Cubiculum der Claudia Aureliana Deandra

  • Ich hatte eine ähnliche Wahrnehmung wie Deandra in diesem Moment. Meine Nase nahm ihren Duft auf, ich hörte das leise Rascheln der Kleidung und ihren Atem. Ich spürte meinen Herzschlag, die Wärme ihrer Haut undihren Körper an meinem. Bewusst verdrängte ich jeden Gedanken, den ein Mann denken musste, unweigerlich, wenn er mit einer anziehenden Frau so dastand wie Deandra und ich in diesem Moment. Ich seufzte leise und intensivierte die Umarmung noch etwas, suchte Deandra mit meinen Armen zu umpfangen und ihr das gefühl zu vermitteln, dass ich immer für sie da sein und sie nie allein lassen würde. Sie wusste das natürlich, das musste sie nach all der Zeit als meine Schwester wissen, doch es schadete nichts, es noch einmal zu bestätigen. Dass meine Bemühungen Früchte trugen, konnte ich nicht wissen, nur hoffen.


    Ich wusste nicht, wie lange wir so dagestanden hatten, doch auf einmal drehte sie den Kopf und ich war gezwungen, meinen anzuheben. Ich lehnte ihn etwas zurück, um zu ihr heruntersehen zu können, ohne die Umarmung zu lösen. Sie hingegen blickte auf meine Brust, heute verhüllt von einer weißen toga. Stumm betrachtete ich Deandra eine Weile, ohne die Stille zu brechen, doch mir wollte nicht in den Sinn kommen, was sie dachte, warum sie so stand, wie sie stand. Also kam ich nicht umhin, nachzufragen.


    "Hm?" brummte ich daher fragend und blinzelte sie an.

  • Um nicht mehr über die Misere meiner Zukunft nachdenken zu müssen, bemühte ich das Thema der letzten Tage: Der Mann, der Akt, die Kinder. Diese Angelegenheit hatte mich ohnehin nicht wieder losgelassen, seit sie aufkam, und zudem war sie bestens geeignet, allen Kummer in den hintersten Winkel meines Kopfes zu verdrängen. Über diese Thematik zu sinnieren, wirkte auf mich wie ein substanzloses Aphrodisiakum, wobei ich mich darauf verließ, dass Corvi weder Gedanken lesen noch Empfindungen des Körpers wahrnehmen konnte.


    Auf seine knappe Nachfrage, die ich durchaus verstand, antwortete ich uneindeutig. Es war eine Mischung aus leichtem Schulterzucken, andeutungsweise Kopf schütteln und dabei Lächeln. Den Blick hielt ich dabei konsequent gesenkt. Die Wangen überzog ein Hauch an Röte, die weniger Scham, sondern vielmehr prickelnde Anspannung verriet.


    Eines war mir nämlich vorhin klar geworden: So wie er meine Rundungen spüren musste – es ging ja gar nicht anders, weil er auch noch den Druck der Arme verstärkt hatte – so fühlbar musste doch auch dasjenige bei ihm für mich sein, was vornehmlich verborgen gehalten wurde. Geheimnisse fördern die Neugier, Verbote halten nicht immer zurück, sondern stacheln hin und wieder erst recht die Entdeckerfreude an.
    Genau das war bei mir passiert: Von all diesen mir noch versagten Dingen ging eine magische Anziehungskraft aus. Ich grübelte nicht darüber nach, warum mir die Tatsache, dass Corvi lange als mein Bruder galt, nicht ein dickes Stopp nahe legte. Hätte ich es getan, wäre mir wohl aufgegangen, dass ich längst den Mann in ihm sah.


    Alle Sinne waren nach unten gerichtet und ich hätte zu gerne gewusst, ob das nun die Originalgröße war. Schwierig zu beantworten, wenn man so gar keinen Vergleich hatte und das Auge nahm anders wahr als die Tastkörperchen der Haut. Es war nicht mehr als eine Andeutung zu spüren, die meine Fantasie aufgriff, ausbaute und die erneut den Herzschlag beschleunigte.


    Mehrmals atmete ich tief durch, weil die Normalatmung nicht mehr genügend Luft zuführte. Ich verstand nicht, wieso man vom bloßen Herumstehen außer Atem kam, aber diese Reaktion hatte ich in den letzten Tagen schon mehrfach bei mir bemerkt.
    Ich hüstelte zwischendurch, um Corvi von diesem Phänomen abzulenken.

  • Langsam wurde die Sache seltsam. Deandra rührte sich nicht, sondern sah nach wie vor stur auf einen Punkt. Sie antwortete auch nicht auf meine Frage. Also suchte ich den Auslöser für dieses Verhalten bei mir. Was hatte ich zuletzt gesagt? Irgendetwas musste sie verletzt haben, gekränkt oder verwirrt. Dabei war es doch nichts Schlimmes gewesen? Ich dachte ernsthaft und angestrengt darüber nach, doch mir wollte der Auslöser einfach nicht einfallen. So kam es, dass ich Deandra behutsam an den Schultern ergriff und eine Armlänge von mir schob. Anschließend legte ich Zeige- und Mittefinge der Rechten unter ihr Kinn und zwang ihren Blick sanft nach oben. Fragend sah ich sie an.


    "Na was ist, hm?" fragte ich und versuchte verständnisvoll zu klingen. Einerseits glaubte ich, dass sie gedanklich noch bei meinen Worten verweilte, dass Sophus ihr im Kopf herumging und ihre Zukunft. Andererseits verhielt sich Deandra äußerst mysteriös, um nicht zu sagen sonderbar. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Atem beschleunigt, eigentlich ein Zeichen, dafür, dass...


    Meine Augen weiteten sich, ich stockte inmitten des Gedanken. Ein Kloß bildete sich aus dem Nichts und setzte sich in meiner Kehle fest, die plötzlich ausgedörrt war und nach Wasser lechzte.


    "Äh", krächzte ich in Ermangelung einer sinnigeren Bemerkung.
    Nun war ich es, der starrte.

  • Alles Hüsteln half nichts … Corvi wurde stutzig. Ich ahnte bereits Übles, als er mich auf Armlänge zurückschob, jedoch in dem Moment, wo er mein Kinn hob, entstand ein merkwürdig flaues Gefühl im Bauch, weil ich nun gezwungen war, ihn anzublicken.


