Subura | Pars Romanae oder der tiefe Fall eines Piraten

  • Ein wenig fühlte sich Gracchus wie an jenem Tage, als ihm sein Leben in Achaia aus den Händen geglitten war, als es, trotz seiner Bemühung die Kontrolle bei sich zu halten, vor seinen Augen verschwommen und in Bahnen verlaufen war, die mitnichten vorherzusehen, noch zu lenken gewesen waren, denen er nur unwillig und wie ohnmächtig hatte folgen können. Auch in diesem Augenblick versuchte er nicht die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren, wichtiger noch nicht den Überblick, doch beides wurde ihm in dem Moment verlustig, als Dardashi, der Amicus des Quintus Tullius, jene Vermutung in Hinsicht auf eine gemeinsame Mutter aussprach, die gleichsam doch nicht Gracchus' Mutter gewesen war, als er dies aussprach, was Gracchus selbst nicht zu tun vermocht hatte, was sich ihm trotz aller logischen Gedankengänge verschlossen gehalten hatte, verschlossen aus blinder Furcht. Noch eben war er den Worten des Mannes in jeder Silbe gefolgt, hintergründig erleichtert, dass Quintius Tullius sich einen gebildeten Sklaven leisten konnte und dies auch tat, hatte wieder und wieder zustimmend leicht genickt, doch mit einem Male hielt er in aller Zustimmung und gleichsam aller Bewegung inne. Gracchus' Haltung versteifte sich, seine Nackenhaare richteten sich widerstrebend auf, ein eisiger Schauer kroch aus seinen Fußspitzen hinauf, umklammerte sein Herz und fraß sich bis in seine Haarspitzen hin vor. Wenn dies wahr sein mochte, was der Parther aussprach, so brach in diesem Augenblick die Welt des Manius Flavius Gracchus in sich zusammen, zerbarst in tausende Splitter und erlosch wie eine des Öls behaupte Lampe. Jegliches Streben war mit einem Male nichtig, jegliche Pflicht vollkommen unsinnig und jedwede Mühe völlig vergebens. Sein Vater mochte ihn von der Erde empor gehoben haben, doch Gracchus würde sich sein gesamtes bisheriges Leben, sein Positon im Gefüge der Welt nur subrogiert haben, nichts dessen, was er bisherig erreicht hatte, würde ihm zustehen, nicht zu denken an jene Dingen, die er erst zu erreichen strebte. All seine Ziele waren mit dem Verlust seiner Herkunft unerreichbar, kein Sitz im Senat würde ihm zustehen, kein Sitz in einem der kultischen Collegien, gar nicht einmal sein Cubiculum in der Villa Flavia wäre ihm noch angemessen, geschweige denn seine Gattin aus dem Hause Claudia - obwohl er dies nur marginal bedauern würde - denn mochte sein Name noch so edel sein, mochte sein Weg der eines Patriziers gewesen sein, als Bastard seines Vaters würde nichts von all dem ihm zustehen und Gracchus würde nichts davon weiter beanspruchen können. Noch wenige Augenblicke zuvor hatte er darüber sinniert, Quintus Tullius sein zu können, doch die tatsächliche Aussicht ein Niemand zu sein, dies raubte ihm jegliche Sinne. Sein leerer Blick folgte beinahe wie von selbst dem seines Bruders in die Dunkelheit hinab, dort, wo das finstere Grauen der Wahrheit lauerte, aus dem es in der unschuldigen Gestalt einer zitternden, derangierten Frau hervor trat. Die Drohungen aus Tullius' Augen gegen seine Mutter, die Schärfe seiner Stimme, diese Diskordanz der Similarität nahm Gracchus nur am Rande seiner Aufmerksamkeit wahr, denn er musste mit all seiner Kraft an sich halten, dass nicht nach den Erschütterungen durch jene Worte des Dardashi nun jene der Worte Laevinias ihn aus seiner Standfestigkeit hinaus rissen, da diese ohnehin kaum mehr gegeben war. Mit jedem ihrer Worte biss Gracchus mehr und mehr seine Kiefer zusammen, bis dass es ihm schmerzte. Mehr noch als die Erleichterung darüber, jener zu sein, der er geglaubt hatte, der er tatsächlich war, überkam ihn der Zorn über die Dreistigkeit und Einfalt jener Person. Die Christianer hatten ihm seinen Bruder und mit ihm sein Leben gestohlen, doch diese Frau, zitterndes, verfallenes Abbild eines jungen Mädchens mit großen Plänen und endloser Sehnsucht, diese Frau hatte ihm sein zweites Ich genommen.
    "Brüder, die sich in allem glichen,"
    repetierte er leise und sein vorwurfsvoller, vernichtender Blick traf jene Frau, die einst auch für sein Wohl Sorge getragen hatte. Sie hatte sich das Recht Fortunas herausgenommen und über ihrer beider Leben entschieden, hatte gewählt, dass Manius Gracchus ein Flavier wurde, Quintus Tullius dagegen in der Gosse aufuchs. Quintus Tullius - vermutlich war dies nicht einmal sein Name, immerhin war er nicht der Fünfte, sondern der Dritte oder Vierte gewesen, doch viel eher als seine Folge in der Familie würde er ob der Ähnlichkeit einen similären Namen getragen haben, Gracchus als Cognomen sicherlich, wie er selbst, dazu einen anderen Praenomen um sie zu trennen.
    "Glichen, oder gleichen?"
    Es drängte Gracchus danach, sich zu setzen, denn er fürchtete, jeden Augenblick der letzten Kontrolle über seinen Körper verlustig zu werden und wie ein misslungener Opferkuchen in sich zusammen zu sinken, doch gleichsam fürchtete er mit jeder Bewegung nur noch mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten. Er wünschte sich, Caius könnte hier sein - bei den Göttern, Caius würde ohnehin staunen - doch er verwarf diesen Wunsch eilig, aus Furcht, sein liebster Vetter würde womöglich seine Zuneigung gänzlich von ihm ab und auf Tullius hin wenden.
    "Wie ..."
    Er räusperte sich und suchte einen Augenblick nach der Festigkeit seiner Stimme, doch gänzlich wollte sie sich ihm nicht offenbaren.
    "Wie kommt es, dass dies nicht bereits früher aufgefallen ist. Immerhin ... ich bin nicht erst seit gestern in Rom."
    Zwar besaß vermutlich Laevinia die meiste Kenntnis über die allumfassende Gesamtsituation, doch seine Frage war nicht direkt an sie gerichtet, sondern frei in den Raum hinein gestellt. Obwohl Sacerdotes, Quaestores und Vigintiviri in der Hauptstadt keine übermäßige Bekanntheit genossen, so schien es ihm doch unglaublich, dass niemand ihrer beider Gesichter verglichen hatte, denn selbst die Suburbaner hatten bis vor kurzem an den Wahlen ihren Anteil gehabt.

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  • Und ähnlich einem monströsen und doch strahlendweißen Eisblock, der die Meere weit von jener Insula im eisigen Meer durchquerten, sah man nur die schroffe Fassade von Quintus Tullius. Der gefährliche und schneidende Teil von ihm war tief unter der Oberfläche verborgen. Unbewegt sah Tullius auf die Tischplatte, hielt sich mit beiden Händen dort abgestützt, nur alle paar Momente erbebten seine Nasenflügel, betont lethargisch sog er die Luft ein und entließ sie mit einem leisen Hauchen. Unbegreiflich erschien ihm das Gesagte, unfassbar und schockierend, sein gesamtes Gefüge wurde erschüttert, sein Leben erhielt spröde Risse und zerbarst ohne einen Laut. Alles, was er von sich geglaubt hatte, sein Dasein, seine Ursprünge, seine Wurzeln basierten auf Lug und Trug, einem exorbitanten und unsäglichen Schwindel. Mühsam kämpfte Tullius gegen die Aufkeimende Wut und die Sturmwellen des Hasses an, die ihn ergriffen und sich auf seine Mutter stürzen wollten. Einer stummen Mahnung seines Gewissens spürte Tullius die milden Augen seines Amicus auf sich ruhen. Der Dolch lag in allzu großer Nähe und rief ihn lautlos mit der Versprechung der Genugtuung.
    Das Schluchzen von Laevinia durchschnitt den Raum und das Schweigen nach der ungeheuren Erkenntnis. Ihr rannen die Tränen über die Wangen. „Früher wart ihr euch sehr ähnlich, so fröhliche kleine Kinder, aber ob ihr euch heute noch gleicht, weiß ich nicht.“, murmelte sie. „Du hattest immer so ein drolliges Lachen, Quintus, wie Dein Bruder. Es verschwand hier in Rom.“, hauchte sie. Kalten Blickes sah Tullius auf und seine Augenbraue wölbte sich nach oben.
    „Sei nicht albern, das ist die Subura. Hier hat man nichts zu lachen.“
    Justament nahm auch Tullius auf einem der harten Holzschemel Platz und wandte seine Augen von der weinenden Laevina zu Gracchus. Immer noch war Tullius schwerlich die Gefühle abzulesen, die er bei dieser Offenbarung durchlebte. Unbewegt taxierte er seinen Zwillingsbruder. Die Frage hing einige Zeit im Raum ehe sich Tullius bemüßigt fühlte, sie zu beantworten.
    „Vielleicht liegt das am Umstand, dass ich vor annährend einer Dekade Rom verlassen habe Ich mutmaße, dass Du wohl erst danach nach Roma kamst, oder zumindest erst danach diesen Bekanntheitsgrad erreicht hast.“
    Bis anhin zog Tullius in Gedanken keine weiteren Schlüsse was die ganze Angelegenheit bedeuten könnte, mehr versuchte er den Schock, sein ganzes Leben basierend auf einer Lüge zu verarbeiten. Regungslos und stumm verharrte Tullius, verschränkte die Hände ineinander, eine scheinbar gelassene Haltung würden nicht die weißen Fingerknöchel seine Anspannung und aufkeimende Wut preisgeben. Weder Neugier, noch Freude herrschten in Tullius, ob der Tatsache einen Bruder in jenem Augenblick gewonnen zu haben. Sein Leben hätte vollends anders verlaufen können, jenseits von Subura und Armut, auch ohne die Widrigkeiten der Classis, die ihn mehr oder minder zu dem gemacht haben, was er an jenem Tage darstellte, einen gescheiterten Piraten und Mörder. Immer mehr vom Ausmaß dieser Lebenslüge offenbarten sich ihm, immer weniger davon gefiel ihm. Den Drang aufzuspringen und die Insula zu verlassen, seiner Wut Ausdruck verleihen zu können, unterdrückte Tullius, hob nur marginal seine Augenbrauen und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Gleichsam fragte sich Tullius, ob er hätte ahnen können, dass seine Mutter ihn belog, dass ein weiteres Ich von ihm existierte, ein Zwillingsbruder. Es war abermals sein Amicus, der in diese Stille das Wort anhob, in einer Anspielung auf Platon.
    „Was Zeus getrennt hat, fügten die Moiren wieder zusammen. Zwei Hälften haben sich gefunden.“

