Hortus | Feinde fürs Leben

  • Es war am zweiten Tag der Saturnalien, am späten Nachmittag, in einer abgelegenen Ecke des großen Gartens. Eine Weile lang war Rutger kreuz und quer den kleinen Pfaden gefolgt, die sich verspielt durch das Gelände schlängelten, bis ihn seine Schritte zufällig zu diesem lauschigen Fleckchen hier geführt hatten. Es war eine kleine Rasenfläche, auf einer Seite umfasst von hohen, jetzt kahlen Rosenbüschen, auf der anderen grenzte sie bereits an die efeuberankte Gartenmauer an. In der Mitte wuchs eine große Schirmpinie, unter der eine Bank und ein kleiner runder Tisch aus rot geädertem Marmor zum Verweilen einluden.
    Die Sonne stand blass am eisigen Winterhimmel, doch einige Strahlen fanden ihren Weg durch die milchigen Dunstschleier, ließen den Marmor rötlich leuchten und die rissige Struktur der Baumrinde plastisch hervortreten.
    Rutger trat über das vergilbte Gras auf den Baum zu, fuhr kurz mit der Hand über die Oberfläche des Tisches, auf dem ein paar welke Blätter lagen, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den breiten Stamm der Pinie. Er drehte sein Gesicht zur Sonne, schloss die Augen und spürte die wärmenden Strahlen auf der Haut. Schön.


    Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen genoss er die Ruhe und die Weite um sich herum, und die Luft, die frisch nach Erde und Holz roch. Dass man ihn sicher schon bald wieder in das dunkle Drecksloch sperren würde, schob er weit von sich, brach ein Stück von der Rinde ab und sog den harzigen Duft ein. Die Bilder des Vorabend standen ihm noch immer lebhaft vor Augen, zuerst das bizarre Fest, dann das langersehnte Zusammensein mit Arrecina. Er schlug die Augen wieder auf, sah verträumt hinauf zu den Zweigen der Pinie, die sich dunkel vor dem verschleierten Blau des Himmel abzeichneten, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er seinen Gedanken nachhing… wie forsch sie ihn geküsst hatte… wie hold ihr Antlitz war… wie berauschend ihre Nähe… wie vollkommen sie ihm den Kopf verdreht hatte…
    Leise begann er vor sich hinzusummen, eine schwungvolle Melodie, in die er einzelne Worte einflocht, bis sie zu einem Lied wurden, einem langen Lied aus seiner Heimat, das in vielen prahlerischen Strophen die verwegenen Taten seiner Ahnen rühmte. Rutgers Stimme war rau, und er sang nicht sehr laut, doch klangvoll. Stürmischer Überschwang und Trotz lag darin, und auch eine vage Wehmut.
    "…Heilsa! wir sind Hallvardungen / Tiwaz' Spross
    Wie grausam das Schicksal auch sei / stärker ist unser Mut
    Kühner schlagen die Herzen / höher steigen die Seelen
    Keine Angst kann uns schrecken / keine Macht uns entzweien
    Heilsa! Hallvards Söhne / werden siegreich und tapfer sein…"

  • Leise klackten die Steine gegeneinander als Marcus über einen strahlend weißen Kiesweg des Gartens schritt. Der Wind spielte mit dem Saum seiner paenula, die aus dicken und dunkelgrünen Fasern gewebt worden war. Kleine Wellen kräuselten sich auf dem Zierfischteich, munter schwammen die Fische im fahlen Licht der Sonne hin und her. Einige Blätter vom nahen Baum schwammen braun und tot auf der Oberfläche des glitzernden Wassers. Sinnierend die Reflexionen betrachtend blieb Marcus vor dem Zierfischteich stehen und sah unverwandt auf die Fische, schien sie um die Einfachheit ihres Lebens zu beneiden. Schwimmen, fressen, schwimmen. Schliefen Fische eigentlich jemals? Nachdenklich fuhr sich Marcus mit seiner Hand über das Kinn. Die übliche tiefe und Gallenverseuchte Melancholie nach einem durchzechten Nacht hatte ihn im festen Würgegriff. Die Welt- trotz der schwachen Versuche der wenigen Sonnenstrahlen- nun die Welt war einfach schlecht. Nur wenig Muse war ihm noch vergönnt, schon morgen würde er weiterreiten müssen, zurück zur legio.


