[Bibliothek] - Lesesaal

  • Die wenigen Wochen, die er hier in Mogontiacum verbracht hatte, hatte Vala ausgiebig dazu genutzt sein bisher nur mündliches wiedergegebenes Wissen über das römische Reich in schriftliche Form zu gießen. Und diesen Cursus Res Vulgares abzulegen, was Vala wohl das Wahlrecht verschaffte. Und eine Diploma.
    Die schimmernde Bronze hatte er in der großen Halle aufgehängt, gleich neben den Verdiensten seiner Ahnen und seiner Mitmenschen. Der Gedanke, sich jetzt schon verewigt zu haben, und wenn es nur eine Diploma für herausragendes Wissen über das Wesen der römischen Welt war, gefiel ihm.


    An diesem Tag hatte Vala genug von den Erzählungen der ganzen gelehrten und belesenen Männer, er wollte wissen wie es im Alltag aussah. Und was konnte da seinem Wissensdurst dienlicher sein als das hiesige Archiv der Acta Diurna.
    Vala vergrub sich wieder in einer Ecke, stapelte mehrere Ausgaben der kaiserlichen Meldeschrift neben sich, und begann zu lesen... zwischendurch machte er sich Notizen, aber die meiste Zeit las er. Prägte sich Namen ein. Daten. Zusammenhänge.


    Vala lernte.

  • Eila selbst hatte das Werk des Plinius selbst bisher nur in Auszügen gelesen. Es war schlichweg zu umfangreich und die anderen in der Bibliothek vorhandenen Schriften einfach zu zahlreich um alles zu schaffen. Doch sie bemühte sich... Den Anfang der Naturalis historia jedoch hatte sie sogar bereits überflogen.
    "Hmm... ich glaube ich weiß, was du meinst. Das müsste irgendwo im zweiten oder dritten Buch stehen. Suchst du diese Schrift für deinen Herren oder liest du sie aus eigenem Interesse?" So, wie der Sklave sich ausgedrückt hatte, schien es ihr gar, als ob er zum Vergnügen nach der Schrift suchte, was eher selten der Fall war, aber umso erfreulicher. Selbst eine Leseratte und vor allem als Curatorix freute sich Eila über jeden, der die Literatur ebenso wie sie zu schätzen wusste.
    So zurückhaltend wie der Sklave jedoch von seinem Wesen her schien, fragte sich Eila dann, ob sie nicht mit ihren Fragen und ihrer gutgemeinten Hilfe gar zu aufdringlich war. "Entschuldige die ganzen Fragen... ich möchte dich nicht stören. Ich unterhalte mich nur gerne mit den Menschen, die es hier in die Schola treibt." meinte sie daher. Ihre Worte waren wohlgewählt. Sie wusste, wie die Römer über Sklaven dachten und es außer Seneca zum Beispiel nur wenige gab, die Menschen in ihnen sahen. Eila, als gebürtiger Germanin, lag dieses Denken jedoch fern...

  • Irgendwo im zweiten oder dritten Buch. Wenn das, was er bisher gelesen hatte, mittendrin war, konnte er ja später vielleicht noch den Anfang lesen, überlegte er still für sich.
    Phaeneas löste gänzlich den Blick von den gezeigten Schriften, wo er vorhin noch größtenteils verweilt hatte, und sah nun wieder die Duccia, Duccia Flamma, an. Mit aufmerksamen Augen blickte er sie an und sog ihr Wesen in sich auf.
    „Es ist nur für mich selbst. Ich habe erst vor kurzem das Lesen und Schreiben gelernt und brauche deshalb möglichst viele Übungsmöglichkeiten.“ Ein klein wenig – ein kleines bisschen schüchtern, aber er redete. Nicht über irgendetwas belangloses, sachliches, sondern über etwas, das unmittelbar mit ihm zu tun hatte und für ihn eine Rolle spielte. Es war sozusagen eine Art höfliche Schüchternheit.
    „Mein Lehrer hat mich inzwischen mehrmals in der ‚Naturalis historia‘ lesen lassen und ich möchte diese Schrift nun gerne selbstständig weiterlesen. Ich finde es bemerkenswert“, fügte er an, „wie der Verfasser dieses Werkes anhand von Gedankengängen das Universum erkundet und auf diese Weise etwas beschreiben kann, was er so noch nie gesehen hat – und das mit einer schier unbestechlichen Logik!“ Während er erzählte, was in etwa ihm an Plinius‘ Naturkunde gefiel, kam auch etwas Emotion in Phaeneas‘ Worte. „Und man stelle sich nur vor, beim Lesen kommt man dabei der Sonne und den Sternen näher, man kann in das All hinausblicken und der Erdkreis offenbart manche seiner Geheimnisse ...“ Wer das hier aus dem Zusammenhang gerissen hören würde, da war sich Phaeneas sicher, der würde sich fragen, über welchen mächtigen Zauber die beiden da sprachen.
    „Na ja, es ist sozusagen meine erste wirkliche Lektüre“, fügte der Bithynier noch an.
    Ihre Entschuldigung ließ er so stehen, erzählte nur von seinem Unterricht und seinem Wunsch, eben dieses Buch weiterzulesen und warum – ein unausgesprochenes ‚Du störst nicht‘.