  • Wie ein feines, seidenes Band woben die Moiren die Schicksalsfäden der beiden Männer in diesem Augenblick zusammen und wären diese Fäden sichtbar für das menschliche Auge, so hätte man sie womöglich zwischen den Augen der beiden sich so ähnlichen Männer sehen können, denn gleichsam wie Tullius ihn taxierte, wandte auch Gracchus seinen festen Blick dem Bruder zu, ohne auf seinem Gesicht kenntlich zu zeigen, ob ihn die Existenz des Zwillings mehr erfreute oder ob in ihm die Befürchtungen über einen unzureichenden Peregrinus als Doppelgänger wuchsen. Fakt jedoch blieb, dass ihrer beider Leben womöglich um einiges anders verlaufen wären ohne die Frau, die Tullius so lange hatte glauben lassen, seine Mutter zu sein, für diesen ganz sicherlich, doch womöglich auch für Gracchus. Vermutlich wären sie gemeinsam in Achaia aufgewachsen und auch, wenn Gracchus um nichts in der Welt seine Zeit mit Aquilius wollte missen, so wäre sie womöglich doch in doppelter Ausführung seinerseits ein wenig anders verlaufen. Gemeinsam hätten sie den Weg geteilt, welchen ihr Vater sicherlich für sie beide vorgesehen hatte, womöglich wären sie viel früher nach Rom zurück gekehrt, hätten gemeinsam die Quästur abgelegt, nun das Vigintivirat. Im Aedilat hätten sie sich gemeinsam unterstütz, mit Freuden hätte Gracchus die erste Amtszeit an einen Bruder abegtreten. Laevinia hatte nicht nur Quintus Tullius' Zukunft geraubt, sie hatte das Imperium um einen fähigen Mann betrogen, dessen war er sich sicher. Ihr Schluchzen füllte den Raum und mit jedem Herzschlag störte es Gracchus mehr, störte, dass sie das Opfer miemte, während sie ein Leben in Bahnen gelenkt hatte, welches dort nicht hätte verlaufen dürfen, das Leben eines Flavius, seines Bruders, seines Zwillings. Sich seiner Beherrschung nun wieder völlig sicher, trat trat Gracchus auf die noch immer zitternde Frau zu, hob die Hand und ließ seine Handfläche in einem festen Schlag auf ihre Wange klatschen.
    "Dies ist nur der Anfang, Weib, denn ich werde dafür Sorge tragen, dass man dir den Prozess macht. Niemand vergreift sich an einem Mitglied der flavischen Familie, niemand."
    Er schüttelte langsam den Kopf, doch seine Stimme war beherrscht und ruhig, auch wenn sich eine leichte Spur von Zorn wie ein roter Faden durch jedes Wort hindurch zog. Was mit seinem Bruder geschehen würde, dies wusste Gracchus noch immer nicht, doch er hatte einst die Verantwortung für die Flavia Vespasianus übernommen und dies bedeutete nun gleichsam, das Verbrechen strafen zu lassen, welches Laevinia vor Jahren begangen hatte. Er betrachtete wieder seinen Zwilling, den all dies noch viel mehr tangierte als ihn selbst, dann dessen vermeintlichen Sklaven.
    "Zwei Hälften von was? Was kann dies noch werden?"
    Was es auch jemals gewesen sein mochte, es war längst zerbrochen, und so eilig wie es zerrissen worden war, so eilig konnte es nicht wieder geflickt werden.

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  • Schritte trampelten an der Tür der kleinen Insulawohnung vorbei, unten im Innenhof erhob sich das Geschrei zweier keifender Frauen, die Hühner gackerten als ihnen das erste Futter hingestreut wurden, einige Kinder stürmten durch das Tor nach draußen auf die Strasse. Die Geräusche schienen Quintus Tullius zu absorbieren, sein Leben hatte sich mit dem Lebensfluss dieser Menschen vermischt, wenngleich es doch hierselbst völlig falsch war, sowie er justament erfahren hatte. Doch der Laut von einer Hand, die auf Fleisch traf, die schallende Ohrfeige, riss Tullius aus seinen Gedanken. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und langsam stand er auf. Zorn stieg in Tullius auf, er war nicht sonderlich davon angetan, dass dieser Fremde, Zwillingsbruder hin oder her, die Frau schlug, die ihn aufgezogen hatte, obschon er dasselbe Verlangen in sich verspürte. Seine Augen erwiderten den Blick von Gracchus, eine gewisse Kühle sprach aus ihnen heraus. Am Rande bemerkte er, wie Laevinia hastig aufstand und sich in das andere Zimmer zurückzog und schnell die Tür verschloss.
    „Oh, das war nur ein Bildnis, werter Flavius.“, erklärte Dardarshi. „Wie Aristophanes beschrieb, war die ganze Gestalt eines Menschen rund, so dass Rücken und Brust im Kreise herumgingen. Und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebsensoviel wie Hände, und zwei Angesichter auf einem kreisrunden Hals einander genau ähnlich, und einen gemeinschaftlihen Kopf für beide einander gegenüberstehende Angesichter…doch Zeus zerschnitt die Menschen in zwei Hälften. Seither streben sie danach, ihr anderes Halbscheid zu finden. Was die Menschen daraus zu machen vermögen, obliegt ihnen und ihrem Willen. So steht es ebenso bei euch.“
    Mit der Schulter an das Fenster gelehnt, Tullius war während Dardarshis Worte langsam zu den Fensterläden gegangen, sah Tullius durch die schmalen Fensterschlitze zwischen dem Holz. Es drängte Tullius diesen stickigen und engen kleinen Raum zu verlassen, seine Noema in einer unruhigen Wanderung durch die Gossen der Urbs Aeternae ordnen zu können.
    Wenn Gracchus ihn derart musterte, sein Zwillingsbruder, ein Theorem dessen sich Tullius nicht ganz einzugestehen vermochte, im selben Raum mit ihm war, würden seine Gedanken in wirren Strudeln gehen, sein Vermögen stets kühl und überlegt eine Angelegenheit zu analysieren schwand wie der morgendliche Nebel von Roma. Eines sickerte jedoch bereits in seine Gedanken. Egal, was geschehen wäre ohne Laevinia, wie sie hätten aufwachsen können, es war zu spät, die Halbteile aneinander zu fügen, wie Dardarshi es andeutete. Tullius hasste die Patrizier wie so manch einer in der Subura, etwas mit den Flaviern zu tun zu haben, war für ihn undenkbar. Vielleicht war es einfach besser, alles zu vergessen und weiterzumachen, wie gehabt.
    „Es ist besser, wenn Du gehst, Flavius.“