    Gedanken verloren bückte sich Marcus und griff nach einem weißen Stein. Glatt und makellos lag er in seiner Hand, gaukelte ihm eine zarte und weiche Oberfläche vor. Samtig, das Wort kam ihm in den Geist. Samtig wie die Haut einer Frau und innen so hart wie ein Mann? Marcus grinste, fand den Vergleich selber eher absurd und warf den Stein in den Teich. Erschrocken stoben die Fische auseinander, Wellen schwappten auf der Wasseroberfläche und langsam beruhigte sich das Wasser wieder. Der Stein versank im Wasser, war von oben gut zu sichten. Auf eine gewisse Weise hatte ihn das Gespräch mit Manius am heutigen Mittag aufgemuntert, setzte Marcus doch seine ganze Hoffnung in seinen Vetter was das Lösen des Fluches anging. "Früher oder später musst du dich deiner Pflicht stellen, Marcus!“ Wie ein schwerer Stein wogen die Worte in seinem Inneren. Es war sicherlich nicht etwas, was er nicht schon vorher von seiner Mutter gehört hatte. Aber langsam reifte in ihm die Erkenntnis, daß die Zeit der Leichtigkeit und das Fehlen der Verantwortung dahin sein würden. Auch würde er sich wohl dazu durchringen müssen, früher oder später mit Felix darüber zu sprechen. Lieber später!


    Gerade als er nach einem weiteren Stein griff, ließ ihn eine Stimme aufhorchen. Seine Hand schloß sich fest um den kleinen weißen Stein und er presste seine Kiefer wütend aufeinander. Seine Nasenflügel bebten und er sog die Luft tief ein. Langsam wandte er sich um, sah in den hinteren Teil des Gartens, woher die Stimme vernehmlich zu hören war. Der Kies knirschte unter seinen calcei als er darauf zuging, einen Rosenbusch zur Seite strich und über das Wintergras lief. Seine lange tunica streifte an einem Zweig des dornigen Gewächses vorbei, der Duft der Pinie stieg ihm würzig in die Nase. Schon gestern hatte er seinen Zorn nur mühsam gezügelt, als der Germane auf dem Fest aufgetaucht war. Eisig schweigend musterte er Rutger, dessen Aufmerksamkeit wohl von den Zweigen und gänzlich anderen Dingen gefangen war. Was er sang, versand Marcus nicht, aber es interessierte ihn auch nicht. Marcus sagte kein Wort, sein Blick fiel auf einen Pinienzweig neben seinem Fuß. Mit zusammengepressten Lippen setzte er den Fuß zur Seite und ließ laut und vernehmlich den Ast unter seinem Fuß zerbrechen.

  • Ein scharfes Knacken riss Rutger jäh aus seinen Träumereien und seinem Gesang. Er verstummte und wirbelte erschrocken zum Ursprung des Lautes herum, wobei seine Hand zum Gürtel fuhr - dort aber natürlich kein Messer fand. Der Neiding! Sein Gesicht verdüsterte sich, zum einen wegen dieses Mannes, den er hasste, zum anderen weil er sich ärgerte, dass er gerade so erschrocken war.
    Kühner schlagen die Herzen, höher steigen die Seelen, sicherlich, aber seit der Römer ihn in den Bergen mit einem Stich seines Gladius beinahe, so haarscharf, ins Jenseits befördert hätte, seit der Hauch eines entsetzlich leeren und kalten Abgrundes Rutger angeweht hatte, seit das Nichts ihn lauernd angestiert hatte, begierig ihn zu verschlingen… seitdem machte dieser Mann ihm - Angst.
    Feindselig starrte er ihn an, angespannt und kampfbereit, und beklommen bei der Vorstellung, dass der Römer womöglich herausbekommen hatte, dass er sich letzte Nacht mit Arrecina getroffen hatte…
    "Was willst du?!", fauchte er wütend, stieß sich von dem Baum ab, und ging herausfordernd auf Flavius Aristides zu. Angriff, die beste Verteidigung.