    ‚Ah, noch mal Glück gehabt’, dachte ich, als seine harmlose Frage erklang. Ich atmete erleichtert aus. Allerdings auch ebenso schnell wieder ein, weil diese verfluchte Atemnot bestand – nicht eben schlimm, aber trotzdem vorhanden. Ein verlegenes Lächeln sollte die Situation retten, aber auch das half nichts: Sein Äußeres veränderte sich und das verhieß nichts Gutes. Meine Brauen zogen sich furchtsam zusammen, der Blick wurde ängstlich, denn ich war mir nun sicher, dass er vorhin doch meine Gedanken lesen konnte, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, wie er das geschafft hatte.


    „Es … Es tut mir … so leid!“, stammelte ich mit vibrierender Stimme. Meine Augen waren bittend auf ihn gerichtet.
    Weil ich jedoch seinen irritierten, ja vorwurfsvollen Blick nicht länger ertragen konnte, schaute ich zur Seite, realisierte erst jetzt, dass er mich ja nicht mehr mit beiden Armen festhielt und trat einen Schritt zurück. In Erwartung einer Moralpredigt blickte ich ihn aus ängstlichen Augen an, und obwohl ich gern im Boden verschwunden wäre, konnte ich doch den Blick nicht von ihm wenden, ich war wie hypnotisiert.

  • Meine kleine Welt bestand gerade nur aus Deandra, diesem Raum und mir selbst. Mit beinahe übernatürlicher Intensität nahm ich den Teppich unter meinen calcei patricii wahr, hörte das Knistern des Stoffes, als Deandra sich bewegte und drang in die Tiefen ihrer Augen vor, die mich als Seelenspiegel ansahen. Sie wirkte, als hätte sie Angst, bat um Verzeihung für etwas, das ich nicht einmal wahrgenommen hatte. Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach, starrte sie lediglich an und versuchte zu erkennen, was ich bisher nicht erkannt hatte. Unsere Blicke trafen sich, und doch konnte ich den ihren nicht ergründen. Er blieb verschlossen und nichtssagend, außer diesem profunden Gefühl der Angst und Unsicherheit.


    Still versuchte ich, die Puzzleteile zusammenzusetzen, doch es gelang mir kaum. Sophus. Meine Sorge um Deandra und ihre Traurigkeit über sein Verhalten. Die Berührungen, die zwischen uns stattfanden und nicht mehr die von Bruder und Schwester waren. Ihr beschleunigter Atem, meine Reaktion auf ihre Nähe vorhin auf dem Bett. Ich blinzelte verwirrt und betrachtete nachdenklich eine Staubfluse auf einer nahe stehenden Anrichte. Ich reimte mir etwas zusammen, ganz gewiss. Es konnte nicht sein. Das war unmöglich. Wir hatten als Kinder zusammen im gleichen Zuber gesessen und uns von Ocellina schrubben lassen. Bilder keimten in mir auf, vor Urzeiten gesäht, doch nie vollkommen abgeerntet. Eine junge Deandra vor dem Altar, ein Opfer darbringend. Ein kleiner Junge, der sich hinter der Tür versteckt und lauscht. Die singende Schwester, die sich unbeobachtet fühlt und verträumt an einer Blüte riecht. Raufende Geschwister. Ein weinender Junge mit einem tiefen Kratzer, den seine Schwester tröstet. Ein junger Mann, der vor Heimweh in der Ferne beinahe vergeht. Die Freude, als er heimkehrt und seine Familie wieder in die Arme schließen kann.


    Ich blinzelte die Bilder fort und zwang mich, erneut zu Deandra zu sehen. Der Junge war ich. Die Arme waren inzwischen an meine Seiten gesunken. Ich sah Deandra ruhig an und kam mir vor, wie der berüchtigte Fels in der Brandung. Alles prallte von mir ab, doch spülte es zugleich wichtige Empfindungen von mir fort und ließ ein vacuum zurück, das ich nicht ertrug. Ich atmete rasch, verstand das alles nicht, doch mein Gesicht blieb starr, meine Lippen stumm. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Selbst der Raum war nun vergessen, vorhanden waren nur noch sie und ich.
    Deandra und ich.

  • Auch das gegenseitig Anstarren über Zeitalter lange Augenblicke hin brachte keine weitere Erkenntnis, weil sich keiner von uns traute, etwas zu sagen oder gar zu tun. Irgendwann – ich hatte das Gefühl, es mussten Stunden vergangen sein – rührte ich mich, indem ich den Blick senkte, einmal tief durchatmete und zum Fenster ging, oder besser mich dorthin stahl. Hinausschauen lag mir aber nicht im Sinn.
    Was blieb mir auch anderes übrig? Aus dem Zimmer flüchten, wäre nicht nur feige, sondern auch sinnlos gewesen, da es ja mein Zimmer war. Also harrte ich aus. Dabei untersuchten sich meine Hände in nutzloser Weise gegenseitig. Ich schaute zu, ohne jedoch zu realisieren, was ich tat und gab dabei gleichzeitig Corvi die Möglichkeit, wenn er wollte, das Zimmer zu verlassen.


    Ich machte mir Vorwürfe, weil mein unüberlegtes Handeln nun unsere Beziehung belastete. Um Verzeihung gebeten hatte ich, aber wie es schien, nahm er die Entschuldigung nicht an. Dabei hatte ich es nur als Spaß gesehen, reale Erfahrungen mit der verbotenen Sache zu sammeln, aber auch wenn ich mir - die Angelegenheit betreffend - meinen Forscherdrang verzeihen konnte, dass ich ihn faktisch benutzt hatte, war unverzeihlich.


    Oder gab es eine Erklärung, warum ich auf diese Idee gekommen war? Ich blickte auf und entdeckte Wolkenfetzen am Himmel, die mich aber keineswegs interessierten. Ich dachte weiter nach. Sicherlich lag es an dem zwischen uns bestehenden Vertrauen. Vielleicht aber auch, weil ich ihn ja sehr mochte, als Schwester geliebt hatte und er zudem recht gut aussah. Denkt man eigentlich in solcher Weise über den eigenen Bruder, wenn auch den ehemaligen? Beschämt senkte ich erneut den Blick.
    Ich wusste momentan fast gar nichts mehr, daher suchten meine Gedanken Corus und meine anderen Brüder auf. Ich stellte fest, dass mein Vertrauen zu ihnen in keiner Weise mit dem zu Corvi vergleichbar war. Tja, es gab immer Lieblingsgeschwister, tröstete ich mich selbst auf der Stelle und wanderte gedanklich zu meinen ehemaligen Eltern. Ein Schreck durchfuhr mich. Was, wenn sie davon erfahren würden?

