Balneum | Zwei Vettern unter sich (Gracchus et Aquilius)

  • Der Tag war schwül gewesen, und wegen des bevorstehenden Krieges hatten besonders viele Menschen den Tempel des Mars Ultor besucht und geopfert - viel mehr Arbeit als sonst hatte sich daraus ergeben, und auch wenn man auf einen Ansturm vorbereitet war, man war doch nicht unbedingt auf die sorgenvollen Gesichter der Mütter, der Brüder und Ehefrauen vorbereitet, die für ihre Kinder, Männer und Geschwister opferten. Dass jeder Krieg Opfer erforderte, war mir immer bewusst gewesen, aber es war eine Sache, vom Verlust einer Legion zu hören, zu wissen, wieviele Soldaten darin untergegangen waren, und eine andere, aus einer nüchternen Zahl die Gesichter der Angehörigen gemacht zu sehen, denen man ihre Sorgen und Ängste durchaus anmerken konnte. Mars würde sie schützen, dessen war ich mir sicher, und doch hatte mich dieser Tag, wie schon die vorhergehenden, erschöpft. Ich hatte wenig Lust darauf gehabt, mich zu meiner vor sich hin lebenden Familie zu gesellen und das Gerede über Alltagssorgen anzuhören, welches sich im atrium oder beim Essen zweifelsohne ereignen würde - Furianus, der ein neues Amt anstrebte, Felix, der irgend etwas aus dem Senat zum Besten gab, Lucullus, der endlich genesen war und seinen Tempeldienst wieder aufgenommen hatte - all das verblasste vor den Gesichtern der Mütter, Frauen, Schwestern und Brüder.


    So war mir das balneum der Villa zu einem refugium geworden, hier kam abends meist niemand her und ich konnte meinen Blick über die Mosaiken wandern lassen, mich ein wenig dabei entspannen, während mir eine Sklavin den Rücken schrubbte und das Haar wusch, und dann ohne Ziel und Sinn im Wasser vor mich hin dümpeln, bis es Zeit war, schlafen zu gehen, um den nächsten Tag voller sorgenvoller Gesichter anzugehen. Schlecht verborgene Sorgen waren immer die schlimmsten, sie hatten auch das Gesicht meiner Mutter zu Lebzeiten entstellt, je mehr Wirrungen unseres Familienzweigs an die Öffentlichkeit gedrungen waren ... seufzend griff ich nach meinem Weinbecher, in dem sich ein süßer, dunkler Roter befand, und nahm einen Schluck, die Gedanken an meine Eltern fortspülend. Ich wollte mich nicht erinnern, nicht jetzt, nicht heute, nicht an meine Eltern - und fast beneidete ich meine nun verlobten und verheirateten Verwandten darum, jemanden zu haben, der ihnen aufmerksam zuhören würde, wenn sie von ihren Sorgen sprachen. Zumindest gehörte das zu den Aufgaben einer Ehefrau, auch wenn viele diese Aufgabe nicht gern erfüllten. Wie wohl meine künftige Frau aussehen mochte, was würde sie mögen? Doch immer, wenn ich versuchte, mir ein Gesicht vorzustellen, blickte ich in die Augen nur eines einzigen Menschen, des einzigen, den ich nicht haben konnte ... wieder seufzte ich und leerte den Becher, zu träge, die Sklavin herbeizurufen, dass sie mir nachschenken mochte. Dass sich Schritte auf dem Gang näherten, bemerkte ich indes nicht ...