    "Was willst du von mir?! Lass mich doch in Frieden! Lass mir diese Tage, ihr sperrt mich doch früh genug wieder in das Drecksloch, kreuzigt mich oder was weiß ich!"
    Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und weiß traten die Knöchel hervor. Zornbebend brachen die Worte aus ihm hervor, als ein wilde, bittere Anklage.
    "Wäre ich so grausam wie du, Römer, hättest du deine Tochter nie wieder in die Arme schließen können! Sie wäre nur noch Asche, deine Tochter, wenn ich so gehandelt hätte wie du! Asche und verkohlte Knochen, so wie Gytha, die du auf dem Gewissen hast!"

  • Keiner ist glücklich der Sterblichen, keiner; kummerbelastet
    Ist das ganze Geschlecht, welches die Sonne bescheint!


    Kalt glühte die Asche des Hasses in seinem Innersten als er Rutger betrachtete. Das loderne Feuer, die heiße Wut, war schon vor Wochen dar niedergebrannt und hatte ihn innerlich erschöpft zurückgelassen. Marcus war kein Mann, der lange haßte, der solch eine tief empfundene Feindschaft frönte, seine Launen schwankten schnell, ebenso seine Zuneigungs- und Abneigungsgefühle. Doch in diesem Fall war es durchaus anders, denn der Germane hatte seinen kostbarsten Schatz bedroht- seine geliebte Tochter. Keinen Schritt wich Marcus zurück als Rutger wütend und mit der Frage auf den Lippen ihn gar anzuspringen drohte. Düster sah er zu Rutger, presste seine Lippen fest aufeinander. Marcus Wangenknochen mahlten aufeinander, an seiner Schläfe pochte die Ader des Zornes. Den Germanen in dem Garten seiner- Marcus- Familie in Ruhe lassen? Das war ja noch die Höhe der Frechheit. Doch die nächsten Worte trafen Marcus hart, schwerer als er gedacht hätte. Marcus Gesicht verlor an Farbe, er wurde etwas blasser und vergaß für einige Herzschläge zu atmen.


    Betroffen wandte sich Marcus von Rutger ab und sah zur Wintersonne hinauf. Das schlechte Gewissen nagte schon lange wegen dieser Angelegenheit an ihm. Sicherlich waren die Umstände widrig gewesen, Marcus durchaus gewillt, um sich zu verteidigen, auch Germanen zu töten. Warum auch nicht? Marcus war sicherlich kein Friedensbringer oder Verfechter freiheitlicher Gedanken für fremde Völker, nein, er glaubte fest daran, daß die römische Herrschaft eine natürliche Ordnung war- sie waren die Stärksten und Mächtigsten in dieser Zeit. Trotzdem- er mußte schließlich annehmen, daß Gytha in jener Nacht gestorben war- nagte der Tod an seinem Ehrgefühl und in seinem Inneren. Außerdem hatte er die junge Frau gemocht. Marcus ballte seine Hände zur Faust, starrte auf das grüne und verblichene Gras hinunter und holte tief Luft.


    „Wenn ihr mich nicht angegriffen hättet, Du und Deine Leute, dann wäre es niemals zu all dem damals gekommen und zu was heute passiert wäre auch nicht. Du, Du ganz alleine, Germane, hast den ersten Pfeil abgeschossen. Hast mich feige von Hinten angegriffen. Du spuckst hier große Töne, als ob Du ein Ehrenmann bist. Doch das bist Du nicht. Du handelst zu keiner Zeit honorig.“


    Rauh und mit unterdrückter Wut in der Stimme sprach er die Worte, drehte sich zu Rutger um und trat auf ihn zu.