  • Eine Ewigkeit verging, in der wir beide unseren eigenen Gedanken nachgingen und keiner sie laut aussprach. Gern hätte ich gewusst, was in ihrem Kopf vorgehen mochte, doch fragen wollte ich nicht. Also beschränkte ich mich darauf, sie anzustarren und auf ihrem Gesicht nach einem Hinweis zu suchen, doch leider sah sie alsbald fort, wandte sich um und ging zum Fenster, Scheinbar, um hinauszusehen. Wenn mir jemand einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen hätte, hätte ich mich vermutlich nicht sonderlich anders gefühlt als nun. Deandra konnte nicht sehen, dass ich ihre Kehrseite betrachtete, starrte sie doch aus dem Fenster.


    Sie trug das Haar offen, verziert mit Klemmchen und dem Kram, den Frauen eben zum Verzieren nutzen. Etwas Magisches ging davon aus, abgesehen von dem Duft. Ich sollte gehen. Mit Absicht lenkte ich meinen Blick auf das breite Bett, das sich im Zimmer befand. Daneben stand der Spint mit dem Pergament, das ich mitgebracht hatte. Überflüssigerweise. Ich sollte wirklich gehen.


    Und dennoch, wenn ich die Augen schloss, war ein Verlassen dieses Raumes so ziemlich das letzte, was ich wollte. Das, was ich am meisten wollte, bleibt allerdings besser unerwähnt. Es war dicht gefolgt vom Wunsch nach dem Vergessen diese ganzen unnötig gesagten Worte, der unnützen Fragen, der peinlichen Situationen und unbedachten Worte zwischen mir und Deandra. Aber man konnte nicht alles haben, das wusste ich. Und in Bezug auf Frauen schien das so zu stimmen, wie auf nichts anderes. Entweder, sie waren gescheit oder schön. Zusammen gab es das nur bei unerreichbaren frauen, die wie Juwelen aus der breiten Masse herausstachen.
    Deandra war genau so "ein Juwel".


    Als ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, merkte ich, dass ich ihn ausgesprochen hatte. Auch stand ich nicht mehr an der gleichen Stelle wie zuvor. Es sollte mich verwundern, doch das tat es nicht. Zwei Schritte später und hinter Deandra blieb ich stehen. Mein Atem strich an ihrem Nacken entlang. Ich erkannte die Gefahr dieser Situation, konnte sie jedoch nicht unterbinden oder umschiffen: Ich konnte nicht gehen. Ihr bezauberndes Wesen hielt mich fest, es hatte mich gefangen und ließ mich nicht los. Wie von selbst fand meine forsche Hand den Weg in Deandras Nacken, verweilte einen flüchtigen Moment und zog die scharze Haarpracht beiseite. Ehe ich mich zurückhalten konnte, küsste ich ihren Nacken. Die Berührung meiner Lippen auf ihrer samtigen, nach Rosenöl duftenden Haut, riss mich zurück in die Realität. Ich blickte entsetzte auf den entblößten Nacken und machte einen Schritt rückwärts.


    Beim iuppiter! Was dachte ich mir? Wieso hatte ich mich nicht im Griff? Warum nur verschmähte ich seit einigen Tagen auch nur die Gedanken an eine Frau, die mir die Zeit versüßte? Warum erschien immer wieder ihr Gesicht vor meinem Inneren Auge? Und warum, bei mars, hatte ich das nun getan?


    "Mir tut es leid. Achte nicht weiter auf mich. Ich werde gehen", flüsterte ich kaum vernehmbar, unterdrückte jede Heiserkeit in meiner Stimme und ebenso jedes Gefühl darin, sodass es seltsam metallisch und monoton klang. Einen Moment noch blieb ich stehen, dann wandte ich mich um und trat mit großen Schritten auf die Tür zu.

  • In den Gedanken an meine ehemaligen Eltern, Corvis Eltern, drangen seine Worte, deren Sinn ich zwar nicht verstand, die mich aber in das Hier und Jetzt zurückbrachten. Ich bemerkte seine Schritte und bemühte mich, am veränderten Klang festzustellen, ob er den Weg zur Tür wählte oder wohin er sich sonst wandte. Schneller als ich resümieren konnte, stand er schließlich hinter mir und spätestens jetzt waren alle Sinneswahrnehmungen auf Empfang: Sein ihm stets umgebender Duft erreichte meine Nase, ich hörte seinen Atem, kurz bevor ich ihn im Nacken spürte. Mir fiel nicht einmal auf, dass ich aus dem Fenster blickte und doch rein gar nichts sah, weil ich voller Anspannung auf irgendeine Reaktion wartete. Und die kam prompt, in Form seiner Hand.

    Unvermittelt fuhr ich bei der Berührung zusammen - nicht aus Schreck, vielleicht ein wenig aus Überraschung, aber vor allem aus einer mir durchaus bekannten Empfindung heraus, die als Rieseln vom Nacken über Schultern und Arme lief und sich fortan als wiederkehrende Schauer manifestierte. Ich hatte sie bei Sophus erstmalig kennen gelernt, hätte aber nie geglaubt, dass Corvi sie bei mir auslösen konnte. Doch die Hand, die mich soeben berührte, war nicht mehr die eines Bruders. Zeit zum Nachdenken über diese Feststellung blieb keine, denn wenig später strich er die Haare zur Seite und es folgte ein Kuss.


    Denkt man überhaupt in solchen Situationen? Analysiert man nüchtern die möglichen Auswirkungen, wägt überlegt ab und entscheidet dann? Sicherlich nicht. Zumindest mir war das nicht möglich. Die Wirkung der Berührung war vergleichbar durchschlagend wie sein Rückzug abrupt kam. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie, bei den Göttern, sollte ich denn JETZT nicht weiter auf ihn achten können?


    Ich drehte zunächst hastig den Kopf, wandte mich schließlich um und blickte ihn aus großen Augen an. Nicht etwa, weil ich über sein vorheriges Verhalten entsetzt war, sondern über das aktuelle. Er beabsichtigte zu gehen!


    „Bitte!“, bat ich zwar leise, aber dennoch lag in dem Wort Betonung. Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit hielten sich wieder einmal die Waage. „Du kannst doch jetzt nicht gehen!“

  • Ich wollte weitergehen, obwohl mir ihre Worte in den Ohren klangen. Es blieb bei dem Versuch. ich wurde langsamer, blieb schließlich stehen und wurde meiner Haltung gewahr, die nicht wie sonst aufrecht und entschlossen wirkte, sondern gebeugt wie ein flüchtendes Tier. Schnell korrigierte ich die Fehlhaltung und starrte die Tür an.