  • Wenige Tage später fand Vala sich wieder in der Bibliothek ein... die Acta-Archive hatte er mit beständigem Eifer durchgearbeitet, und dabei amüsiert festgestellt, dass die Geschichten, die er dort las, irgendwie jenen glichen, die er selbst zuhause gehört und miterlebt hatte. Nur die Lebensumstände waren komplett anders, die Umgebung, die Umwelt. Ein auf den Treppen des Senats ermordeter Senator? Erinnerte ihn irgendwie an den Mord an einem Rich nach einem Thing, keine zehn Fuß vom heiligen Thingkreis entfernt. Der Mörder war er selbst gewesen, der Rich unbelehrbar, und seine Beseitigung ein Muss, um die instabile Koalition nicht zu gefährden. Vielleicht war dies hier ja das gleiche... und dann noch was? Eine Senatorengattin bei der Geburt des Kindes gestorben, ein Legat während eines Feldzugs gefallen, Preisverfall in einer Kleinstadt, die massiv durch die Produkte und Vertriebswege eines reichen Grundbesitzers unter Druck gesetzt wurde... alles Dinge, die auch jenseits des Rhenus geschahen. Nur schrieb sie dort niemand auf.


    Vala registrierte mit schnellen Gedanken, dass die Unterschiede, die dem römischen Reich die Macht über all diese Völker verliehen hatten, vor allem in der Organisation und in der Disziplin lagen. Dinge, die Vala sich über kurz oder lang auch zueigen machen würde... machen MÜSSEN würde, um dort zu überleben, wo er seine Zukunft sah.


    Am heutigen Tage war die Chronik dran, kurze Übersichten über die offiziellen und fast offiziellen Geschehnisse im Reich. Wieder stapelten sich mehrere Tafeln neben seinem Hocker, und wieder verbrachte Vala sehr viel Zeit damit, sich die Welt der Römer zueigen zu machen. Dabei verglich er stets und beständig mit seinen Erfahrungen, was ihm sehr nützlich vorkam, gab ihm dies doch Orientierung...


    Vala lernte mehr.

  • Eila lächelte erfreut, während Phaeneas von den Naturalis historia erzählte. Und desto mehr er sprach, umso mehr zeigte sich seine Begeisterung.
    "Hmm...ich kann deine Bewunderung verstehen. Und wenn ich dich so sprechen höre, sollte ich mich selbst vielleicht auch mal wieder eingehender damit beschäftigen." meinte sie daher.
    Sie bewunderte den Sklaven für seinen Lerneifer und seine Wissbegierde. Das war nicht selbstverständlich, weder bei Sklaven noch bei freien Bürgern. Und ganz in ihrer Rolle als Curatorix aufgehend meinte sie daher: "Falls du einmal Hilfe brauchst, bei der Grammatik oder ähnlichem oder einfach fragen hast, kannst du dich jederzeit gerne an mich wenden. Ich kann dir sicher helfen, wenn du mehr über die lateinische Sprache oder bestimmte Werke lernen möchtest."

  • Als Gegenstück zu ihrem Lächeln erschien ein schmales Schmunzeln auf Phaeneas‘ Gesicht.
    Es erfüllte ihn mit ... Stolz, dass diese junge Frau vor ihm, Duccia Flamma, aufgrund dessen, was er ihr von der Naturalis historia erzählt hatte, den Gedanken erwägte, dieses Werk wieder einmal zur Hand zu nehmen.
    „Es lohnt sich“, antwortete er und nickte leicht.
    Wie er auf ihre Hilfsbereitschaft reagieren musste, tat ihm selbst in der Seele leid ... Wie großzügig sie ihm anbot, jederzeit zu ihr kommen zu können, das wärmte ihm das Herz.
    „Leider werde ich nicht mehr oft Gelegenheit haben, hierher zu kommen, denn ich werde bald mit meinem Herrn nach Rom abreisen.
    Aber ... Danke für dein Angebot!“
    Und er sah sie an.


    Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens fügte er schließlich hinzu: „Na ja, zum Glück kann ich Plinius‘ Naturkunde auch in der Bibliothek der Villa in Rom weiterlesen.“

  • Wochen nachdem Vala ins Reich eingekehrt war, war sein Wissensdurst immernoch nicht gestillt. Morgens, wenn die anderen aufstanden um sich dem Tagewerk zuzuwenden, half Vala ihnen dabei die Hausarbeit auszuführen, die Pferde der Hros auf die große Weide zu führen und in der Hufa nach dem rechten zu schauen, auch wenn die dort lebende Kleinfamilie um den alten Hartwig bisher mehr als verlässlich erschienen war. Als die anderen sich ihren Aufgabenbereichen zuwandten, die außerhalb der Casa lagen, begleitete Vala seine Base Eila in die Schola, verabschiedete sich dort von ihr und vergrub sich wieder in den Büchern.