    „Daß das Zelt anfing zu brennen wollte ich nicht, ich hätte doch nicht den Tod einer Frau mir herbeigewünscht. Im Gegenteil, niemals würde ich eine Frau in einen Krieg mit hinein ziehen. Das ist eine Sache von den Männern. Frauen haben schon genug darunter zu leiden. Oder was meinst Du, warum ich DICH zur Geisel genommen habe und nicht Gytha? Aber Du…Du…nimmst ein kleines Mädchen gefangen, verschleppst sie in einen Sturm hinein, überlässt sie schlimmsten Gefahren. Durch Dich ist sie wie ausgewechselt, entsinnt sich nicht mehr an ihre Wurzeln, ihre eigene Familie. Daß man Deinesgleichen als Barbaren erachtet, verwundert mich nach all dem nicht mehr. Arrecina ist noch ein Kind, gerade 14 Sommer alt, und Du bist ein skrupelloser Bastard. Du bist der Kaltherzige von uns Beiden.“


    Starr sah Marcus Rutger an, seine Fäuste entkrampften sich wieder und seine Augen wanderten zu dem Baum hinter Rutger.


    „Ich hätte Dich schon längst getötet, egal, was Aquilius davon halten würde, aber ich halte mich an mein Wort…“


    Marcus wandte sich um…er war dessen müde. Es war alles ein Fehler gewesen, schon vom Ausritt an. Dabei hatte er einfach nur das Land, das ihm fremde Germanien, etwas ergründen wollen. Wollte erfahren, warum die Germanen ihr Land so abgöttisch liebten. Da fiel ihm etwas ein, was er all die Zeit als kaum bedeutungsvoll erachtet hatte. Er drehte sich um und sah zu Rutger.


    "Du haßt uns Römer, uns alle, nicht wahr? Wußtest Du, daß Gytha eine Römerin war?"

  • "Du warst auf unserem Land!", versetzte Rutger wutschnaubend.
    "Im Kriegsgebiet! Ein schneller Pfeil wäre noch zu gut für dich gewesen! Ihr kommt zu uns, stehlt uns mit Hinterlist und Niedertracht unser Land - das Land unserer Götter und Ahnen, das Wertvollste von Allem! - und das obwohl ihr nicht mal was damit anfangen könnt! Für euch Skrälinge, euch verweichlichte Südländer ist es doch viel zu rau! Und du glaubst, du könntest ganz einfach und sicher dort herumreiten um uns auszuspionieren?! Da hast du dich geirrt, und da irrt ihr euch alle! Niemals werdet ihr dort sicher sein, keiner von euch!"
    Er bebte vor Wut, und krallte mit Ingrimm die Fäuste zusammen, als der Römer von Gytha sprach, es wagte, ihren Namen in den Mund zu nehmen, sich gar rechtfertigte.
    "Ich glaube dir kein Wort!", fuhr er auf, "Kein Wort! Du hast sie ermordet, kaltblütig, obwohl sie dir zur Flucht verholfen hat! Sie hat dir doch die Waffe verschafft! Sie hat uns alle angelogen, hat behauptet, du lägest noch immer auf den Tod und würdest keine Fesseln brauchen! - Und natürlich hast du MIR das Messer an die Kehle gesetzt, weil ich der Sohn des Rich bin, für wie dumm hältst du mich?!"
    Allerdings - wozu sollte der Römer ihn eigentlich anlügen? Egal. Es lag doch in deren Natur.
    Fest presste er die Lippen zusammen, als der Neiding von seiner Tochter sprach. Natürlich machte Rutger sich Vorwürfe, und natürlich wollte er nicht dass der Römer das merkte. Verstockt starrte er ihn an, sah ihm trotzig ins Gesicht. Erst vierzehn? Oh, ein bisschen älter hätte er sie schon geschätzt…
    Er sah beschämt zur Seite, sagte tonlos: "Arrecina ist noch immer am Leben. Wäre ich das, was du denkst, hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten, als du uns eingeholt hast."