  • Die Stimmung in dem kleinen Raum war noch immer äußerst absurd, der Sklave seines Zwillings zitierte Philosophen, die vermeintliche Mutter suchte ihr Heil in der Flucht und Quintus Tullius war für Gracchus völlig undurchschaubar. Trotz der Sonnenstrahlen war es kalt in der Wohnung, er fröstelte, doch nicht unbedingt nur wegen der Kälte, und einen Moment lang fragte sich Gracchus, ob dies der natürliche Zustand dieser Behausung sein mochte, denn nirgends waren Kohlebecken aufgestellt. Die Bindung zu jenem Mann, der ihm so ähnlich und doch so fremd war, war kaum vorhanden, dennoch verspürte Gracchus einen leichten Stich im Herzen, als er ihn so abweisend zum Gehen aufforderte. Je genauer er sich jedoch die Wohnung besah, desto mehr musste er feststellen, dass Quintus Tullius ihm äußerlich gleichen mochte, innerlich jedoch ein völlig anderer Mensch sein musste, die Kluft zwischen ihnen nicht größer sein könnte. Er wünschte sich im Stillen, Sciurus hätte ihn niemals an diesen Ort geführt, wünschte sich Unwissenheit über jenen Menschen mit seinem Äußeren und dessen Möglichkeiten, wünschte sich, dass die Götter dieses Spiel beenden und die Person des Quintus Tullius aus der Welt hinfort nehmen mochten. Doch nichts dergleichen geschah, nach Tullius' Aufforderung lag nur eine schwere, bedrückende Stille in der Luft. Gracchus widerstand der Versuchung, seine Hand zum Mund zu heben und an seiner Unterlippe zu kneten, doch führte dies nur dazu, dass er unbewusst diese zwischen die Zähne sog und einen Moment lang darauf herum kaute. Schließlich jedoch schüttelte er langsam den Kopf.
    "Es tut mir leid, Quintus Tullius, doch diesen Wunsch kann und werde ich dir nicht erfüllen. Nicht, ohne dass wir zuvor einige Dinge geklärt haben, denn ich kann nicht zulassen, dass sich unsere Wege hier so plötzlich wieder trennen, wie sie sich zusammengefunden haben, und ich kann nicht zulassen, dass dein Leben weitergeht wie bisher, so deplorabel dies womöglich für dich auch sein mag. Obwohl ich kein sehr familiärer Mensch bin, so würde ich doch gerne von mir behaupten können, dass mich brüderliche Sorge dazu treibt, dir dein jetziges Leben noch einmal zu entreißen, nachdem dies vor langer Zeit bereits einmal geschehen ist, doch die Wahrheit ist die, dass ich in egoistischer Weise mein eigenes Leben vor das deinige stelle, welches mir im Vergleich nur marginal erscheint. Um zu sein, was deine Herkunft dir gebietet, fehlen dir zu viele Jahre, du magst noch so intelligent sein, wovon ich in der Tat ausgehe, doch jene Kluft wirst du kaum mehr überspringen können, nicht in deinem Geiste noch in den Augen der Gesellschaft. Ich kann dich nicht zu dem machen, was du sein solltest, doch ebenso wenig kann ich zulassen, dass du bleibst, was du bist, was immer dies auch sein mag. Denn meine Zukunft steht bereits fest und sie ist auf dem besten Wege das zu werden, was sie sein sollte, was auch die deine hätte sein sollen, doch nie sein wird, und dahingehend kann ich nicht zulassen, dass ein Mann mit meinem Gesicht durch diese Stadt läuft, dessen Leben mit dem meinen einzig durch die Geburt verknüpft ist und von dem ich nicht das Geringste weiß. Ein Bad, eine Rasur, eine saubere Toga und man würde dir in meinem Namen Zugang zu beinahe jedem Gebäude dieser Stadt gewähren, bis hin zum kaiserlichen Palast. Du stellst im schlimmsten Falle also nicht nur für mein Ansehen und meine Zukunft eine Gefahr dar, sondern gleichsam für das Imperium, auch wenn dies nun äußerst pathetisch klingen mag."
    Hätte Gracchus um das Leben des Quintus Tullius gewusst, womöglich wäre er ein wenig vorsichtiger bei der Wahl seiner Worte gewesen, doch obwohl er allgemeinhin in seiner Umgebung um Harmonie und Ausgeglichenheit bemüht war, so war er ebenso fest entschlossen den ihm vorgegebenen Weg bis zum Ende zu gehen, koste es was es wolle, denn dies war die Pflicht, die ihm auferlegt worden war und derentwegen er bereits zu viele Entbehrungen auf sich genommen hatte, um je wieder von ihr zu lassen, und eine Gefährdung dieses Ganges würde er nicht zulassen, gleichwohl in welcher Gestalt. Gleichsam jedoch war er um Harmonie und Ausgeglichenheit seiner Umgebung bemüht, weshalb Gracchus nicht einmal fähig war sich ein Leben vorzustellen, wie sein Zwilling es bisher geführt hatte, zudem war er weiters nicht einmal dazu fähig, sich ein Leben, eine Kindheit in der Subura vorzustellen.
    "Ich muss gestehen, dass mir derzeit diesbezüglich jegliche Idee fehlt, wie dein Leben weitergehen kann und muss. Doch ich bin sicher, wir werden einen Konsens für all dies finden, und wenn du dafür bereit bist, so wird es sicherlich dein Schaden nicht sein, denn selbst da ich kein sehr familiärer Mensch bin, so obliegt mir doch gleichsam die Verantwortung über das Wohl der Flavia Vespasianus und als einer seiner direkten Nachkommen umfasst dies nun auch dich auf die ein oder andere Weise. Wenn du es zulässt, wirst du Dinge erreichen und dich an Dingen gütlich tun können können, welche dir niemals möglich und vergönnt waren und dies auch ansonsten niemals sein werden."
    Trotz all der Vorbehalte gegenüber dem fremden Zwilling kam Gracchus nicht umhin, sich eine Zukunft vorzustellen, in welcher eine Person in doppelter Gestalt ein Leben führte, während es gleichsam zwei Personen in gleicher Gestalt möglich war, zwei Leben zu führen, denn zu verlockend war der Gedanke an all jene Dinge, welchen einem Mann allein zu erreichen nicht gegeben, welchen zweien gemeinsam jedoch möglich sein würden.

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  • Mensis um Mensis, Dies für Dies machte sich Quintus Tullius bereits seitdem ihn das Gladius des Trierarchius durchbohrt hatte keine Gedanken darüber, wie sein Leben weiter verlaufen könnte. Trotz alledem verlustierte sich Tullius mehr an der Rede seines Bruders als dass sie Unmut in ihm schürte. Aus den Augenwinkeln konnte er den Schatten dessen Sklaven sichten, der ohne Zweifel das Wohl seines Herren beschirmen wollte. Verächtlich zuckte Tullius Mundwinkel, dann drehte er sich um und ging langsam um seinen Doppelgänger herum, taxierte ihn von oben bis unten in dem Versuch ihn besser einschätzen zu können. Wenn er ihm in der Courage und Hemmungslosigkeit glich, dann wäre es besser seine Worte ernster zu nehmen, in dem Mann durchaus eine ernste Gefahr zu sehen. War er jedoch mehr ein Mann, wie er erschien, ein gelehrter Togaträger, so hätte Tullius bei den Worten nur laut auflachen müssen, die Sinnlosigkeit der Forderungen damit unterstreichend. Doch er tat jenes nicht, sondern ließ nur ein feines Lippenkräuseln als Ausdruck jenes Lachens erahnen. Jedoch stellte Tullius gleich in Gedanken den Umkehrschluss von Gracchus Ausführungen. Ein bisschen weniger eine Rasur, eine normale Tunica und einen Dolch an der Seite, man könnte Gracchus für ihn, den Piraten halten. Es würde ihm nicht die Türen zum Palast oder in große senatorische Hallen eröffnen, nein, er würde das Leben in einem Carcer kennen lernen, bis es jäh an einem Kreuz enden würde. Es war dann doch, dass Tullius unwillkürlich leise lachen musste und sich für einen Momente abwandte, gegen den Tisch lehnte und genüsslich die Augen schloss. Eine Gefahr für das Imperium hielt sich Tullius bereits jetzt, auch ohne, dass er ein magistratisches Ebenbild hatte. Vielleicht war das auch ein wenig impertinent, aber Tullius wusste genug römisches Blut an seinen Händen, um nicht nur ein einfacher Straßenräuber oder Bandit zu sein. Nichtsdestotrotz ließ er seinen Bruder in Ruhe weiter sprechen, hörte ihm aufmerksam zu und fuhr sich mit seiner Rechten über das Kinn, spürte den leichten Spross seiner Barthaare dort und wölbte zwischendrin die Augenbraue nach oben. Dass ihm der Name jenes Mündel von Gracchus nichts sagte, weder etwas bedeutete, noch interessierte, beunruhigte Tullius nicht sonderlich. Aber justament stieg Ingrimm in Tullius auf, mit einem solchigen Mündel verglichen zu werden, einem unnützer Ballast, den man durchfüttern und verstecken musste, damit er keinen Ärger machte, das war er nicht. Auch würde er das niemals aus sich machen lassen. Scheinbar gleichgültig wandte Tullius seinen Kopf dem Flavier zu und musterte ihn unbewegt.
    Mein lieber Bruder, Deine Worte bergen unbeabsichtigt eine Ironie, derer ich mich schwerlich verwehren kann. Ich kann dich nicht zu dem machen, was du sein solltest, doch ebenso wenig kann ich zulassen, dass du bleibst, was du bist, was immer dies auch sein mag. Wenn ich die Worte derart Deiner Rede entreißen und zitieren darf? Wie, Flavius, kommst Du zu dem Gedanken, dass Du die Macht für das eine oder das andere hast. Mit welchen Mitteln würdest Du mich daran hindern können, mein Leben weiter zu gehen, wie gehabt?“
    Tullius begegnete dem Blick seines Amicus, der ihn mit leichtem Kopfschütteln deutete, nicht zu viel zu sagen. Aber natürlich hatte Tullius das auch nicht vor.
    „Gehen wir doch mal Deine Möglichkeiten durch. Du könntest die Stadtwache auf mich hetzen. Doch das würde Dir nur selber ins Fleisch schneiden, denn ein solcher Skandal wäre Dir mitnichten ersprießlich. Außerdem soll Dir gesagt sein, dass in den allerwichtigsten Dingen man gewisse Angelegenheiten selber regeln sollte. Kommen wir nun zu dieser Option. Vielleicht hetzt Du Dein kleines Eichhörnchen auf mich, um mich vom Antlitz der Welt zu beseitigen. Sicherlich, ein skrupelloses Wesen scheint deinem Sciurus eigen zu sein, doch bin ich mir sicher, dass er nicht Erfolg haben würde. Und dann kommen wir zum Letzten, was Du bereits angedeutet hast. Du willst mich bestechen. Mit Geld, mit Luxus, mit Annehmlichkeiten? Ehrlich gesagt interessiert mich das nicht im Geringsten.“
    Dass er schon mehr Gold und Silber besaß als jener Flavius ihm wohl nur ansatzweise geben konnte, ließ er ebenso unerwähnt, wie Andeutungen zu seinem Leben zu machen. In einem Spiel zeigte man noch nicht all seine Trümpfe. Aber der Reichtum als Pirat hatte ihn nicht das ersehnte Glück gebracht, was er sich damit erhofft hatte.
    „Aber zur Gänze schlage ich Dein Angebot noch nicht aus. Welche Dinge kann ich, Deiner Meinung, auf selbige Weise erreichen, die ich ohne Dich, nicht erlangen könnte? Im Übrigen werde trotzdem ich entscheiden, wie mein Leben weitergeht und Du hast nicht mal im Ansatz etwas mitzubestimmen, Flavius.“
    Amüsiert und gespannt darüber, was ihm der Flavier verheißen würde, begutachtete er seinen Bruder, hob seine Augenbraue unerheblich.

  • Vor der Türe wurde das Eichhörnchen langsam ungeduldig. Sciurus hatte sich seinen Namen nicht gewählt, sein Vorgänger, der in hoher Gunst seines Herrn gestanden hatte, hatte ihm dieses Erbe vermacht, doch für Sciurus war ein Name wie der andere, während gleichsam das Gesicht und die Person dahinter blieben. Nur bei diesem Quintus und seinem Herrn war dies anders, der Name war ein anderer, das Gesicht blieb, doch die Person dahinter war verschieden. Seit einiger Zeit war es ruhig hinter der Türe des Wohnraumes in der Insula, zu ruhig beinahe, doch sein Ohr fest an das Holz gepresst konnte der Sklave drei Stimmen ausmachen, von welchen zwei seinem Herrn zuzuordnen waren. Er konnte nicht verstehen, was genau sie sprachen, doch weder schien eine davon voller Zorn, noch voller Furcht, noch voll sonst einer überschwänglichen Emotion, so dass Sciurus sich nicht genötigt sah, einzugreifen. Sein Herr würde ihn rufen, wenn er ihn benötigte.