    Herrje, wenn ich mich nun umwandte, würde das Folgen haben. Es war wahrhaftig besser, wenn ich nicht zurückblickte, sondern durch die Tür ging und das Haus verließ, ehe ich eine Dummheit begehen würde. Aber das konnte ich nicht. Meine Füße wollten herumdrehen oder stehen bleiben, mich jedoch keinesfalls der Tür näher bringen. Ich schluckte, doch der Kloß in meiner Kehle schwand nicht. Ich ballte die Händen zu Fäusten, doch die Entschlossenheit kam nicht. Ich schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, doch nichts geschah. Ich stand weiterhin im Raum, auf halbem Weg zur Tür aufgehalten von einer unsichtbaren Wand.


    Sieben Worte, die mich baten, zu verweilen. Eines, mit dem ich mich zwingen wollte, zu gehen. Nein!


    Deandra gewann. Sie hatte sich mit meinem insgeheimen Wunsch verbündet, mit meinem Unterbewusstsein zusammengeschmiedet. Wie sollte man da obsiegen? Ich unterlag, doch ich tat es seltsamerweise gern. Mit einer raschen Bewegung fuhr ich herum, verweilte noch einen Moment an Ort und Stelle und ging dann langsam auf Deandra zu. Tu es nicht. Nein, Corvinus. Du weißt, was das nach sich zieht. Ich wusste es, doch es war mir egal. Unaufhaltsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich schließlich vor Deandra stand. Mein Herzschlag hatte sich erhöht, eine Vene an der Schläfe pochte angestrengt. Atmen konnte ich kaum mehr ruhig und regelmäßig.


    Wie von selbst hoben sich alsbald meine Hände, legten sich sachte an Deandra Wangen, die Daumen ruhten auf den feinen Wangenknochen. Mein Blick musste eine Mischung aus unterdrückter Zurückhaltung und Vorsicht sein, aus süßer Qual und gleichzeitig einem Verlangen, das ich Deandra gegenüber zum ersten Mal offen zeigte, als ich meine Stirn an ihre legte. Unsere Nasen berührten sich. So verweilte ich, sie ansehend. Tausend Worte hätten dem Moment nicht zur Erklärung gereicht, hunderte nicht zur Beschreibung des Aufruhrs im Inneren. Meine Lippen näherten sich ihren, berührten sie flüchtig und zogen sich wieder zurück. Die Augen nurmehr halb geöffnet und jeglicher Zurückhaltung beraubt, schenkte ich ihr schließlich einen zaghaften Kuss.

  • Stand ich bislang – vermutlich, um die Dringlichkeit meiner Worte zu unterstützen – ein wenig vorgeneigt, richtete ich mich wieder auf, als sich Corvi umdrehte. Einerseits wünschte ich mir ja, dass er blieb, andererseits war das natürlich mit erheblicher Aufregung und auch Unsicherheit verbunden. Seine Annäherung verursachte daher ein unwillkürlich tiefes Einatmen meinerseits.


    Ich hatte so viele Fragen, suchte Antworten in seinen Augen, fand einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den ich so noch nie bei ihm gesehen hatte und staunte ihn mit großen Augen an. Gleichzeitig meldeten sich meine Herzklopfen zurück. Derart im Widerstreit der Gefühle, musste ich schlucken. Umso mehr Chaos herrschte in mir, als er schließlich mein Gesicht berührte.


    Weil Denken unmöglich wurde, schaltete ich den Kopf ab. Seine spürbare Vorsicht, die ich zunächst teilte, wurde wenig später durch den Ausdruck in seinen Augen fortgespült. Keine Frau würde je Verlangen missdeuten können, dazu bedurfte es keiner Schulung oder irgendwelcher Erfahrung, diese Deutung verlief rein instinktiv. Doch der prickelnde Moment schwenkte wenig später in eine geschwisterliche Empfindung um, weil er seine Stirn an meine lehnte. Diese Geste hatte etwas Beruhigendes, Gewohntes für mich und so sehr ich vorhin auch geglaubt hatte, keinen Moment länger die Anspannung aushalten zu können, bedauerte ich nun die Entschärfung der Lage.


    Wenn ich aber angenommen hatte, das Auf und Ab der Gefühle war beendet, sah ich mich getäuscht: Schneller als ich denken konnte, suchten seine Lippen die meinen, verweilten kurz, lösten Gefühlsstürme aus und zogen sich wieder zurück. Bei den Göttern, die Situation war geeignet, den Verstand zu verlieren!


    Ich versuchte im Zeitraffertempo zu ergründen, was ich wollte. Da gab es Sophus, keineswegs unwichtig für mich. Es gab die Verbindung der Vergangenheit, die eigentlich gegen Corvi sprach. Seit heute wusste ich aber auch, was schon länger in mir geschlummert hatte: Seine Bedeutung ging über die eines ehemaligen Bruders hinaus. Mehr noch: Ich konnte mir kaum vorstellen, ihn an der Seite einer anderen Frau zu sehen. Was also tun? Am besten nicht denken, sondern einfach nur fühlen.


    Aus einem Bedürfnis heraus hob ich nun meinerseits eine Hand, um sie auf die von Corvi zu legen. Es musste richtig sein, was wir taten, denn es fühlte sich gut an. Ein erneuter Kuss schien diesen Gedanken besiegeln zu wollen und erwachendes Verlangen spülte jedwede Zurückhaltung fort. Ich tilgte den verbleibenden Abstand zwischen uns, suchte seine Nähe, den Körperkontakt. Wie von selbst fand die noch freie Rechte den Weg an seine Seite und strich wenig später, ohne von mir bewusst kontrolliert zu wenden, nach unten.

  • Der Kuss war befreiend. Nichts anderes beschrieb das Gefühl im ersten Moment besser als jenes Wort. So lange war ich hin und her gerissen gewesen, hatte nicht gewusst, was ich wollte und was angemessen sein würde. Für den Augenblick der Nähe wusste ich es mit unumstößlicher Sicherheit, doch mit dem Entzug der Lippen war ich noch ratloser als zuvor. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich Deandra derart überrumpelt hatte, weil ich meinem Verlangen nachgegeben und Schwäche gezeigt hatte in einem Moment, in dem ich doch eigentlich hätte stark sein sollen für sie, hätte ihr eine Stütze sein und sie auf den rechten Weg bringen sollen. Obwohl er nicht anwesend war, schien Sophus einen Schatten auf mich zu werfen.