    "Dein Wort!?" Höhnisch lachte er auf.
    "Dein Wort ist wie das Zischen einer giftigen Natter! Ich hätte dich niemals nach Colonia führen dürfen, wären wir doch beide da im Wald gestorben. Du versprachst mir mein Leben, und, ja, du hast mich nicht abgestochen, viel Schlimmeres hast du mir angetan, übelste Schmach…"
    Der Hass glomm in seinen Augen, er biss die Zähne aufeinander und kämpfte gegen den rasenden Drang, dem Römer jetzt an die Kehle zu springen.
    "Als du in unserer Gewalt warst, Römer", sprach er mühsam artikuliert, "haben wir dich da … gepeitscht? Gedemütigt? Haben wir dich … - Nein, bei uns BARBAREN wurdest du aufgepäpelt! Gut versorgt! Und wir hätten dich bald gegen Leute von uns ausgetauscht, oder dich nach altem Brauche den Göttern übergeben, aber keiner, keiner von uns, hat je versucht, dich zu Dreck unter seinem Stiefel zu machen!"
    Er richtete sich hoch auf, mit Stolz und Würde. "Und dir wird das auch nicht gelingen. Was auch immer ihr euch vormacht, ich bin kein Sklave. Ich bin in eurer Gewalt, ja, euer Gefangener, ja, aber ich habe nichts gemein mit jenen jämmerlichen, hündischen Kreaturen, die vor euch buckeln, euch die Füße lecken. Ich bin freier Chatte, und niemand wird von mir je die Worte hören 'Ich bin ein Sklave', niemals werde ich… - "


    Ein Husten stieg in seiner Kehle auf, schnitt ihm die stolzen Worte ab. Er keuchte, hustete erbärmlich, rang wütend nach Luft.
    "Ich spucke auf dein Wort, Römer.", flüsterte er, als er seine Stimme, wenn auch kratzig, wiedergefunden hatte.
    "Du tötest mich nicht, ja, ich verstehe, du überlässt es einfach jemand anderem. Flavius Aquilius? Ich spucke auf euch alle…"
    Und mit abgrundtiefer Verachtung spuckte er dem Römer vor die Füße. Von loderndem Zorn und bittersten Groll erfüllt stand er da, sprungbereit, die Fäuste geballt, und die Zähne gebleckt, wie ein in die Enge getriebener Wolf. Und langsam drang die Bedeutung dessen, was der Flavier gerade gesagt hatte, bis zu ihm vor.
    "Eine Römerin?", wiederholte er vollkommen ungläubig. "Du lügst. Das ist unmöglich…"

  • An einem anderen Tag, zu einer anderen Stunde wäre in Marcus jäher Zorn aufgestiegen. Sehr wahrscheinlich hätte er diesem nachgegeben und sich auf Rutger gestürzt, um diesen Ausdruck zu verleihen. Doch zu diesem Moment erreichte er in seinem Inneren eine Gelassenheit, um die ihn so manch ein Stoiker beneiden würde. Es lag jedoch nur an den unmäßigen Kopfschmerzen und seiner Trägheit des Schlafmangels wegen. Immer mehr wurde ihm egal, was der Germane von sich gab. Immer weniger interessierte es ihn, ob er dachte, daß er- Marcus- an dem Tod- so sollte sie überhaupt verstorben sein- der römischen Germanin- oder was auch immer sie war- Schuld sei. Das würde er ganz alleine mit sich selber klären müssen, herausfinden, ob die Schuld auf seiner Seele lastete oder nicht. Langsam ging Marcus einige Schritte weiter und blieb neben der Statue einer zierlichen Marmorfrau stehen, dort wo sie an einige Büsche angrenzte blätterte die Farbe an ihrem Gewand ab und fiel in kleinen Flocken auf das vergilbte Gras hinab. Ihr Gesicht sah starr an Marcus vorbei, leblos und mit einem kalten Lächeln. Marcus seufzte unhörbar, fragte sich, ob er nicht einfach weggehen sollte. Warum noch länger sich mit diesem Mann auseinander setzen? Er ist jung, Du bist es nicht…Verblüfft sah sich Marcus um, hatte gerade jemand zu ihm gesprochen? Marcus verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und wandte sich wieder dem Germanen zu, auf dessen wütende Rede und seine Beleidigungen er mit eisigem Schweigen reagiert hatte.


