Es war am zweiten Tag der Saturnalien, am späten Nachmittag, in einer abgelegenen Ecke des großen Gartens. Eine Weile lang war Rutger kreuz und quer den kleinen Pfaden gefolgt, die sich verspielt durch das Gelände schlängelten, bis ihn seine Schritte zufällig zu diesem lauschigen Fleckchen hier geführt hatten. Es war eine kleine Rasenfläche, auf einer Seite umfasst von hohen, jetzt kahlen Rosenbüschen, auf der anderen grenzte sie bereits an die efeuberankte Gartenmauer an. In der Mitte wuchs eine große Schirmpinie, unter der eine Bank und ein kleiner runder Tisch aus rot geädertem Marmor zum Verweilen einluden.
Die Sonne stand blass am eisigen Winterhimmel, doch einige Strahlen fanden ihren Weg durch die milchigen Dunstschleier, ließen den Marmor rötlich leuchten und die rissige Struktur der Baumrinde plastisch hervortreten.
Rutger trat über das vergilbte Gras auf den Baum zu, fuhr kurz mit der Hand über die Oberfläche des Tisches, auf dem ein paar welke Blätter lagen, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den breiten Stamm der Pinie. Er drehte sein Gesicht zur Sonne, schloss die Augen und spürte die wärmenden Strahlen auf der Haut. Schön.
Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen genoss er die Ruhe und die Weite um sich herum, und die Luft, die frisch nach Erde und Holz roch. Dass man ihn sicher schon bald wieder in das dunkle Drecksloch sperren würde, schob er weit von sich, brach ein Stück von der Rinde ab und sog den harzigen Duft ein. Die Bilder des Vorabend standen ihm noch immer lebhaft vor Augen, zuerst das bizarre Fest, dann das langersehnte Zusammensein mit Arrecina. Er schlug die Augen wieder auf, sah verträumt hinauf zu den Zweigen der Pinie, die sich dunkel vor dem verschleierten Blau des Himmel abzeichneten, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er seinen Gedanken nachhing… wie forsch sie ihn geküsst hatte… wie hold ihr Antlitz war… wie berauschend ihre Nähe… wie vollkommen sie ihm den Kopf verdreht hatte…
Leise begann er vor sich hinzusummen, eine schwungvolle Melodie, in die er einzelne Worte einflocht, bis sie zu einem Lied wurden, einem langen Lied aus seiner Heimat, das in vielen prahlerischen Strophen die verwegenen Taten seiner Ahnen rühmte. Rutgers Stimme war rau, und er sang nicht sehr laut, doch klangvoll. Stürmischer Überschwang und Trotz lag darin, und auch eine vage Wehmut.
"…Heilsa! wir sind Hallvardungen / Tiwaz' Spross
Wie grausam das Schicksal auch sei / stärker ist unser Mut
Kühner schlagen die Herzen / höher steigen die Seelen
Keine Angst kann uns schrecken / keine Macht uns entzweien
Heilsa! Hallvards Söhne / werden siegreich und tapfer sein…"