    Die Lippen nur wenige Zentimeter von ihren getrennt, verhielt ich und sah sie beinahe zerknirscht an. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie den Kuss erwidert hatte, daher suchte ich in ihrem Blick nach Anhaltspunkten, huschte flüchtig zu ihrer schmalen Hand, die auf meiner ruhte, und wieder zurück. Nein, ich wusste weder, was in mich gefahren war, sie so zu bedrängen, noch wusste ich, warum sie darauf eingegangen war. Doch, was schlimmer war, die Situation erforderte beinahe, dass ich mich nicht umwandte und ging, sondern mich ihr erneut zuzuwenden. Dachte ich auch nur einen flüchtigen Moment daran, Widerstand zu leisten, erlag ich der Versuchung schon in der nächsten Sekunde. Meine Rechte glitte unter Deandras Hand hervor und wanderte in ihren Nacken, die Linke glitt über Schulter und Oberarm und suchte ihren Weg an ihren Rücken, um sie noch näher zu mir zu holen. Der Duft ihres Haares war betörend, jener ihres Körpers nahezu narkotisierend. Es war schwer für mich, einen klaren Gedanken zu fassen, daher gab ich es bald auf und dachte an nichts mehr außer ihr und ihrem Körper, den ich in den Armen hielt, die zarten Lippen und die warme und seidige Haut.


    Irgendwann fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Doch ich kam zu keinem rühmlichen Ergebnis, daher beendete ich den Kuss und entzog mich wieder, diesmal noch etwas zerknirschter dreinsehend als zuvor. Etwas hatte unsere Beziehung zueinander infiltriert und beeinflusst. Und mit meinem unbedachten Verhalten hatte ich es in eine Richtung gelenkt, die Deandra einfach nicht recht sein konnte, wenn man es eingehender betrachtete. Sie liebte Sophus und war versprochen. Ich hatte demnach kein Recht, mich einzumischen, auch wenn mein Wunsch war, genau jenes zu tun.


    "Es tut mir leid", flüsterte ich bei dieser Erkenntnis, wich ihrem Blick aus und sah aus dem Fenster, vor dem weiße Wolken in Freiheit vorbeizogen.

  • Dass mich nun seine Arme umfingen, war folgerichtig und es fühlte sich gut an. Ich registrierte das ausbleibende schlechte Gewissen, das mich sicherlich noch vor Wochen ereilt hätte, wunderte mich aber nur kurzzeitig darüber. Was sollte mir auch passieren? Ich fühlte mich sehr gut aufgehoben. Immerhin lag es mehr als ein Jahr zurück, als ich Gleiches bei Sophus empfunden hatte.


    Gegen die Beendigung des Kusses hatte ich nichts einzuwenden, wohl aber gegen den Verlust des Körperkontakts. Ich stellte fest, dass mir gerade der sehr wichtig war und entsprechend verständnislos reagierte ich auf den von ihm geschaffenen Abstand. Eine kleine Falte erschien zwischen den Brauen, die jedoch keineswegs Ärger, sondern vielmehr Ratlosigkeit ausdrückte. Und nein, ich wusste nicht, was in ihm vorging. Vieles wusste ich seit kurzem nicht mehr.
    Obwohl im Unklaren darüber, was ihn zu diesem erneuten Rückzug veranlasst hatte – Scham, die Einsicht eines Irrtums, Reue – stellte ich, allen Mut zusammen nehmend, eine – wie ich fand – berechtigte Frage:


    „Wie oft wollen wir uns eigentlich noch gegenseitig entschuldigen?“, fragte ich leise, suchte seinen Blick, bekam ihn aber nicht zu fassen.


    „Und was genau tut dir leid?“ Ich setzte einen Schritt nach vorn und brachte mich dabei in eine solche Position, bei der ein Vermeiden des Blickkontaktes nur noch durch Drehen des Kopfes möglich war. Gut, er konnte weiterhin über mich hinwegsehen – verhindern konnte ich das nicht, aber meine eindringliche Körperhaltung sprach hoffentlich Bände.

  • Dass sie näher trat, veranlasste mich, den Blick von den Dingen außerhalb des Hauses zu reißen und sie wieder anzuschauen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht gefiel mir nicht, er war eine Mischung aus Verständnislosigkeit und Verwirrung, und noch weniger verstand ich ihn. Bedeutete das nicht, dass es für sie in Ordnung gewesen war? Dachte sie denn nicht mehr an ihre bevorstehende Verlobung, so Sophus sie noch wollte? Mein Gesicht wies einen prüfenden Ausdruck auf, während ich über ihre Fragen nachdachte.


    "Vielleicht ist es Unsicherheit, die meine Worte beeinflusst, Deandra. Es war nicht beabsichtigt, ich hatte mich nicht..." Unter Kontrolle? Im Zaum? Sie musste unweigerlich denken, dass ich jeder tunica mit einem weiblichen Wesen darin nachstieg, und so war ich ganz sicher nicht. Um das Satzende unter den Tisch fallen zu lassen, hob ich eine Hand und strich ihr über Strin und Wange.


    "Mir tut leid, dass ich dich überfallen habe. Weißt du, ich habe in letzter Zeit das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Ich bewege mich auf unbekanntem Terrain."
    Ich blickte sie ernst an, musste dann aber schmunzeln und fügte hinzu:
    "Und unsere Gespräche in letzter Zeit haben nicht gerade dazu beigetragen, dass ich mich besser zurechtfinde, seitdem du ausgezogen bist."


    Und dann war da natürlich noch mein Vetter Sophus, den ich im Hinterkopf behielt. In mir reifte ein Entschluss, über den ich ausschließlich im geheimen nachdachte. Je länger ich darüber nachgrübelte, desto erforderlicher schien mir der Gedanke. Er würde an anderer Stelle und zu einer anderen Zeit erörtert werden. Vorerst stand ich noch nahe bei Deandra und rief mir ins Gedächtnis zurück, dass ich die Nähe zu ihr unterbrochen hatte, um ihr und mir ausreichend Zeit zu geben, über das Geschehene nachzudenken. Doch noch wollte ich ihre Reaktion abwarten.

  • Vielleicht zwei oder drei Lidschläge stand ich regungslos da, sah ihn sprachlos an und versuchte zu verstehen. Da war jemand, den ich vor Momenten noch begehrt hatte, der verstanden hatte, durch seine forsche Art ein gewisses Feuer zu entfachen. Es hatte mir imponiert, denn ich mochte Männer, die wussten, was sie wollten. Doch der Corvi, der gerade vor mir stand, war zögerlich. Er war besonnen, wie mein eigener Vater. Er entschuldigte sich für das, was ich gut gefunden hatte und lobte offensichtlich das, was mich just in diesem Augenblick abschreckte.