    „In der Tat, sie war eine Römerin. Ist Dir nie der lederne Anhänger um ihren Schwanenhals aufgefallen? Ich denke, Du weißt durchaus was eine bulla ist. Sie war eine Römerin, entstammt einem Römer wie mir. Kann es nicht für Dich dann eine Befriedigung sein, wenn sie tot ist. Anscheinend verdienen in Deinen Augen alle Römer den Tod oder das Verderben, was Du über meine unschuldige Tochter gebracht hast. Und doch, obwohl Du meine Tochter bedroht hast und sie entführt hast, lebst Du noch. Wurde sich nicht um Deine Wunden gekümmert? Stehst Du nicht sogar hier im Garten, obwohl Du eher in den Carcer gehören würdest?“


    Das bringt nichts…er wird stets unbeugsam sein, rebellisch und gefährlich. Marcus stutzte, irgendwie hatte er das Gefühl, jemand würde hinter ihm stehen und mit ihm sprechen. Der Wein…Marcus schüttelte andeutungsweise den Kopf und hatte das dringende Bedürfnis alles mit noch mehr Wein herunter zu spülen. Kühl betrachtete er Rutger. Vielleicht würde dieser beim Exorzismus versterben, hatte nicht Gracchus so etwas angedeutet? Oder Marcus hatte es in seine Worte hineininterpretiert. Er wußte es selber nicht, das Gespräch mit seinem Vetter war nur recht undeutlich noch in seiner Erinnerung, wenngleich es nur wenige Stunden her war. Warum wollten die Götter ihn- Marcus Flavius Aristides- nur derart prüfen, daß sie die Wege von Rutger und ihm haben kreuzen lassen? Vielleicht sollte er einen Auspizen aufsuchen und das in Erfahrung bringen oder das Orakel der Sibylle- wenngleich er natürlich wußte, daß man danach noch weniger schlau war als zuvor. Hätte Rutger nicht seine Tochter entführt, Marcus wäre versucht ihn freizulassen und in seine Heimat zurück zu schicken. Doch es war einfach zu viel passiert.


    „Nun gut, Rutger, Du scheinst mir immer auf alles so eine klare Antwort zu wissen. Weißt natürlich was gut und was falsch ist, wer die Schuldigen und wer die Unschuldigen sind. Dann möchte ich Dir eine ganz einfache Frage stellen. Was würdest Du an meiner Stelle mit so einem Mann wie Dir machen, nachdem was alles in den letzten Wochen vorgefallen ist?“

  • Es schien Rutger, dass er ebenso gut gegen eine Statue hätte anschreien können. Sie hätte kaum weniger Reaktion zeigen können, als Flavius Aristides, der, selbst als er ihn übel beleidigte, diese unnatürliche, geradezu unmenschliche Kälte bewahrte.
    "Nein, es ist nicht wahr!", widersprach er. "Sie war eine Mattiakerin, von ihrem Stamm verstoßen, die bei uns Aufnahme fand. Sie hat euch gehasst…"
    Immer halbherziger wurden seine Worte. Gytha eine Römerin… oder jedenfalls eine Romanisierte, eine, die ihre Herkunft verraten hatte… eine Spionin gar? - es erklärte einfach zu gut, was passiert war!
    Ein nagender Zweifel stieg in ihm auf. Er starrte auf die kahlen Büsche und dachte an den Abend, vor einer Ewigkeit am schwarzen Weiher, als er sie geküsst hatte, und sie so plötzlich geflohen war. Ihr Tuch hatte sie vergessen, es hatte über den Erlenwurzeln gehangen. Er hatte wirklich geglaubt sie zu lieben, damals.
    Ganz genau erinnerte er sich wie ihre Lippen geschmeckt hatten, wie sich das Abendrot in ihren Haaren verfangen hatte… aber, es war seltsam, ihr Gesicht konnte er gerade nicht richtig vor sich sehen. Es war wie ausgelöscht von einem anderen, dunkelhaarigen und sternenäugigen Antlitz.