  • Als Tullius ihn wiederum umrundete, von allen Seiten taxierte, stieg in Gracchus die Vermutung auf, dass jener ihn zunehmend sekieren wollte, womöglich war nicht viel des flavischen Erbes an ihn übergegangen, er nur ein Einfallspinsel aus der Suburua, welchem das Schicksal nun eine Wendung zugespielt hatte, aus welcher er den größtmöglichen Gewinn herausschlagen wollte. Es war dies ein Gedanke, welcher Gracchus enttäuschte, gleichsam war er noch immer hin und her gerissen, denn Tullius reizte gleichsam die Situation bis zum Äußersten aus, wie es nur ein äußerst dummer oder aber äußerst gerissener Mann tun würde.
    "Mein lieber Bruder - soweit sind wir noch lange nicht."
    Seine Worte waren trocken wie der Staub in den Ecken des Raumes, obgleich das leise Lachen seines Gegenübers den aufkeimenden leichten Unmut weiter schürte.
    "Doch sei dir assekuriert, keine Spur von Ironie lag in meinen Worten, denn es ist wie es ist. Du bist ein Ruderer im dunklen Rumpf eines gewaltigen Schiffes, welches unablässig seinem Kurs folgt, und gleich, in welche Richtung du deine Kraft stemmst, das Schiff zieht dein Ruder mit sich und das Ruder zieht seinen Kreis, zieht dich mit sich, ob du willst oder nicht. Meine Familie dagegen ist dazu auserkoren, an Deck des Schiffes zu stehen, den Kurs mitzubestimmen, und ich werde eines Tages diesen Kurs mitbestimmen."
    Jede Milde, die sonst in Gracchus' Stimme lag, war sukzessive mit jedem Wort daraus verschwunden, gleichsam jede Zurückhaltung und jede Demut, welche die Tugenden lehrten, denn sein Gegenüber war augenscheinlich kein Mann, der durch Tugenden zu Überzeugen war.
    "Auch, wenn es soweit noch nicht ist, so stehe ich doch an Deck des Schiffes, während du in seinem Inneren dein Leben fristest und verlebst, und wie jene an Deck über das Schicksal der Ruderer bestimmen können, so werde auch ich über dein Schicksal bestimmen können, wenn mir dies beliebt. Mein Sklave mag nicht nur dem Namen nach dem Tribus Sciurini angehören und keiner Fliege etwas zu Leide tun können, doch du solltest nicht den Fehler begehen, vom Skaven auf den Herrn zu schließen. Unterschätze nicht die Macht, welche der Name Flavius an sich hat, unterschätze nicht das flavische Durchsetzungsvermögen, und vor allem, unterschätze nicht mich. Die göttlichen, gerechten und gütigen flavischen Kaiser sind Teil unserer Ahnenreihe, doch ebenso ist es der unsägliche Domitianus, der nicht umsonst aus den Annalen der Geschichte getilgt wurde."
    Hätte Gracchus um das heimliche Leben seines Sklaven gewusst und darum, wie falsch er mit seiner Vermutung diesbezüglich lag, wie lammfromm er doch selbst bei äußerer Betrachtung im Vergleich mit Sciurus schien, so wäre ihm vermutlich übel geworden. Doch Gracchus wusste darum nicht, er wusste einzig darum, dass sein Erbe, sein Streben keine Widersacher duldete und obwohl er sich bis dahin noch nie Gedanken über solcherlei machen musste, so war doch irgendwann die Zeit dazu gekommen, womöglich in diesem Augenblick, und er wusste, dass ein einziges Zögern bereits zu viel sein konnte, denn Rom kannte kein Erbarmen mit Zauderern.
    "Ein Skandal mag nicht in meinem Ansinnen liegen, doch was könnte er mir schaden? Ein verstoßenes Kind des Vespasianus, ich wäre nicht der erste Sohn, welcher die Fehler seines Vaters zugibt und sich gleichsam über ihn stellt. Doch es liegt ebenso nicht in meinem Ansinnen, dir zu Schaden, wo doch ..."
    Er zögerte, sprach den Satz nicht zu Ende, wandte gleichsam seinen Blick kurz ab. Schließlich trat er vor seinen Zwilling hin, bis er nahe vor ihm stand, senkte seine Stimme und sprach dann von Neuem.
    "Wie ich bereits sagte, so werden wir einen Konsens finden, wenn du dazu bereit bist. Geschenke der Götter sollte man nicht ausschlagen, und deine Herkunft und vor allem anderen dein Äußeres sind ein solches Geschenk. Nicht Geld, nicht Luxus, nicht Annehmlichkeiten biete ich dir, denn dies ist nur, was dir ohnehin zusteht, dich jedoch gleichsam kaum indemnisieren wird. Wenn du dich damit zufrieden gibst, mag mir auch das Recht sein. Doch du fragst nach mehr, was ist es, das du erreichen willst? Nenne deinen Preis, Flavius, denn es gibt kaum etwas, was für uns nicht möglich wäre."
    Er war nicht bereit es auszusprechen, obwohl es fortwährend in seinem Sinne herumspukte, denn obwohl es dies tat, war es gleichsam noch immer indefinibel. Gracchus' Blick war fest auf die Augen seines Bruders gerichtet.
    "Du kannst deinen Anteil an unserem Erbe haben, jedweder Impedimente zum Trotz, bei den Göttern ich bin bereit in dieser Hinsicht sehr weit zu gehen, weiter vermutlich, als es gut für mich ist, und ich werde dir dieses Angebot nur einmal machen. Wenn du dieses Angebot ausschlägst, gleichwohl mit welcher Zukunft für dich, so wird der Bruder, den ich nie hatte, für mich und für Rom ebenso wenig existent sein wie noch am gestrigen Tage, gleich auf welche Weise und mithilfe welcher Mittel dies geschehen wird. Bestimme über dein Leben, Quintus Tullius, doch mit der dir gegebenen äußeren Gestalt gibt es für dich nur zweierlei Möglichkeiten. Entweder du bist für mich oder du bist gegen mich."

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  • Schmale Streifen von Sonnenlicht leuchteten in den kleinen Insularaum hinein, liebkosten mit den Strahlen sanft den rauen Holzboden, glänzte warm auf dem Tisch und legte sich mit einem zartfühlenden Band über den Handrücken von Quintus Tullius, dessen Hand sich langsam auf dem Tisch bewegte und der seine Finger in einem ruhigen Spiel über die Maserung streichen ließ.
    Belustigung durchdrang Tullius als er die Schärfe und den brüskierten Unterton seines Bruders bemerkte. Nicht die geringste Regung zeigte sich auf seinem Gesicht, stumm sah er Gracchus an. Erst bei der Metapher mit dem Segelschiff, zuckte sein Mundwinkel unerheblich, seine Nasenflügel bebten und er wandte den Blick ab.
    Wie kleine Blitze schossen die Erinnerungen vor seinen Augen entlang, die Triere, der dunkle Bauch, Quintus Tullius als einer der vielen Ruderer, wie sein Amicus. Gnadenlos wurden sie vom Taktgeber angetrieben, die Peitsche durchschnitt die Luft und traf die nackte Haut von Männern, sie zerplatzte unter dem Schlag und Blut rann über den Rücken. Warm spürte er das Blut an seinem Rücken, dort wo jetzt die Sonne von Rom ihn erwärmte. Nicht die ewige Dunkelheit im Schiff, nicht die Peitschenhiebe waren es oder die Ketten um sein Fußgelenk, obwohl er doch ein freier Mann war, nein, die kleinen sadistischen Spielchen des Kommandanten hatten ihn zu seinem ersten Mord geführt. Tullius öffnete die Augen und sah zu Gracchus, Cluvius trat wie der Geist der Lemuren vor sein Angesicht und schien sich über das Abbild seines Bruders zu legen. Tullius zweifelte nicht im Mindesten daran, dass Gracchus als Trierarchius ein selbiger Sadist sein würde, wie alle Patrizier oder Equites. Die Arroganz und Hybris von seinem Bruder schürte mit jedem blasierten Wort mehr die entstandene Flamme des Hasses, als Blasebalg ließen sie die Flammen zu einem kleinen Feuer auflodern.
    Nichtsdestotrotz blieb Tullius völlig ruhig, beinahe wie zu Eis erstarrt, denn immer, wenn seine ungute Natur hervorzubrechen drohte, schien ihm alles klar und völlig rein zu sein. So lächelte Tullius schließlich als Gracchus zu Ende gesprochen hatte und erwiderte den Blick fest, unerschütterlich und scheinbar gelassen.
    „Du hast Recht, Bruder, es wäre doch unsinnig, wenn wir unser Augenmerk darauf richten würden, Streit und Hader zu schüren und uns gegenseitig imponieren zu wollen. Nein, einer patrizischen Familie gegenüber werde und muss ich mich nun mal beugen. Es war infam von mir so zu sprechen.“
    Scheinbar reumütig lächelte Tullius und schloss hinter seinem Rücken die Hand fest um den Dolch, der auf der Holzplatte lag.
    „Ein derartiges Geschenk der Götter sollte man wahrlich nicht ausschlagen, doch es dürstet mir nicht nach Geld oder Luxus, mehr meine Familie kennen lernen zu dürfen, und meinen Bruder. Es wäre ein Frevel wider der Natur, sollte ich mich gegen Dich stellen.“
    Leise knarrte der Holzboden als Tullius auf Gracchus zutrat, die Sonne umstrahlte Tullius einem Heiligenschein anmutend und dann legte sich der Schatten der Wände um ihn herum, dem Hauch des Tartarus gleichend, Tullius fixierte seinen Bruder mit seinen Augen wie die Schlange die Maus, dabei ein sonniges Lächeln auf den Lippen. Tullius Herz schlug ganz langsam, die Zeit schien sich zu dehnen bis er unmittelbar vor seinem Bruder stand und ihn ansah.
    „Mein Bruder, bitte verzeih mir meine Anmaßung!“
    , flüsterte Tullius mit rauer Stimme, bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sie ausgesprochen günstig standen, durch die schmalen Schlitze am Fenster würden sie nicht entdeckt werden und das Eichhörnchen nicht allzu schnell die Situation ausmachen können. Tullius hob den Arm in einer scheinbar brüderlichen Umarmung, legte Gracchus die Hand auf die Schulter und sah ihm weiter in die Augen, um ihn hypnotisch zu bannen. Und wie eine blitzschnelle Schlange schoss Tullius vor, presste die Hand auf Gracchus Mund und drückte ihn kraftvoll gegen die Wand hinter ihm, legte den Dolch an seine verletzliche Halshaut, wo sanft sich die Ader im Pulsieren ihres Blutstroms hob und senkte. Die Reumütigkeit fiel ab und das hasserfüllte Flackern erschien in den braunen Augen von Tullius.
    „Bruder, eine Bewegung und Du stirbst wie ein Schwein in der Subura, Patrizier hin oder her, denn auch Du blutest nur wie ein Sklave oder ein Plebejer.“
    Mit brutaler Kraft presste sich Tullius gegen Gracchus, hielt die Hand vor seinen Mund, damit jener nicht nach seinem Gehilfen rufen konnte, und ließ langsam die Dolchspitze an dessen Halsader entlang fahren.
    „Du bist ein Narr, Bruder, mich zu unterschätzen. Ein Fluss ist unruhiger als seine Oberfläche und ein Mann der Subura kein hilfloses Opfer. Außerdem vergisst Du vielleicht, daß auch ich dieselben Vorfahren wie Du habe. Und vielleicht, lieber Bruder, schlage ich mehr nach Domitianus, als Du zu ahnen vermagst.“
    Das Funkeln seines berechnenden Wahns, Tullius war schon in seiner Kindheit äußerst labil gewesen, glitt über seine Augen und richtete sich mit voller Wucht auf seinen patrizischen Bruder. „Du kannst doch Deinen Bruder nicht töten, das ist ein Frevel.“, raunte Dardarshi, der, sich hastig umsehend, an Tullius Seite kam. Tullius lächelte kalt und seine Schultern zuckten unter hämischem und stummem Gelächter.
    „Aber Amicus, Du weißt doch, ich bin bereits verflucht. Was sollte es noch schlimmer machen? Nein, noch werde ich ihn nicht töten, er hat Glück, die Fügung mein Gesicht zu tragen, denn jeden Anderen hätte ich wegen dieser Impertinenz schon längstens die Kehle aufgeschnitten.“
    Um seine Worte zu betonen, legte Tullius den kalten Dolch an Gracchus Kehle.
    „Eine erste Lektion, mein verwöhnter Bruder: Sieht ein Mann dem Tod ins Auge, so wird ihn das für immer verändern. Übrigens danke ich Dir, Du hast mich auf eine sehr gute Idee gebracht. Doch nun werde ich mich um Dein Eichhörnchen kümmern. Schlafe Bruder, noch wird es nicht Mercurius sein, der deine Seele holen wird!“
    Wuchtig schlug Tullius mit dem Dolchgriff gegen Gracchus Schläfe, hielt dabei seinen Körper fest umgriffen und schlug abermals zu, bis Gracchus in die tiefschwarze Bewusstlosigkeit glitt. Langsam ließ er den Körper herabsinken und drapierte ihn neben dem Tisch. Tullius Lippen kräuselten sich zu einem genüsslichen Lächeln, die Lethargie der vergangenen Tage war verflogen, und er wandte sich Dardarshi zu.
    „Ein neues Abenteuer, Amicus. Geh zur Tür und locke Sciurus hinein.“
    Die Tür öffnete sich und Dardarshi trat davor, sah sich suchend um und dann zu Sciurus. „Schnell, Dein Herr ist ohnmächtig geworden. Ich glaube, das ist alles zu viel für ihn.“ Dardarshi trat eilends in die Wohnung zurück und winkte Sciurus ihm zu folgen. Bis zu jeder Faser seines Körpers angespannt stand Tullius an der Wand neben der Tür, den Dolch in seiner Hand um zuzustoßen, sobald Sciurus durch die Tür trat.