    Während dieser Erkenntnis verschloss ich mich. Bei aller Ernüchterung, keimte sogar mehr und mehr Ärger auf. Wieder runzelte ich die Stirn, der Atem ging schneller und ich brauchte Raum, also trat ich von ihm zurück. Fast hätte er mich erobert, aber nur fast. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mit erhobenem Kopf in einiger Entfernung an Corvi vorbei. Ich war nicht nur enttäuscht, auch im Stolz verletzt, unzufrieden mit mir selbst, vor allem aber mit ihm.


    Jetzt wollte ich entweder alleine sein, um ihn nie wieder so nahe an mich heranzulassen, oder von meiner schlechten Meinung über ihn korrigiert werden. Einen Mittelweg gab es nicht. Momentan konnte ich die Situation auch nicht ruhig überdenken, ich handelte und empfand stets impulsiv. Und Worte? Nein, Worte kamen jetzt nicht über meine Lippen. Ich hatte, ohne es bewusst zu veranlassen, einfach dichtgemacht.

  • Im ersten Moment erinnerte mich ihr Verhalten an das eines trotzigen Kindes, das nicht bekam, was es begehrte. Im zweiten Moment sah ich es als das, was es meiner Meinung nach war, nämlich eine verletzt Abwehrreaktion, resultierend aus Enttäuschung. Ich hatte Deandra nicht oft so erlebt, aber wenn, so war es stets sinnlos gewesen, weiter mit ihr reden zu wollen. Es kam meist nicht einmal eine Antwort, und so wartete ich auch hier vergeblich darauf, dass sie noch etwas sagte. Stattdessen verschränkte sie sogar noch die Arme vor der Brust, was die Distanzierung von mir noch deutlicher machte. Ich fühlte mich schlecht, trug es aber mit Fassung. Lediglich ein vernehmbares Seufzen drang über meine Lippen, während ich sie betrachtete.


    "Ich wüsste nur zu gern, was nun in dir vorgeht, Deandra, aber das wird vermutlich dein Geheimnis bleiben."


    Die Situation erforderte eigentlich keine Worte, nur die Zielstrebigkeit meinerseits, und doch konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihr erneut nahe zu kommen. Nicht mit dem Wissen darüber, dass sie morgen vielleicht schon in Sophus' Armen liegen und das gleiche tun würde wie mit mir eben. Deandra war nicht die einzige, die ihren Stolz hatte, auch wenn er jetzt vielleicht etwas angeknackst sein mochte. Mir blieb im Grunde nichts anderes, als nun zu gehen, sie allein zu lassen mit sich und ihren Gedanken. Und wenn sie nur halb so aufgekratzt war wie ich, reichte das immerhin, um sie mehrre Stunden mit Nachdenken zu beschäftigen.


    Ich senkte kurz den Kopf und verweilte, dann wandte ich mich um, klaubte das Pergament, meinen Vorwand, vom Nachtspint und ging zur Tür. Dort blieb ich noch einmal stehen und blickte zu Deandra.


    "Überlege, was du willst, Deandra. Den Bruder oder etwas, das du nicht beeinflussen kannst", sagte ich leise und ohne ihr damit einen Vorwurf zu machen.
    Die Tür öffnete und schloss sich leise, und ich war fort.

  • Was sollte denn der letzte Satz? Wenn die Stirn nicht immer noch gerunzelt wäre, würde sie spätestens jetzt in Falten liegen, wo ich ihm hinterher sah. Wollte er mir drohen, wie man einem unartigen Kind begegnet? Oder wollte er damit gar ausdrücken, ich wüsste nicht, was ich will? Er war es doch, der sich zu keiner Entscheidung durchringen konnte? Was meinte er überhaupt mit: „Etwas, das ich nicht beeinflussen kann?“ ICH konnte alles beeinflussen, es sei denn, die Götter wollten anderes.


    Ich setzte mich auf den Rand des Bettes, legte die Hände in den Schoß und dachte über die alles entscheidende Begegnung damals mit Sophus nach. Er hatte mein Herz im Sturm erobert, er war damals Centurio, vielleicht lag es daran. Vielleicht brauchte ich einen energischen Mann, einen, der mir sagte, wo es lang ging. Ich wollte nie zu viel Macht besitzen, lieber ein ganz klein wenig dominiert werden. Gut, bei Sophus war es ein ganz klein wenig zu viel. Offensichtlich war kein Mann perfekt, so wie wohl auch keine Frau perfekt war, aber besser, ein Mann, der etwas zu viel als etwas zu wenig dominierte. Für Letztere war ich zu stark.


    Ich legte mich wenig später auf das Bett, drehte mich auf die Seite – die Decken zwischen den Beinen festklemmend – und bis an die Nase gezogen. Derart und vollkommen regungslos harrte ich lange aus, es mochten Stunden vergehen. Das Abendessen ließ ich aus.

  • Auf dem Weg in mein Zimmer hatte uns außer einigen Sklaven offensichtlich niemand gesehen, aber großartig umgeschaut hatte ich mich nicht. Vielmehr beschäftigte mich der Gedanke, was nun auf mich zukam und wie ich die Situation im Griff behalten konnte, ohne auf das Stillen meiner Neugier verzichten zu müssen. Würde ich Corvi überhaupt ausbremsen können? War das eigentlich fair? Irgendwie musste sich alles ergeben. Fest stand, ich wollte jetzt bei ihm sein, seine Nähe und seine Zuneigung spüren, dieses rauschartige Gefühl nochmals erleben und … und … und ich wollte wissen, wie er aussah, wie er sich anfühlte – ja, vor allem das. War er dort warm oder eher kühl? War er weich oder eher rau? Vollkommen behaart oder weniger? Ja, welche Farbe hatten diese Haare überhaupt? Alles so spannend, ich musste schmunzeln, als ich – im Zimmer eingetroffen – mich ihm wieder zuwandte.


    Tja, aber als ich in seine Augen blickte, schwand der Mut und irgendwie wurden die Knie sogar weich. Ich spürte wieder diesen erbarmungslos lauten und schnellen Herzschlag, der meine Unsicherheit bestimmt verraten würde. Hin und her gerissen zwischen aufkommenden Verlangen, der seit Tagen quälenden Neugier und übergroßer Nervosität, nannte ich ihn erstmals bei seinem Vornamen.