    Beharrlich schüttelte er noch den Kopf, während der Zweifel sich schon in bittere Überzeugung gewandelt hatte.
    Alle Lüge! Die er zu lieben gemeint hatte, die, deren Tod er grimmig rächen wollte, sie war eine Ruchlose, eine Lügnerin gewesen… Vielleicht sprach der Römer sogar die Wahrheit, und hatte sie gar nicht getötet - vielleicht war sie statt dessen dem Fluch erlegen, den er, wie er sich verschwommen erinnerte, in jeder Schicksalsnacht rasend und blind vor Eifersucht auf sie geschleudert hatte? Vielleicht hatte er, Rutger, sie damit umgebracht, er selbst…
    Das Blut wich aus seinem Gesicht, bei diesem Gedanken. Sein Atem stockte, und es war als würde ihm jemand mit einem Ruck den Boden unter den Füßen wegziehen. Seine Hand schloss sich krampfhaft um den Rand des Marmortisches, und umklammerte verzweifelt, haltsuchend den roten Stein.


    Wie durch einen Schleier sah er den Römer vor sich stehen. Dessen Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. Mühsam suchte Rutger nach Worten, formte sie schleppend zu Sätzen.
    "Was heißt das schon", murmelte er tonlos, "unschuldig, oder falsch... Es ist eben Krieg."
    Wegwerfend zuckte er die Schultern, und sein Blick ging leer durch sein Gegenüber hindurch, verlor sich im Unbestimmten.
    "Ihr kämpft, wir kämpfen… Ich wollte nur frei sein.
    Was soll die Frage… natürlich würde ich so einen Mann töten, was sonst. Es sei denn, natürlich, ich hätte mein Wort gegeben..."

    In dem Fall er sich etwas anderes, nicht weniger unangenehmes einfallen lassen würde.
    "Von Dir, Flavius Aristides, erwarte ich gewiss keine Schonung."
    Um Rutgers Mundwinkel zuckte es humorlos, beim Versuch eines hochmütigen Lächelns.
    "Warum auch."

  • Der Wind raschelte leise im Unterholz und ließ die Zweige der Bäume fröstelnd erzittern. Unbewegt musterte Marcus sein Gegenüber, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und fühlte sich innerlich ganz dumpf- was vielleicht auch an den Nachwirkungen des Weines liegen konnte. Und doch keimte in ihm der Verdruß, sich ständig- so hatte Marcus das Gefühl- mit dem Germanen auseinander setzen zu müssen. Er war es leid, Hass und Zorn zu verspüren, lag es doch nicht in Marcus Natur lange zu hassen oder lange wütend zu sein. Sein Zorn war hitzig, leidenschaftlich und meist genauso kurz wie eine loderne Stichflamme. Schweigend ging Marcus auf diesem kleinen Stück Erde im Garten langsam auf und ab, einige gelbe und trockene Blätter raschelten als er auf sie trat. Am Rande seines Gedankenhorizonts bemerkte Marcus, daß die Sklaven wohl dieses Stück im Garten vergessen hatten in letzter Zeit. Abwesend trat Marcus auf die marmorne Bank zu, betrachtete die feinen Steinmuster des afrikanischen Marmors, setzte sich auf die Bank und sah über den Garten hinweg. Müde rieb er sich für einige Herzschläge lang seine Schläfen und lehnte sich ein wenig zurück, stützte sich mit einem Arm auf dem Tisch neben sich ab. Erst dann wandte er seinen Blick wieder dem Germanen zu und musterte ihn eine Weile.


    „Krieg…ja, nun ich nehme mal an, ihr Germanen habt doch auch Sklaven, oder?


    Marcus war, obwohl er einige Zeit in Germania stationiert war, mit den Gebräuchen der Feinde nicht sonderlich bewandt gewesen, aber Herren und Unfreie hatte er überall auf seinen Reisen erlebt, warum sollte es bei den Germanen anders sein.