  • Das Geschehen ein wenig bedauernd hob Gracchus marginal seine Braue als sein Zwilling sich so völlig ohne Widerspruch fügte, nicht den geringsten Funken Ehrgeiz zeigte, hatte er sich doch mehr von ihm erhofft, dass er die unglaubliche Gelegenheit nutzen würde und zumindest eine winzige Forderung stellen mochte. Jegliche Gedanken jedoch verloren vollends an Bedeutung als Tullius ihm die Hand auf die Schultern legte, als ein leichtes Schaudern durch Gracchus' Körper fuhr, seine Nasenflügel leicht bebten, als er in einer unbewussten Reaktion tief den Duft des Mannes vor sich einsog, als er an sich halten musste, nicht seinem Körper die Überhand über sich zu gewähren, und als sich gleichsam vor sich selbst schämte, dass es überhaupt soweit kommen konnte, dass er ohne Zaudern sein eigenes Antlitz begehrte. Noch während er sich der Unmöglichkeit dieser Situation bewusst wurde, verkehrte sich diese mit einem Mal vollends innerhalb von Sekunden, fand er sich an die Wand gedrückt vor, eine kräftige Hand vor seinem Munde, eine kalte Klinge an seiner Kehle. Er war so völlig von dieser Wendung überrumpelt, dass es ihm nicht einmal in den Sinn kam, seinen Sklaven auf sich aufmerksam machen zu wollen, dass er nur den stechenden Blick des Quintus Tullius erwiderte, gleichsam überrascht, fragend, wie auch bedauernd und enttäuscht. Es war nicht das erste mal, dass er dem Tod ins Auge sah, gleichsam nicht das erste mal, dass er jener stillen Versuchung in sich nachgab und den Wunsch hegte, auf solch einfache, unrühmliche Art und Weise dem ungeliebten Leben zu entfliehen, ohne dabei gleich die schwere Schuld dafür auf sich selbst zu laden, dennoch war es das erste mal, dass er sich nicht nur durch sich selbst bedroht sah, sondern sich dabei gleichsam auch noch in die Augen blicken konnte, weshalb der Moment durchaus einen Funken an Faszination mit sich trug, ob dessen Gracchus kaum um sein Leben oder seine Zukunft besorgt war, ob dessen er kaum den kurzen Dialog zwischen Tullius und Dardashi über sein Weiterleben oder Sterben verfolgte. Die Zeit schien still zu stehen, doch gleichermaßen raste sie an Gracchus vorbei, in umgekehrter Richtung als es ihr natürlicher Lauf war, bis dass sie am Zeitpunkt seiner Geburt stoppte, am Zeitpunkt Tullius' Geburt, erneut zu rasen begann nach vorn hin zu ihnen, zu diesem Augenblick, doch in anderen Bahnen. Dieser Mann war es, der an Animus' Statt hätte der Erbe seines Vaters werden sollen, dessen war Gracchus sich sicher, denn dieser Mann hätte nicht die fortwährende Enttäuschung in seinem Vater hervorgerufen, wie Gracchus dies ob seiner Entscheidungen getan hatte, denn er glich in seiner undurchschaubaren Tat, in seinem zielstrebigen Handeln viel eher seinem Vater als Gracchus dies je getan hatte und jemals würde tun. Es war nicht der Anblick des Todes, der Gracchus in diesem Augenblick veränderte, es war das klare Erkennen dessen, was das Leben hätte sein sollen, was er hätte sein sollen, was jener Mann vor ihm hätte sein sollen, was dennoch niemals würde sein, dass sie beide niemals sein würden, was sie sollten, dass was er immer geahnt hatte, dass das Leben für ihn anderes vorgesehen hatte, dass dies nun unumstößliche Wahrheit wurde, welche dennoch nichts an seiner Zukunft ändern konnte. Unter dem ersten Schlag des Quintus Tullius zuckte er zusammen, gleichsam ließ er ihn erkennen, dass sein Bruder ebenso ungenügend war wie er selbst, denn zu wahrer römischer Größe, zum Ergreifen der einzigartigen Macht über ein Imperium gehörte bereits seit Anbeginn der Zeit die Bereitschaft seinen eigenen Zwilling zu erschlagen, und sei es nur ob der Nichtigkeit einer Furche. Es mochte der harte Schlag gewesen sein, der ihn zu solcherlei Gedanken brachte, doch während ihm die dunklen, grauen Schatten schon vor Augen tanzten, dachte Gracchus einen Moment lang, wie deplorabel es war, dass auch sein Bruder darum gleich ihm niemals der Erste würde sein. Der zweite Schlag schließlich raubte ihm endlich das Bewusstsein, kein Schmerz folgte in seinem Kopf, kein Schmerz in seinem Herzen, einzig eine gnädige, tiefe, dunkle Endlosigkeit umfing ihn, weich und warm wie der Schoß der Fortuna, und bewahrte ihn vorerst vor weiteren deplorablen Erkenntnissen bezüglich seines ohnehin so marginalen Lebens.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Schnell scheuchen ließ sich Sciurus von niemandem, nicht einmal von seinem Herrn, doch erst recht nicht von einem hässlichen Gnom, der kaum dass die Tür geöffnet wurde im Rahmen stand und ihn dazu aufforderte. Er reckte seinen Kopf ein wenig, warf einen Blick in den Raum hinein. Sein Herr mochte ein Schwächling sein, doch für eine plötzliche Ohnmacht war er bereits viel zu lange in dem Zimmer gewesen. Er würde sich nicht noch einmal von Quintus überlisten lassen, wie bei ihrer ersten Begegnung beim Fleischer. Während er den Draht in seinen Händen spannte, drehte er ein wenig den Kopf ohne jedoch Dardashi aus den Augen zu lassen und stieß einen Pfiff aus, der möglicherweise tatsächlich ein wenig Ähnlichkeit mit jenem Laut hatte, welchen Nager allgemeinhin in Gefahrensituationen ausstoßen.


    "Wo ist Quintus?" Sciurus trat einen Schritt vor, jedoch nicht durch die Tür hindurch, um besser in den Raum sehen zu können. Er konnte eine weitere Türe ausmachen, die weiter in die Wohnung hinein führte, womöglich gab es noch einen weiteren Ausgang, für die Subura wäre dies nicht unbedingt ungewöhnlich. Hinter sich vernahm der Sklave das Getrappel schwerer Füße auf der Treppe, er musste sich nicht erst umdrehen oder das Grunzen des bulligen Brutus abwarten, um zu wissen, dass er und drei weitere Sklaven, welche sie vor der Insula zurück gelassen hatten, hinauf kamen, denn er konnte den abgestandenen Atem in seinem Rücken spüren. Sciurus mochte Brutus nicht, er war grob, dumm und einfältig, doch kein Sklave der Villa Flavia schlug härter mit seinem Knüppel zu und solange man selbst in der Gunst des Vilicius Sica stand, solange tat Brutus, was man ihm sagte. Davon abgesehen war es kein Wunder, dass Sciurus ihn nicht leiden mochte, denn es war immer ein kleines Wunder wenn Sciurus irgend jemanden leiden konnte.