    In dieser Woche wühlte er sich durch Gesetzestexte. Von den zwölf Tafeln bis zur aktuellen Gesetzesgebung arbeitete er sich durch die Schriftrollen und Tabulae, befasste sich mit der Außenpolitik des Reichs und las sich von den kaiserlichen Dekreten bis zur Exempelhandhabung in den Stadtverwaltungen, ackerte sich durch Rechtsprechung und bekam nach einiger Zeit das dumpfe Gefühl, dass das Recht vor allem den Menschen halt, die sich damit auskannten. Er las von einem Fall, in dem ein kleinerer Beamter einen größeren aus dem Amt drängte, den Anlass dafür gab ein anscheinend zufälliger Unfall, doch je mehr man sich mit dem Fall beschäftigte, desto klarer wurde seine durchgeplante Inszenierung.
    Vala lächelte, das gefiel ihm.


    Die Rechts- und Ratssprechungen, die er in seinem bisherigen Leben mitgemacht hatte, waren ebenfalls nichts anderes gewesen als Interessensvertretungen. Interessen von Mächtigen gegenüber von Wehrlosen, von Wehrlosen gegenüber von Mächtigen. Gesetze gaben der Gesellschaft eine Gestalt, eine Ordnung. Und wenn Vala sich für etwas begeisterte, dann war es Ordnung.
    Er investierte über die Tage mehr Zeit in das Studium von Gesetzestexten und Verhandlungsprotokollen als mit der Literatur, die er nur angeschnitten hatte. Römische Erzählung war nicht das seine, und er hatte sie als weniger wichtig auf später verschoben, er würde sich durch die Zeit damit beschäftigen.


    Die Dynamik, mit der die Römer die ihnen unterworfene Welt mit Gesetzen versah, fesselte Vala so sehr an die Schriftrollen, dass er teilweise vergaß, sich mittags nach draußen zu begeben, um etwas essbares zu sich zu nehmen. Mehreremale wurde er von Eila darauf aufmerksam gemacht, dass man die Bibliothek bald schließen würde, und mehrere Male lief er Gefahr, eingeschlossen zu werden, so sehr fesselte ihn das Wissen, dass langsam aber sicher in seinen Geist sickerte.


    Vala begriff.

  • Nachdem Vala wieder mehrere Wochen damit zugebracht hatte, sich selbst römisches Recht beizubringen, und die praktische Ausführung dessen in Protokollen und beobachteten Gerichtssitzungen erfuhr, wandte er sich schließlich einem anderen Bereich zu. Einem Bereich, der für seine Sippe von essentieller Bedeutung war, was Lando auch nicht müde wurde zu betonen: die Duccii bezogen den größten Teil ihres Wohlstands aus dem freien Handel. Nicht nur ein Bürgerrecht in seiner Familie war durch die Betriebsamkeit der Söhne Wolfriks bezahlt worden. Und selbst die Töchter ließen sich nicht lumpen: beinahe alle hatten ein kleineres oder größeres Unternehmen, und selbst das Familienküken Sontje hatte die Muse einen Barbier herumzukommandieren während Lando es wohl geschafft hatte aus einem kleinen Gewürzhandel das größte Handelskonglomerat nördlich der Alpen zu kreieren. Auch wenn die Menge der Geschäfte, die seine Sippe kontrollierte wohl für römische Verhältnisse lachhaft war, und kaum mit den Magnatismen von Großgrundbesitzern und Fabrikaten mithalten konnte: in Mogontiacum waren sie nicht nur deswegen eine Macht. Zig Familien wurden durch den Erfolg der Freya Mercurioque ernährt die Lando in weiser Vorraussicht oder großer Dummheit auch römischen Teilhabern geöffnet hatte, und so war auch eine gewisse Stimmungssicherheit in der Stadt zugunsten seiner Familie zu verorten. Auch wenn dieser Einfluss an den Mauern des Castellums abrupt stoppte: Marktmacht war immer auch politische Macht, das verstand Vala.


    Und so wühlte er sich durch die Erklärungen zur Wirtschaft, entsann sich an Kommentare von Platon oder Xenophon, aber auch an die Bauernweisheiten seiner Herkunft. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, und derjenige erzielt den größten Gewinn der den Umsatz am genauesten berechnen konnte. Grundlage um Grundlage las er in sich hinein bis er sich in die höheren Sphären der Steuererrechnung und Umsatzdifferenzierung hereinarbeiten konnte. Und dann die Rechtsgebung, wer was anbieten und produzieren durfte, und wer was nicht. Das umfasste ganze Gesetzesrollen und Bücher, es war also eine ganze Menge zu lesen. Und das dauerte so seine Zeit.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!