    „Marc?“ Dieses Wort drückte vieles aus: Erstmalige Vertrautheit auf ganz anderer Ebene, Unsicherheit, weil ich so wenig – im Grunde gar nichts über Intimität wusste und es drückte eine bewusste Abgrenzung von der Anrede anderer Familienmitglieder aus. Ich war nie wie andere, wollte es auch niemals sein.

  • Vermutlich hatte Deandra sich weitaus mehr Gedanken darum gemacht, ob uns jemand sah und wer das war. Mich würde sicherlich niemand so schnell vermissen, und auch Deandra nicht, denn sie war die einzige gewesen, die als Dame noch anwesend gewesen war, soweit ich mich entsinnen konnte. Sie ging voraus, ihre kleine Hand geborgen in meiner, und schleuste mich so durch die Gänge in ihr Gemach. Die Tür schloss ich hinter uns, ließ Deandra gleichermaßen los und wandte mich dann im Dunkel ihres cubiculum um. Ihre Augen glitzerten im spärlichen Mondlicht, welches durch das hohe Fenster hereinfiel, und meine Augen brauchten einen Moment, um das zu erahnen, was man im diffusen Licht nurmehr erahnen, nicht aber deutlich sehen konnte. Das war es auch, was den Reiz ausmachte. Diese vielen zerfaserten Konturen dunkler Schatten, die fließend ineinander überzugehen schienen und so ein ununterbrochen Muster der eigenwilligen Art bildeten.


    Ich trat mit bedächtigen Schritten an Deandra heran, griff nach ihrer Hand und legte sie auf jene Stelle meiner togabedeckten Brust, unter der mein Herz kräftig und in gleichmäßigem Takt schlug. Heißer Atem entfloh meinen Lippen, in Vorfreude dessen, was sich bald ereignen würde. Das Wort, eine Abwandlung meines praenomen, ließ mich innehalten in der Bewegung, die Deandra an mich gezogen hätte, wenn sie weiter ausgeführt worden wäre. So aber blinzelte ich lediglich irritiert. Deandra hatte mich nie Marcus genannt, wie es andere taten. Familienmitglieder und enge Freunde, um Beispiele zu nennen. Sie war die einzige, die es nie getan hatte. Und nicht nur deswegen war ich irritiert, sondern auch, weil sie wie bei der Erwähnung meines cognomen nun auch den praenomen abwandelte und ich mir durchaus darüber im Klaren war, was ebendies implizierte. Eigentlich mochte ich keine Kose- oder Spitznamen, denn sie verniedlichten den Namen eines Mannes und machten aus dem ehrbaren gens-Mitglied ein niedliches Kuschelbärchen, das doch keiner mehr so recht ernst nehmen mochte. Aber es war Deandra, und solange sie mich nicht öffentlich Marc nannte, konnte ich damit leben, wenn sie diesen Namen für mich auserkoren hatte, um meine besondere Stellung in ihrem Herzen deutlich zu machen.


    Schlussendlich zog ich sie nun doch an mich heran und küsste sie, ohne auf die Erwähnung des Namens einzugehen. Der Blick hatte sicher auch Bände gesprochen und verdeutlicht, dass ich diese Entwicklung wertschätzte. Den eventuellen Blicken streunender Sklaven und angetrunkener Gäste entflohen, nahm ich nun keine Rücksicht mehr auf die Umgebung, sondern tauchte gänzlich in Deandras Atmosphäre ein. Meine Hände flossen förmlich von ihrem Kopf, wo ich sie eben noch gehalten hatte, über den Nacken zu den Schultern, wo mich bei der Berührung der goldenen Fibeln die Fantasie durchzuckte, die ich gehabt hatte. Sie jagte einen Schauer in meine Lenden und ließ mich aufseufzen. Nichts und niemand hielt mich mehr davon ab, die Spangen zu lösen und diese Fantasie nun auszuleben, sie tausendmal intensiver und um so vieles schöner zu erleben, als sie ein Mann allein in einem Badezuber erleben konnte. Die linke Fibel löste sich mit einem leisen Klicken, und der Stoff sank halbseitig gen Körpermitte. Ich hielt inne und sah Deandra an, wie schön sie war, wie begehrenswert. Sie war älter als ich - na und? Meine Lippen zitterten vor Begierde, sodass ich sie in einem neuerlichen Kuss mit ihren zarten Lippen bedecken musste, während meine Rechte behutsam tastend vorrückte, schließlich ihre Brust umschloss und sacht streichelte.

  • Der Verstand riet zum Rückzug, die Empfindungen des Körpers preschten jedoch weiter vor. Zu allem Durcheinander kam das Bewusstsein, vollkommen unwissend zu sein; die Befürchtung, vielleicht naiv und unerfahren zu wirken; die Sorge, mich vielleicht ungeschickt anzustellen, mich zu blamieren. Er musste das spüren, da war ich sicher, und deswegen senkte ich flüchtig den Kopf. Aber Marc war einfühlsam, das war er schon immer. Und so war ich erleichtert, als er die Initiative übernahm, indem er meine Hand führte. Warum er kurzzeitig stockte, konnte ich nicht ergründen, aber es war mir auch egal.


    Zeit bleib ohnehin nicht, um darüber nachzudenken, denn alsbald jagte ein Ereignis das andere: Zuerst Küsse, dann Berührungen, schließlich dieses Aufseufzen vom ihm, dass mich mehr als alles andere berührte. Ich stand augenblicklich unter dem Einfluss abertausender Miniaturschauer, die sich, angefangen von den Schultern, über Arme, Bauch, vor allem den Unterleib bis hinunter in die entlegensten Winkel der Beine ausbreiteten. Und ohne das ich es wollte, kam ein vergleichbarer Laut über meine Lippen, den ich mit Verwunderung registrierte, aber alsbald wieder vergaß, denn meine Tunika wurde inzwischen nur noch von einer Fibel und der Kordel um den Leib gehalten. Der Atem wurde knapp, als mich seine Hand berührte …


    Bei aller Überflutung von Empfindungen und Eindrücken … plötzlich keimte Mut auf – getragen von Neugier, vom Rausch der Situation und wachsendem Verlangen. Meine Bedürfnisse rückten in den Vordergrund. Aber … hatte ich mich je mit Corvis Kleidungsvorlieben beschäftigt? Wusste ich, ob er zu den wenigen Traditionalisten gehörte, dee entgegen der Sitte nichts unter der Toga trugen? Aber egal, ob nun eine Tunika zum Vorschein kam oder nicht, ich musste zunächst irgendwie diese Stoffmengen von ihm bekommen.