    "Was stehst du so unnütz herum, hilf ihm auf." Sciurus sprach zu Dardashi und nickte in den Raum hinein zu seinem Herrn. Dann hob er seine Hand und deutete Brutus an, die Wohnung zu betreten. Der bullige Sklave machte sich keinerlei Gedanken über versteckte Piraten hinter der Tür, genau genommen machte er sich ohnehin keinerlei Gedanken. Den Knüppel in der Hand, bereit auf irgendetwas einzuschlagen - auch darüber musste er nicht nachdenken, denn er war jederzeit bereit auf irgendetwas einzuschlagen - trat er in den Raum hinein.

  • Der Boden schien sich zu heben und zu senken wie auf dem Deck eines Schiffes und doch war es nur die ruhige Brust von Quintus Tullius. Seine Sinne waren zum Reißen gespannt, sein Atem ging flach und völlig lautlos und er lauschte auf jeden Schritt und jede Bewegung, die vor der Tür getan wurde, versuchte die Art des Gehens einzuschätzen, von jenem Manne, der die Insulawohnung am Betreten war. Schwer und dumpf hallten sie in seinen Ohren, nicht der leichte Schritt, an den er sich noch undeutlich bei Sciurus entsann. Ärgerlich presste Tullius die Lippen aufeinander und verfluchte die Schläue des Eichhörnchens, der sich nicht so einfach in die Falle locken lassen ließ.
    Aus den Augenwinkeln nahm Tullius die schmeichlerische Verbeugung von seinem Amicus Dardarshi wahr, der sich umwandte und schnell zu Gracchus ging und neben ihn kniete. Im selben Momente schlug auch Tullius zu, der wusste, dass er zumindest den ersten Ausschalten musste, so es sonst zu viel Lärm verursacht hätte. Quintus Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln, er trat franchement vor Brutus, hob eine Augenbraue, in frappierender Ähnlichkeit zu Gracchus.
    „Habe ich Dich herein gerufen, Servus?“
    Kalt durchbohrte Tullius mit seinen Augen den Mann vor sich, verstellte dabei seine Stimme, um Gracchus besser nachzuäffen, und im nächsten Augenblick, den Moment einer möglichen Verwirrung nutzend, bohrte sich schon Tullius Dolch in den Bauch des Mannes vor ihn. Blut schoss über seine Hand, der warme Lebensodem sprudelte wie eine Fontäne hervor, denn desgleichen an der idealen Stelle am Körper zu zustechen, das hatte Tullius von seinem Amicus erfahren. Mit einem Ruck stieß Tullius den Dolch tiefer durch das größte Gefäss des Menschen und in das Fleisch hinein, presste mit der anderen Hand dem Schläger den Mund zu und sah mit Genuss in seine ersterbenden Augen.
    Die Euphorie des Tötens durchdrang ihn vollends, alles um ihn herum schien zu verschwimmen, der Moment dehnte sich zu vielen hundert Lebensaltern, scheinbar, und doch vergingen noch nicht mal drei Atemzüge.
    Lautlos zog Tullius den Dolch zurück und ließ den Körper geschickt auf den Boden gleiten, drehte den Dolch hinter seinen Rücken und kam zum Eingang.
    „Sciurus, ich würde sagen, Du kommst hinein und machst keine Mätzchen. Ansonsten ist der Flavier tot, schneller als Du ein Stoßgebet zu Iuppiter schicken kannst.“
    , sprach Tullius leise, lächelte dabei als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre, um den Schein für die anderen Sklaven aufrecht zu erhalten. Dardarshi, der schnell begriff, nahm eines der Küchenmesser und hielt es an die Kehle des bewusstlosen Gracchus. Zwar war sich Tullius bewusst, sein Freund wäre nicht in der Lage einen Menschen zu töten und niemanden, der ihm bis zum letzten Haar glich, aber Sciurus würde das nicht ahnen können. Tullius trat einen Schritt zurück, hielt seine blutige Hand weiterhin hinter seinem Rücken verborgen und deutete mit der Unblutigen Sciurus hinein zu treten.

  • Jede Faser seines Körpers, jeder Muskel und jede Sehne spannte sich an als Tullius' Stimme ertönte, sprungbereit wie eine Eichhörnchen stand Sciurus da, presste die Lippen aufeinander, zog den feinen Draht in seinen Händen auseinander, so dass er bereits ein Stück weit in seine eigene Haut schnitt. Die Sklaven hinter ihm wussten nicht recht, was sie tun sollten, denn auch wenn sie den Herrn in Masse und zudem in die Subura begleitet hatten, so hatte doch keiner von ihnen ernsthaft mit Schwierigkeiten gerechnet, vor allem nicht mit einer Schwierigkeit, welche dazu fähig war das stille, doch massige Leben des Brutus auf solch sang- und klanglose Art und Weise zu beenden. Da jedoch keiner von ihnen das so unrühmliche Ableben des gewaltigen Sklaven von seiner Position aus gesehen hatte und sie somit noch immer nicht das gesamte Ausmaß jener Schwierigkeit begriffen, waren sie nur tatenlos unschlüssig und warteten auf Sciurus' Reaktion.


    Da es ohnehin keinen Sinn hatte, vor dem Raum zu verharren wo nur unnötige Zuschauer auf jene gesamte Situation aufmerksam werden würden, trat Sciurus schließlich in den Raum, wie Tullius dies verlangte. "Wenn er stirbt, sterben wir alle," sagte er trocken, ohne den Hauch einer Drohung, ohne die Spur einer Lüge und ohne darauf einzugehen, dass er nicht an den höchsten Gott der Römer glaubte. Für Sciurus selbst gab es dabei zweierlei Möglichkeiten, in welchen sein diesseitiges Leben enden würde, entweder durch die Hand des Tullius oder seines Kumpanen, oder aber durch die desjenigen, welcher die Besitztümer Gracchus' erhalten würde. Von ihm abgesehen, wertloser Sklave der er war, war dies nicht unbedingt wenig, das gesammelte Familienvermögen lagerte in der Hand seines Herrn und jener hatte noch immer versäumt, ein Testament aufzusetzen, welches dafür Sorge tragen würde, dass es in seiner Gänze in die nächsten fähigen flavischen Hände wandern würde, so dass es nach gesetzlicher Erbfolge zu gleichen Teilen auf seine Geschwister Agrippina, Lucullus und Minervina würde verteilt werden. Der Gedanke daran entlockte Sciurus beinahe ein Zucken des Mundwinkels, Ironie des Schicksals, doch nur beinahe. Tullius dagegen, Namenloser der er in Rom war, würde durch die Hand eines Namenlosen sterben, in den Eingeweiden der Cloaca Maxima verschwinden, hierfür hatte Sciurus vorgesorgt.

  • Ein despektierliches Lächeln auf den Lippen tragend gab Tullius der Tür einen sachten Stoß, sie schwang langsam zu und nahm den draußen wartenden Sklaven jegliche Sicht auf die Geschehnisse im Inneren. Das Holz knarrte bei jedem bedachten Schritt, den Tullius um Sciurus herum ging und ihn feindesähnlich taxierte. Wie beiläufig, als ob keine Gefahr von Sciurus ausgehen würde, ging er zu einer tönernen Schale und tauchte dort den blutigen Dolch hinein, das Wasser färbte sich mit roten Schlieren und sorgfältig wischte Tullius die Waffe an einem linnenen Tuch ab.
    „Setz Dich doch, Sciurus. Wir haben zweifelsohne diese delikate Angelegenheit zu besprechen.“
    Selbst an den Tisch tretend, den Dolch in seiner blutigen Hand haltend, warf Tullius dem Mann, Sciurus, vor sich einen prüfenden Blick zu.
    „Das ist ohne Frage eine Pattsituation, in der wir uns befinden. Greifst Du mich an, ist der Flavier tot, ersteche ich den Flavier, so bin ich dennoch in Gefahr vom Tode ereilt zu werden. Und Du…?“
    Tullius kniete sich neben Dardarshi und schob ihn sachte beiseite, ebenso dessen Hand, deren Zittern er in jenem Momente erspürte. Sanft, gar schon brüderlich liebevoll, zog Tullius Gracchus in die Höhe und lehnte dessen Schulter an seinen Oberschenkel. Die Schneide seines Dolches glitt zart, wie die Liebkosung von den Lippen eines Geliebten, über Gracchus Haut und an seinen Hals, ruhte zartfühlend an seiner Schlagader, bereit in jedem Moment die grausame Kälte des Todes über Gracchus zu bringen. Nachdenklich sah Tullius auf seinen Bruder hinab, strich mit seiner blutigen Hand an dessen Kinn entlang, eine blutige Spur hinterlassend.
    „Du bist sein Sklave!“
    , mutmaßte Tullius.
    „Weswegen Dich bei seinem Tod auch das Jenseits erwarten würde. Doch das muss nicht sein, Sciurus. Mir ist nicht daran gelegen Sklaven zu morden. Nein, ich töte die Herren und Deiner wäre gewiss nicht der Erste. Aber auch das muss nicht sein. Und das liegt nur ganz an Dir, Sciurus.“
    Tullius Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln, während sein Arm sich fester um seinen Bruder herum schlang.
    „Genügend oft habe ich das Sterben eines Menschen beobachtet, ich fürchte das nicht. Aber er, der Flavier in meinen Armen, ängstigt der Tod und das Sterben, es war allzu deutlich in seinen Augen anzusehen. Aber Du Sciurus scheinst mir von einem anderen Schlag zu sein.“
    Aufmerksam betrachtete er den blonden Mann.
    „Leider habe ich Dich ein wenig unterschätzt, was uns in diese deplorable Konstellation gebracht hat. Aber es liegt nur an Dir Sciurus. Soll der Boden jetzt und in jenem Augenblick mit den Blut von uns allen getränkt werden oder fügst Du Dich meinen Bedingungen und keiner wird sterben? Nicht Dein Herr, nicht ich oder mein Freund, aber auch Du nicht.“
    Spielerisch ließ Tullius die Dolchspitze unter Gracchus Kinn entlang fahren, beherrschte sich mühsam, seinen Bruder nicht ein wenig in die Haut zu stechen.
    „Du wirst den Sklaven draußen sagen, daß die Situation geklärt ist. Du wirst sie wegschicken und auch keine versteckten Andeutungen machen. Ich werde das genau verfolgen. Anschließend bleiben Du und Gracchus hier. Ihr beide werdet für die nächsten Tage meine Gäste sein. Anschließend werde ich euch Beide gehen lassen. Ob Du mich danach suchen wirst, das wird Dir überlassen sein. Ob Dein Herr andere Mittel nutzen wird, um mich von dem Leben in den Tod zu schicken, das kann er dann durchaus versuchen. Doch im Moment habe ich, wie mir scheint, in diesem Patt die passenden Würfelseiten oben. Denn ich kann nichts mehr verlieren und bin bereit zu sterben. Ist das Dein Herr auch?“
    Kühl, aber vollkommen ruhig und gelassen, sprach Tullius die Worte, sah Sciurus mit völliger Todesverachtung entgegen und seine Mundwinkel hoben sich marginal.
    „Entscheide Dich, Sciurus.“

