein Leben allmählich ziemlich verärgerte. Deandra schien von ihm zu sprechen, wann immer sie konnte, dauernd war die Rede von ihm. Und was tat er? Aus Bedauern für das Herz Deandras schüttelte ich den Kopf.


    "Deandra, weißt du...." fing ich an und sah schließlich zu ihr auf.
    "Ich glaube nicht, dass er..." noch ernstes Interesse an dir hegt? Dass du ihm wichtiger bist als einer seiner probati? Dass du ihm auch nur den Bruchteil von dem bedeutest, was du ihm bedeuten solltest - was du mir bedeutest? Und immerhin war ich einmal dein Bruder. Alles keine besonders netten Worte, und doch verkörperten sie das, was ich dachte.


    "Ich will damit sagen... Wann habt ihr euch zuletzt gesehen? Wann hat er dir einen Brief zukommen lassen? Hat er seit der Adoption überhaupt von sich hören lassen? Hat er mit Vesuvianus gesprochen, will er um dich werben? Wann habt ihr das letzte Wort miteinander gewechselt?" bombardierte ich sie mit Fragen, die allesamt nur einem Zweck dienen sollten: Deandras Selbsterkenntnis.

  • Ich schaute flüchtig auf, als Corvi mit seiner Sprechlawine begann, verzog aber alsbald schmerzhaft das Gesicht und senkte wieder den Blick. Nach kurzem konnte ich seine Fragen nicht mehr ertragen, hob die Hände und presste sie an die Ohren. Ich wollte nicht hören, was er zu sagen hatte – vor allem deswegen, weil es die ungeschminkte Wahrheit war, die ich doch so perfekt zu verdrängen wusste, wenn nur niemand daran rührte. Als er geendet hatte, sanken die Arme kraftlos herab und ein trauriger Blick streifte Corvi.


    „Was habe ich falsch gemacht, weil er mich so bestraft?“ Hatte er mir doch einst versprochen, mich bis zum Ende der Welt und wieder zurück mitzunehmen und hatte ich ihm doch zugesagt, immer an seiner Seite zu sein. Zwei Jahre waren seither vergangen.

  • Ich verstummte bereits, als Deandra die Hände übre ihre Ohren legte, um mich nicht mehr zu hören. Schon bereute ich meine Worte, auch wenn sie die Wahrheit waren. Sie in dieser Situation zu wählen, war einfach falsch gewesen. Deandra wirkte nun kraftlos und ausgebrannt. Sie tat mir leid. Und so erhob ich mich ebenfalls und ging die wenigen Schritte zu ihr, legte meine Arme um sie und hielt sie fest. Eine Hand strich ihr das Haar aus dem Nacken, um sie dort beruhigend zu streicheln. Das hatte Mutter stets gemacht, wenn einer von uns krank gewesen war. Bei mir hatte es geholfen, ob es bei Deandra half, wusste ich nicht, aber es war einen Versuch wert. Meinen Kopf legte ich auf ihr Haar. Alle Gefühle verdrängte ich aus mir, bis nur noch der Wunsch zurückblieb, ihr Trost zu spenden.


    "Es liegt nicht an dir. Das kann es gar nicht. Du bist noch genauso liebreizend undverständnisvoll wie eh und je. Er muss es sein, der sich verändert hat, nicht du. Nur dir obliegt es jetzt, das einzusehen. Das ist schwer, aber ich glaube fest daran, dass du das schaffen wirst, Deandra", murmelte ich.

  • Da stand ich nun … wieder einmal aufgefangen von Corvi. Mir fiel zum ersten Mal bewusst auf, dass er stets für mich da war, Sophus hingegen fast nie. Anfangs hatte sich Soph sehr um mich gesorgt, hatte mich verteidigt, wenn ich angegriffen wurde – damals in den Factioversammlungen. Er war wie ein Bollwerk für mich gewesen, aber das lag lange zurück.


    Schrittweise, von mir kaum bemerkt, hatte Corvi, als er alt genug war, diese Rolle eingenommen. Nun gab es zwar selten Gelegenheit, mich verteidigen zu müssen, denn ich lebte seit längerem zurückgezogen, aber gegen etwas verteidigte er mich stets: Er bekämpfte meine Traurigkeit und zumeist gelang ihm dies gut. Ebenfalls von mir unbemerkt war er zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden. Jetzt verstand ich, warum es mir Probleme bereitete, wenn er seinen privaten Vergnügungen nachging … Es war eine Form von Eifersucht und es war verdammt schwer, mir das selbst einzugestehen.


    Was also tun? Noch trauriger werden, weil es absehbar war, auch diesen Halt eines Tages zu verlieren?


    Ich wusste keinen Rat, also blieb ich einfach regungslos stehen, ließ mich streicheln und versuchte die Gedanken auszuschalten. Einfach nur sinnlos ins Leere starren, die Welt umzu vergessen – am besten so tun, als gäbe es sie gar nicht. Aber wenn man an nichts denkst, nichts hören und sehen will, bleiben noch andere Sinneswahrnehmung: Ich nahm Körperduft wahr und ich fühlte … ihn.


    Plötzlich war der Geist doch wieder wach, weil ich seine Hand, den anderen Arm, den Atem, den vertrauten Duft, mehr noch: den kompletten Körper vor mir, an mir spürte. Blitzhaft kamen mir seine und Assindius’ Aufklärungsversuche in den Sinn. Corvi war der erste Mann, den ich seither auf Tuchfühlung spürte und meine Tunika war beileibe nicht aus derbem Stoff. Mir wurde nach so vielen Jahren und häufigen Umarmungen erstmalig klar, dass er meinen Körper wahrnehmen konnte, wie ich seinen, und meiner war ganz bestimmt nicht flach. Während dieser Erkenntnis wurde mir plötzlich sehr warm. Ich wartete noch Augenblicke, bekam aber den innerlichen Aufruhr nicht in den Griff.
    Es waren nur Bruchteile einer Kopfdrehung, doch sie bewirkte, dass er seinen Kopf von meinem lösen musste. Auf seine Brust schauend – sofern das bei der Nähe überhaupt ging – verharrte ich unbewegt, lauschte meinem Herzschlag und versuchte der Aufregung Herr zu werden.

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