    „Und wenn ihr kämpft und andere erobert, nehmt ihr die Gefangenen nicht auch als eure Sklaven? Oder woher könnten eure Sklaven sonst stammen?“


    So spann er seine Mutmaßungen weiter. Seine Finger strichen über den warmen Marmor und er ergriff einige der welken Blätter, betrachtete ihre gekräuselten gelben Ränder, die feine Aderung, die selbst noch in ihrem toten Zustand zu sehen war und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Als die Blätter sanft auf das vergilbte Gras fielen, stand Marcus erneut auf und zuckte gleichgültig mit der Schulter.


    „Was Du erwartest oder nicht, ist mir herzlich egal. Zwar gedenke ich, mich an mein Wort zu halten, doch ist es mir gleichgültig, ob Du es mir glaubst oder nicht. Aber ich warne Dich, treib es nicht zu weit, denn irgendwann wird sonst der Punkt erreicht sein, wo ich mein Wort nicht mehr halten kann und will. Dann wirst Du sterben, Germane. Wirst niemals wieder Deine Heimat sehen, nimmer.“


    Marcus ging einige Schritte an Rutger vorbei und hatte schon wieder vor, zurück ins Haus zu gehen. Doch er besann es sich erneut anders und wandte sich vor den Rosenbüschen um.


    “Aber sei sicher, Rutger, bestraft wirst Du noch. Du wirst es zu Deiner Lebzeit nicht vergessen, daß Du es gewagt hast, meine Tochter anzurühren, sie zu entführen und ihr all die schlimmen Dinge angetan zu haben.“

  • Rutger zuckte verächtlich die Schultern und gab, schon beinahe automatisch, trotzig zurück:
    "Ja und? Du hast mich nicht im Kampf besiegt, als du mich gefangen nahmst, du hast mich tückisch reingelegt. Ich bin ein Krieger von edler Sippe, ein Hallvardunge und Sohn eines Rich. Kein Sklave. Niemals. Geht das nicht in deinen Kopf hinein, Römer?"
    Wann hätte man das jemals gesehen, dass ein Römer seine Versprechen gehalten hätte? Rutger verschloss sich vor den Worten des Flaviers. Er wollte nicht hoffen, nur um am Ende wieder betrogen zu sein. Doch ganz konnte er es nicht verhindern, dass sich ein feiner Hoffnungsschimmer in ihn hinein stahl, und ein wehes Sehnen ihn erfasste - die Heimat wiederzusehen… wenn das möglich wäre…
    Stumm sah er den Römer hinterher, verwirrt von dessen - anscheinender - Milde. Schließlich hatte er die ganze Zeit damit gerechnet, dass der Flavier ihn in den Bergen oben nicht gleich erschlagen hatte, um ihn später umso grausamer hinrichten zu können, und damit die Ehre seiner Tochter zu rächen.
    Von Strafe zu hören wunderte ihn wiederum nicht. Unbewegt nahm er die Ankündigung hin, ohne eine Miene zu verziehen, dann wandte er sich hochmütig ab. Erst als die Schritte des Römers sich entfernt hatten, sank Rutger erledigt auf die Bank.
    Er zog ein Bein an, umschlang es mit den Armen, und starrte müde ins Leere. Endlose Wälder sah er vor sich und klare Flüsse, weich bemoosten Grund und hohen Farn, schroffe Felsen zwischen denen struppig die Blaubeersträucher wuchsen…
    Von Heimweh überwältigt, und wie vor den Kopf gestoßen von dem, was der Flavier über Gytha gesagt hatte, saß Rutger lange Zeit, noch als die Sonne schon untergegangen war, dort unter der Pinie, und wünschte sich, wider alle Vernunft, einfach nur sehnlichst nach Hause.


    So verging der zweite Tag der Saturnalien. Und schnell zogen auch die anderen Festtage vorbei, so dass Rutger den kurzen Hauch von Freiheit nur allzu bald wieder gegen die Enge des Carcers eintauschen musste.

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