  • Um Brutus war es nicht besonders schade, befand Sciurus nebenbei, während seine Aufmerksamkeit Tullius galt, doch vermutlich würde es nicht einfach werden, das Verschwinden des Sklaven im Haushalt zu erklären. Ohne sich über die Schlichtheit des Mobiliars Gedanken zu machen, Sciurus hatte in seinem Leben bereits auf weit schlimmeren Sitzgelegenheiten Platz genommen, setzte er sich, wie der Mann, der seinem Herrn so verwirrend ähnlich sah, es von ihm verlangte, fast ein wenig schon allein deswegen, weil er jener befehlenden Stimme niemals zuvor nicht gehorcht hatte. In der Ruhe des Raumes nun wurde sich der Sklave gänzlich gewiss, dass dies nicht einfach nur ein Bastard des Vaters seines Herrn sein konnte, denn das Abbild war beinahe gänzlich perfekt und wie auch immer die Erklärung dessen lauten mochte, dass sein Herr nichts davon wusste, doch dieser Mann war zur gleichen Zeit dem Leibe seiner Mutter entsprungen, wie er. Sciurus bedauerte, vor der Tür nicht den Inhalt der zuvor gesprochenen Worte vernommen zu haben, denn es wäre wissenswert gewesen, ob Quintus Tullius davon gewusst hatte, doch der Anblick seines Erstaunens an der Tür im Angesicht des Doppels ließ wohl eher darauf schließen, dass er ebenso unwissend gewesen war.


    Der Dolch indes, samt des toten Brutus, bestätigte Sciurus anderweitige Vermutungen hinsichtlich der Person des Tullius, so galt es denn weiterhin äußerst vorsichtig und bedacht vorzugehen. Er mochte aussehen, wie sein Herr, doch dieser Mann war von gänzlich anderem Schlag und während Flavius Gracchus niemals in der Lage gewesen wäre, auch nur daran zu denken, einen wenn auch ihm unbekannten Bruder tatsächlich in den Tod zu schicken, so würde Quintus Tullius keinen Augenblick zögern, wenn es notwendig wurde, dies stand nur all zu deutlich in seinen Augen. "Er mag Angst vor dem Sterben haben, nicht jedoch aus Furcht vor dem Tod, wie ich meine, sondern viel mehr aus Furcht darüber, dass der Zweig seiner Familie aussterben könnte." Der Sklave ließ seinen Blick über die friedlichen Gesichtszüge seines Herrn gleiten, der flach atmend, doch augenscheinlich völlig sorglos in Tullius Händen lag. "Doch in diesem Augenblick, glaube mir, könnte es für ihn nur eine Erleichterung sein, in Unwissenheit zu sterben, in die Gefilde der dunklen Götter überzugehen und im nächsten Gedanken dort drüben schon erkennen zu dürfen, dass all dies Geschehen und Sorgen dieser Welt völlig nichtig ist." Er rollte den Draht in seinen Händen langsam zusammen, völlig ruhig, als würde all dies weder sein eigenes Leben, noch das seines Herrn tangieren. Vermutlich hatte sein Herr die Beherrschung verloren, weshalb er da am Boden lag, darum musste Sciurus nun um so mehr auf der Hut sein.


    "Doch so einfach, wie du dir diese Wahl vorstellst, ist sie nicht. Was soll ich den Sklaven sagen? Dass wir einige Tage in der Subura verbringen werden?" Er lachte kurz in einem trockenen, humorlosen Laut auf. "Kein Mensch würde das glauben. Du magst ihn nicht kennen, doch glaube mir, Flavius Gracchus ist kein Mensch, der sich in den Regionen Roms, in der eine Sänfte nicht rechts und links zwei Fuß Abstand zur nächsten Mauer hat, länger als notwendig aufhält. Natürlich kann ich den Sklaven befehlen, dass sie nichts sagen, dass sie schweigen sollen, doch auch das würde in der Villa Flavia auffallen, genau so wie sein Ausbleiben. Niemand kann in dieser Villa lange ausbleiben, ohne dass gleich der halbe Hausstaat in Sorge aufgeht. Die Flavia sind eine sehr familiäre Gens, spätestens nach einem Tag würde man ihn beim Mahl vermissen und keiner der Verwandten würde ruhen, bis er nicht wüsste wo und warum und wann und wieso der Herr nicht anwesend ist, insbesondere seine Gemahlin." Sciurus log, als wäre dies das Natürlichste der Welt. Niemand würde das Verschwinden von Flavius Gracchus bemerken, geschweige denn sich darüber Gedanken machen, nicht seine Geschwister, nicht seine Vettern, und am aller wenigsten seine Gattin. Der einzige, welcher den Herrn vermissen würde, wäre vermutlich der als Barbier tätige Sklave, denn er schätzte es sehr, wie Gracchus seine Gründlichkeit schätzte. "Von seinen magistratischen Pflichten ganz abgesehen, denn auch hier würde sein Fehlen bemerkbar werden. Kein Mann verschwindet in Rom, ohne dass das unbemerkt bleiben würde, kein Magistrat, und schon gar nicht ein Flavier."


    Beiläufig nickte Sciurus zur Tür. "Ich werde sie fort schicken, doch ob wir mehrere Tage deine Gäste sein können, dies solltest du dir gut überlegen. Denn die Flavia haben ebenso schnell eine Peitsche in der Hand, und einer von ihnen wird früher oder später sagen, wo wir sind."

  • Goldgelbe Sonnenstrahlen legten sich auf die beiden Brüder, Quintus und Manius, reflektierten an der kalten Schneide des Dolches, welche weiße Lichtflecken in den düsteren Teil der Insulawohnung warf. Tullius legte seine unblutige Hand auf die sich langsam hebende Brust seines Bruders und seine Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln. Und schon seit Wochen hatte sich Quintus nicht mehr derart lebendig gefühlt, egal wie der Ausgang dieser Geschichte, dieses Abenteuers war, es erregte ihn beinahe auf gleiche Weise als seine blutigen Beutezüge auf den Planken fremder Handelsschiffe. Das Blut rauschte pochend durch seinen Körper, das leichte und wohlige Schaudern überfuhr ihn und nebst diesem war er völlig klar im Geist. Natürlich gedachte Tullius nicht, dem Sklaven zu berichten, was er in Wahrheit plante und wie er vorzugehen gedachte, geschweige denn, warum er das Ganze veranstaltete. Die Zeit würde als Freundin der schonungslosen Wahrheit all diese möglichen Fragen offenbaren.
    „Mach Dir mal keine Gedanken über meine Planung, Sciurus. Aber es freut mich zu hören, daß Du Dich für das Leben Deines Herren entschieden hast.“
    Es stimmte Tullius durchaus froher, dieses Dilemma doch mit der Zustimmung des Servus gelöst zu sehen, zumindest hoffte er, für sie alle, dass sich Sciurus auch an diese Worte hielt. Denn nur ungern, wahrlich sehr widerwillig, würde Tullius seinen eigenen Bruder in den Tod schicken wollen. Das eigene Blut vergießen zu müssen, war eine gänzlich andere Tat als fremde Patrizier oder Händler zu ermorden.
    „Und Sklaven, die Sklaven Deines Herren dort draußen, habe nicht darüber zu sinnen, was der Flavier macht. Seit wann ist ein Flavier seinen Sklaven gegenüber Rechenschaft schuldig? Schick sie einfach fort, ohne zu erwähnen, dass der Aufenthalt womöglich Tage währen könnte. Außerdem wirst Du hier bleiben, das sollte ihnen für den Moment genügen.“
    Seine Gemahlin, erneut verzogen sich Quintus Tullius Lippen zu einem Lächeln. Er konnte sich schon gut vorstellen, was für eine Frau, was für ein Weibchen diese war, nur mehr dazu in der Lage ihre Tage mit Einkaufen auf den Märkten, dem Verjubeln von Gracchus Geld zu verbringen oder in dem Garten der Villa zu flanieren. Seine Verachtung den Patrizier gegenüber bezog sich insbesondere auch auf die Frauen dieses Standes, wobei er von dem weiblichen Geschlecht durchwegs mit Despektion dachte, hielt er sie doch besonders für schwach und nichtig.
    Obwohl ein Stechen durch seine Seite raste, zog Tullius seinen Bruder in die Höhe und hielt den schlaffen Körper in seinen Armen, den Dolch weiter an seinen Hals. Seine Wunde schmerzte als er Gracchus mit zur Wand trug und sich dort neben den Fensterrahmen lehnte.
    „Keine falschen Worte, Sciurus, ich höre und der Parther sieht alles. Aber ich bin mir sicher, Du bist klüger als Dein Herr in solchen Belangen.“
    Tullius brauchte seinem Amicus mit keiner Geste deuten, was zu tun war. Dieser trat auf die Tür zu und öffnete sie, behielt aber genauso wie Tullius den gefährlichen Sklaven gut im Auge.

  • Den Draht nun um sein Handgelenk gelegt, erhob sich Sciurus wieder und trat an die geöffnete Türe hin. Er brauchte den Sklaven ohnehin keinen Wink zu geben, denn diese wussten von nichts und waren gleichsam ohnehin unfähig. Jene Männer, in welche er das Leben seines Herrn gelegt hatten, waren in der Subura verstreut, obgleich nur ein einziger von ihnen eingeweiht war in das täuschende Spiel mit gleichen Masken. Wie dieser Tag, oder die kommenden Tage ausgehen mochten, dies würde auch sein Leben bestimmen, denn brachten sie das Ergebnis, dass jener Quintus Tullius letzten Endes nicht existiert haben mochte, dann musste auch jener Mann mit dem Wissen darum verschwinden. "Ihr könnt gehen, nehmt auch die anderen mit."