    Es war duster im Raum, also musste ich mich im Geist an die Trageweise einer Toga erinnern. Selbstverständlich hatte ich niemals zugesehen, wenn ein Mann eingekleidet wurde und noch viel selbstverständlicher hatte ich im Anlegen solcher Kleidungsstücke keinen blassen Schimmer. Dafür waren die Sklaven da. Also, kurz überlegen … Der unterste Zipfel musste vorn über die Schulter hängen, denn danach ging es ja über den Rücken, um den Stoff anschließend – der rechte Arm war ja immer frei – unter diesem durch und dann über die linke Schulter zu werfen. Also das Ganze rückwärts abspulen …


    Ich legte meine Hand seitlich an seinen Kopf, einem Kuss auf die Lippen folgten weitere, gleichzeitig strich ich über seinen Hals zur Schulter und schob die Toga behutsam zur Seite, bis das Schwergewicht die Stoffmengen erfasste und sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu Boden rauschten. Allerdings hingen sie jetzt als nutzloser Ballast zwischen ihm und mir, was inakzeptabel war. Ich lächelte, als ich mit der Linken danach griff, sie seitlich wegzog und achtlos wieder losließ. Lange würde sich der verbleibende Stoffrest, der sich noch von der Achselhöhle über Rücken und linke Schulter zog, sicher nicht halten können. Wenn er abrutschte, war er jedenfalls nicht im Weg.


    Es war die blanke Neugier in Megagröße, die mich mit der ungewohnten Situation relativ zielsicher umgehen ließ, die mich nun veranlasste, massiv gegen meine Aufregung vorzugehen, die mich hilfesuchend seine Lippen finden ließ, vielleicht um ihn, um mich abzulenken … abzulenken von der forschenden Hand, die jetzt nichts mehr zurückhalten konnte, die zunächst Kontakt zu seiner Brust aufnahm, aber nur einen Herzschlag lang dort verweilte und nun langsam nach unten strich … den Bauchbereich überquerte, seitlich zur Leiste auswich, um vor dort wieder zur Mitte zurückzukehren … in einen Bereich hinein, der massive Hitze ausströmte und eine nahezu magische Anziehungskraft auf mich ausübte.



    edit: Rechtschreibung

  • Ich war, nun ja, erstaunt. Das traf es vermutlich am ehesten. Deandra verhielt sich ganz und gar nicht so, wie ich es angenommen hatte. Statt mir die Initiative zu lassen, sie zu führen und ihr zu zeigen, was sie tun sollte, nahm sie das Ruder kurzzeitig in die Hand. Ihre warme, kleine Hand wanderte von meiner Wange hinab auf die Schulter, wo sie sich mit einer kleinen Bewegung Camryns Zorn einhandelte, denn mit einer knappen Handbewegung rauschte die toga gen Boden und bildete hinter meinen Füßen einen schon recht ansehnlichen Berg, zu dem in Kürze noch mehr Stoff hinzukommen würde. Hoffentlich wusste Deandra, was sie tat, und konnte mir hinterher wieder dazu verhelfen, die toga wieder anzulegen. Anderenfalls hatten wir ein minderschweres Problem, denn wenn ein Sklave kommen musste, mochten gerüchte ihre Bahn ziehen und Vesuvianus erreichen. Und was sich dann abspielen mochte, nein, daran wollte ich jetzt nicht denken. Wichtig war jetzt nur, dass Deandra mir nahe war und mich, ja, entkleidete. Das allein war schon seltsam genug. Unter er toga kam allmählich eine tunica zum Vorschein, denn ich war nicht jener extreme Traditionalist, den Deandra vielleicht hinter mir vermutete. In deckendem Beige war sie gehalten, und hob sich somit kaum von der Haut ab, an die sie angrenzte und welche sie bedeckte. Deandra indes schien es nicht zu stören, denn sie legte ihre Hand auf meine Brust und fuhr daran entlang gen Boden, wo sie unweigerlich das streifen musste, was sich inzwischen nach der hitzigen Umarmung ihres Schoßes sehnte. Die toga löste sich nun gänzlich, und so stand ich lediglich in tunica und subligaculum vor ihr, die cabatinae noch tragend und ein drängendes Verlangen in der Brust nährend, das mit jeder Berührung Deandras immer noch weiter anwuchs und bald aus mir herausbrechen würde. Die toga ließ ich liegen, wo sie war; pochenden Herzens und mit sichtlichem Widerwillen angelte ich ihr Handgelenk, ehe sie mich an meiner intimsten Stelle berühren konnte. Auch das andere Handgelenk umfasste ich und unterband somit jegliche Aktivität ihrerseits, um sie nun, selbst langsam vorwärts gehend, rückwärts zu dem großen Bett hin zu dirigieren. Ohne Worte verstanden wir uns, so hatte ich den Eindruck. Ohne Gesten gingen wir aufeinander ein, denn wir kannten uns schon so lange. Heiße Leidenschaft durchflutete meinen Körper, brachte ihn zum Lodern und ließ mich die tunica über meinen Kopf ziehen. Nun hatte sie nurmehr das subligaculum zu lösen, welches seitlich verknotet und mit einer geschickten Hand zu öffnen war. Kaum hatte ich mich des lästigen Stoffes entledigt, der mir die feuchten Haare etwas vom Kopfe abstehen ließ, machte ich mich auch an Deandras rechter Fibel zu schaffen, die mit einem Klicken der forschen berührung nach- und Deandras Körper freigab. So hatte ich sie noch niemals gesehen, und daher war es auch wenig verwunderlich, dass ich einen Moment einfach nur vor ihr stand und ihre nackte Haut betrachtete, auf der das Mondlicht bläuliche Reflexe zu erzeugen schien. Hellwach und nurmehr vom Gedanken beseelt, ihr in dieser Nacht meine Liebe zu beweisen. Bald hatte ich meine Erkundungstour mit den Augen beendet, trat erneut an Deandra heran, sodass ich ihre Brüste an meiner nackten Haut in einer innigen Umarmung fühlen konnte. Ich führte den Kopf an ihr Ohr, atmete ein, zweimal konzentriert und flüsterte sodann mit vor Verlangen zitternder Stimme: "Aphrodite wäre neiderfüllt, würde sie dich nun sehen."


    Der Verlockung, selbst das subligaculum zu lösen und sie auf das Bett zu drängen, widerstand ich nur mit knapper Not. Sie war nicht einfach nur eine Liebelei, sondern jemand, das mir sehr wichtig war. Vielleicht die wichtigste Person, die ich hatte. Ihr Vertrauen wollte ich nicht missbrauchen, indem ich nun einfach nahm, was ich begehrte, sondern sie miteinbezog.

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