    Um weiteren Fragen vorzubeugen, trotz Tullius' Worte gab es in der Villa Flavia biszweilen zu viele Sklaven, die fortwährend glaubten, ihre eigene Meinung und ihren eigenen Willen kundtun zu müssen, wartete er nicht auf den Parther, sondern schloss sogleich die Türe, um sich schließlich umgewandt dagegen zu lehnen. Dabei blickte er seinem Herrn in die Augen und sehr tief in seinem Inneren verspürte er tatsächlich Erleichterung ob der Tatsache, dass er den Umständen entsprechend wohlauf schien. Doch der Blick in seinen Augen verwirrte ihn, denn er war unfähig ihn zu deuten, gleichsam wie er sah, dass sein Herr die Lippen bewegte, doch die Worte nicht bis zu ihm drangen.

  • Zuerst spürte Gracchus nur das dumpfe Pochen hinter seiner Stirn, ein alles überlagerndes Pochen, sein Empfinden, sein Gespür, jegliche Wahrnehmung. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihm hindurch, matt und glanzlos, als hätte er eine Decke bis über beide Ohren gezogen und sie zudem mit Wachspropfen gefüllt. Sein erster Gedanke war, dass er womöglich schon wieder den Fehler begangen, und mit Caius und Marcus zu viel Wein am Vorabend genossen hatte, für diese Theorie sprach auch das merkwürdige Gefühl des nicht Liegens aber dennoch auch nicht Stehens, sondern eher des völlig unnatürlich schlaff in der Gegend Herumhängens. Dennoch, es fehlte jener unangenehme, säuerliche Geschmack, welcher am nächsten Tage nach solch einem Abend den ganzen Rachenraum ausfüllt und durch nichts, keine Flüssigkeit und keine Speisen, mehr zu vertreiben war, ebenso wie das rumorende Gurgeln um die Magengegend herum. Langsam öffnete er die Augen und nun, im Angesicht des ihm so vertrauten und gleichsam so fremden Gesichtes, wurde ihm schlagartig wieder das Ausmaß der Misere bewusst. Sein Bruder, sein eigener Bruder, hatte ihn zu Boden geschlagen und hielt ihm zu allem Überfluss nun auch noch ein Messer an den Hals, sein eigener Zwilling, Fleisch seines Vaters und seiner Mutter! Es schlug ihm wie ein Blitz durch die Sinne, alles war aus den Fugen geraten. Tullius hatte er vorgeworfen, das Geschenk der Götter nicht anzunehmen, doch er selbst hatte es leichtfertig aufs Spiel gesetzt, hatte es achtlos zu Boden geworfen, hatte sich zu Drohungen hinreißen lassen, seinem eigenen Bruder gedroht, eine Reaktion die aus Furcht geboren worden war, dies immerhin, doch dennoch war sie darum weder ungeschehen zu machen, noch zu verzeihen. Wie war es da verwunderlich, dass er nun in dieser Situation steckte, nah am Körper seines Bruders, was ihn unter anderen Umständen wohl in größere Schwierigkeiten gebracht hätte, als alles andere, doch augenblicklich eher belanglos war.
    "Hngh ..."
    Gracchus' Körper versteifte sich ein wenig, als er seinen Beinen sein eigenes Gewicht anvertraute und versuchte seine übliche gerade Körperhaltung einzunehmen, ohne dabei seine Kehle zu nah an die blitzende Klinge zu bringen, was durch das Pochen in seinem Kopf und einen etwas aus den Fugen geratenen Gleichgewichtssinn nicht unbedingt einfach war. Zudem überkam ihn erneut Bedauern und eine tiefe, unliebsame Erkenntnis. Niemals wäre er zu dem fähig gewesen, was Tullius tat, mochte er diesen Mann nicht kennen, doch niemals würde er sein Blut vergießen können, nicht einmal im Ansinnen, und doch war dies gleichsam einer jener charakterlichen Züge, welche bisweilen im Lauf der Geschichte notwendig werden konnten, welche schon manch großen Staatsmann hatten groß werden lassen, was Gracchus darumhin niemals geschehen würde, Quintus Tullius jedoch möglicherweise weiter vorangebracht hätte, als er jemals gelangen würde. Quintus Tullius - Quintus Flavius Tullius hätte jener Flavius sein können, der dieses Leben so viel besser ausgefüllt hätte, hätte seine Ziehmutter nicht zwischen ihm und Gracchus entscheiden müssen. Gracchus wollte dies alles vergessen, er wollte diesen Mann nicht kennen, nicht einmal um dessen Existenz wissen, er wollte sich nicht noch eines Bruder schämen müssen, nicht noch einen Namen für immer unausgesprochen lassen, er wollte nicht noch einen Bruder verlieren, wollte sich nicht der Erkenntnis stellen müssen, dass das Leben, so wie es war, nicht in seinen geordneten Bahnen verlief, dass sein Leben nicht das seine hätte sein sollen, noch weniger, als bisher angenommen. Doch was Gracchus wollte, dies war völlig unerheblich, denn wann hätten die Götter sich je darum geschert, was er wollte?
    "Mich hätte sie nehmen sollen, nicht dich ..."
    Es war nur ein Flüstern, nur ein Hauch, und doch lag der tiefe Schmerz der unumstößlichen Erkenntnis darin. Gracchus wandte den Blick von Tullius ab zu Boden und sehnte sich danach, dass die Klinge endlich in sein Fleisch schneiden und dieses unrühmliche Leben beenden möge.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Neugierig schnüffelte ein kleiner Straßenhund im Innenhof, hob seine Schnauze zu den versammelten Männern auf den Treppenstiegen, witterte in ihre Richtung, verlor jedoch alsogleich das Interesse und markierte nur hic et nunc sein Revier um zu der Ecke mit dem Metzger zu verschwinden, manchmal fielen für ihn kleine Happen von den Innereien ab. In seinem beschränkten Geist ahnte er noch nicht, dass er sich in den nächsten Wochen dort keine Leckereien erhoffen konnte, der Metzger lag mittlerweile tief am Grunde des Tibers. Das Leben wurde immer regsamer in der schäbigen Insula, doch in der kleinen Wohnung im oberen Stockwerk schien die Zeit für einige Atemzüge still zu stehen.
    Aufmerksam verfolgte Tullius die Bewegungen von Sciurus, runzelte angestrengt die Stirn, konnte jedoch kaum ein Wort von dem Sklaven vernehmen. Ärgerlich sah Tullius zu seinem Amicus hinüber, der nur andeutungsweise mit der Schulter zuckte, da Sciurus ihm die Sicht geraubt hatte.
    Noch ehe sein Bruder einen Laut von sich gab, spürte Tullius die unmerklichen Bewegungen von Gracchus, presste fest die Lippen aufeinander und wünschte sich, dass Gracchus noch ein wenig länger in den Armen der traumlose Schwärze gefangen gehalten worden wäre, hätte ihm das doch sein Vorhaben etwas erleichtert und auch Gracchus einiges an Unannehmlichkeiten weiterhin erspart. Doch Tullius wappnete sich, schlang den Arm fester um Gracchus, damit jener nicht in einer unbedachtsamen Bewegung sich selber durch den Dolch am Hals verletzte.
    Einen langen Atemzug lang war Tullius von den Augen seines Bruders gebannt, sah ihn ruhig und kühl an, und obwohl sich Tullius schon seit seiner Kindheit vor vielem verschlossen hielt, von Drohungen, Beschimpfungen und lästerlichen Worten sich nicht berühren ließ, stießen die wenigen Worte von seinem Bruder tief in sein Innerstes hinein. Tullius Nasenflügel erbebten marginal, so brauchte er einen Augenblick um seiner Stimme einen unbeteiligten Ton zu verleihen.
    „Womöglich. Doch Du, Bruder, hättest kaum in der Subura überleben können. Geschweige denn dort, wo ich in den letzten Jahren war.“
    Auf der Triere hätte der Mann, den er in seinen Armen hielt, wohl kaum die Jahre durch gestanden, die Tullius dort an den Rudern verbracht hatte, doch in Tullius keimte schlechterdings der Verdacht: vielleicht unterschätzte er selber seinen Bruder zu sehr. Nichtsdestotrotz würde er das und das Potential seines Bruders in den nächsten Tagen eruieren, seine Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln und er schob Gracchus auf den Tisch zu. Noch einmal wollte er ihm nicht mit dem Dolch an die Schläfe schlagen, denn die Gefahr ihn dabei zu töten, war zu groß.
    Noch bevor die Sonne einen Handbreit am Tisch weiter wandern konnte, hatte Tullius, mit der Hilfe seines Amicus, die beiden Männer gefesselt. Den Dolch steckte Tullius schließlich an seinen Gürtel und sah auf Gracchus hinab, keine Regung, kein Mitgefühl zeigte sich in Tullius Antlitz.
    „Sei unbesorgt, Bruder, ich töte Dich nicht. Auch Deinen Sklaven nicht, den erst recht nicht. Aber Du wirst nun lernen müssen, dass weder Deine Familie, noch Dein Name oder ein kleiner Halbmond Dich zu schützen vermag. Wir sehen uns später, Bruder.“
    Mit einem Ruck zog Tullius einen dunklen Leinensack über Gracchus Kopf, selbiges tat Dardarshi mit Sciurus. „Was tust Du da?“ tönte die Stimme von Laevinia.
    „Das geht Dich nichts an!“
    Still und verlassen lag die Wohnung in dieser schäbigen Insula, nachdem Tullius seinen Bruder aus der Insula geschafft hatte. In einem Wagen, beladen mit Säcken und Fässern schmuggelte Tullius seine beiden Geiseln aus dem Viertel und auch aus der Stadt hinfort. Überdies kannte Tullius die tausend Augen der Subura, die aus jedem Fenster, jeder Gosse und jedem Loch der Cloaca zu starren schienen, doch wer in der Subura aufwuchs, der lernte wie eine unsichtbare Ratte durch den ganzen Abfall der Stadt zu verschwinden. Und das tat Tullius, mit seinem Bruder.

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