  • Der Tag war lange und anstrengend gewesen, nicht gar so defatigierend wie jene im vergangenen Amt des Cursus Honorum, doch nicht weniger angefüllt mit Aufgaben und Pflichten. Der Tempel der capitolinischen Trias war gut besucht dieser Tage, das Wohl des Imperium Romanum mit der Aussicht auf den bevorstehenden Krieg ein Anliegen vieler Menschen, so dass immer irgend etwas zu tun war und sich dazwischen kaum Ruhe fand, Ruhe, nach welcher Gracchus es förmlich dürstete. Noch immer quälte ihn des Nachts sein Zahn, wenn auch nicht mehr gar so heftig wie vor einigen Wochen, zudem quälten ihn seine Erinnerungen und Gedanken, die Geschehnisse der unlängst vergangenen Zeit, nicht zuletzt die Abwesenheit Sciurus', welche langsam unerträglich wurde. Vieles war geschehen, zu vieles für seinen Geschmack, doch wann hätte sich der Lauf der Zeit je nach seinem Geschmack gerichtet? An diesem Abend trieb es ihn darum in das Bad, womöglich würde sich hier die gesuchte Entspannung finden, umhüllt vom warmen, angenehm weichen Wasser und dem leichten Duft nach Blütenöl. In Gedanken versunken öffnete Gracchus die Türe zum balneum, wo bereits die Wärme des Wassers ihm entgegen schlug. Doch das Bad war nicht leer, wie er hatte angenommen, es war dies nicht im Geringsten. Gracchus' Mund öffnete sich in leichtem Erstaunen, derangiert drehte er sich zu der Tür, durch welche er soeben getreten war als wolle er sich versichern, dass er den Riegel nicht versehentlich durchbrochen hatte. In just diesem Augenblick trat jener Sklave durch sie hindurch, welchen er geschickt hatte, das Bad zu bereiten, mit verkniffenem Gesicht und ängstlich geweiteten Augen. "Herr, ich habe dich überall gesucht, Herr. Das Bad ist schon ... wie du siehst ... Herr," stammelte er vergeblich bemüht um Contenance, wusste er doch nur allzu genau, was unfähigen Sklaven in der Villa Flavia allgemeinhin blühte. Doch Gracchus winkte nur ab.
    "Geh."
    Er überblickte eilends den Raum, dabei äußerst bemüht nicht das Wasserbecken mit seinem Blick zu streifen, wusste er doch nur allzu genau, dass er sich nicht mehr würde davon lösen können, und machte zwei Sklavinnen aus, welche bereit standen, ihrem Herren zu Diensten zu sein.
    "Ihr auch, hinaus."
    Die Strenge seines Tonfalles ließ keinen Zweifel an seinen Worten zu und die Sklaven eilten sich, den Raum zu verlassen. Wie in den öffentlichen Thermen auch war es in den privaten Bädern nicht unüblich, das Wasser zu teilen, und mussten die Sklaven den Raum verlassen, so ließ dies einzig auf Gespräche schließen, die für keinerlei Ohren bestimmt waren. In diesem Falle mochte dies ein wenig anders sein, doch konnte keiner der Sklaven dies ahnen. Nachdem sie das balneum verlassen hatten, schloss Gracchus die Türe, schob den hölzernen Riegel davor und lehnte sich gegen das Holz. Erst nun gestattete er sich, den Badenden genauer in Augenschein zu nehmen. Seit ihrem letzten Gespräch war viel Zeit vergangen, ob all der Geschehnisse hatte Gracchus kaum Gelegenheit gefunden Aquilius zu sehen, womöglich hatte er gleichsam versucht, ihn nicht zu sehen. Sein Vetter war in den Dienst des Cultus Deorum zurück gekehrt, soweit war er informiert, doch war Aquilius' korrekte Pflichterfüllung beinahe das letzte, was ihn an diesem Menschen interessierte, war Caius doch der einzige Mensch, welchem Gracchus bereit war alles zuzugestehen, gleich, was es war - bis hin zur Pflichtvergessenheit, welche er bei jedem anderen Familienmitglied aufs schärfste würde verurteilen. Noch immer war die leichte Bräune nicht von Aquilius' Haut gewichen, sein Haar gleichsam noch immer ein wenig ausgebleicht, doch war es längst geschnitten und sein Kinn wieder täglich sorgsam rasiert. Seine starken Schultern, die muskulöse Brust und Arme ragten aus dem Wasser, unerschütterlichen Felsen gleich, und die Ahnung, was weiter abwärts dem folgte, ließ Gracchus hart schlucken.
    "Salve, Caius."
    Noch einmal schluckte er, versuchte die Trockenheit wie Tonlosigkeit gleichermaßen aus seiner Stimme zu vertreiben. Ein feines Lächeln begann seine Lippen zu kräuseln, eine Regung, die nicht bewusst, darum um so ehrlicher und der nichts entgegen zu setzen war.
    "Wenn du dich so gut fühlst, wie du aussiehst, so kann augenblicklich jegliche Sorge um dich von mir abfallen. Wie geht es deinem Kopf und all den Erinnerungen, die darin stecken?"
    Noch immer machte Gracchus keinerlei Anstalten von der Türe zu weichen, wie festgewachsen stand er.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Das erste Gefühl, welches mich erfüllte, als ich hörte, dass jemand eingetreten war, war Unwillen. Ich wollte alleine sein, nicht durch irgendein familiäres Problem gestört werden, das sich zweifelsohne ausbreiten würde, sobald sich jemand mit mir in das Becken setzte, ich wollte mein refugium für mich alleine, und hätte ich einen Wachsklaven gehabt, hätte ich ihn wohl vor der Türe stehen lassen, damit niemand eintreten könnte - nur sah es derzeit danach aus, als bedürfte mein Sklave eines Wachmanns, nicht ich selbst. Das Gestammel des Sklaven ließ mich innerlich seufzen, doch die Stimme, die ich danach vernahm, hätte nicht schlimmer und gleichzeitig süßer sein können: Manius' Stimme.
    Was tat er hier, jetzt, zu dieser Stunde? Suchte er wie ich die Ruhe des Bades nach einem anstrengenden Tag? Ich ließ mich tiefer ins Wasser sinken, sodass nur noch Kopf, Arme und Schultern herausragten, meinen Leib so gut als möglich verbergend, denn vor ihm wollte ich nicht nackt sein, mir keine Blöße geben. Mein Körper würde mich ohnehin früh genug verraten, sobald er sich entkleiden sollte, vielleicht gewann ich damit etwas Zeit. Aber er ging nicht, schickte meine Badesklavinnen weg und wir waren alleine. Warum nur tust Du das, Manius, wollte ich schreien, aber ich sagte nichts. Die andere Stimme in meinem Inneren flüsterte gänzlich andere Dinge, die wenig mit diesem Satz zu tun hatten.


    Vielleicht würde er mich auch einfach nicht ansprechen, nur zu mir blicken und wieder gehen, ich hatte mir viel Mühe gegeben, ihm aus dem Weg zu gehen, seit ich von einer Sklavin gehört hatte, dass er über Nacht bei seiner Frau geblieben war. Mein Recht darauf, mich zwischen ein Ehepaar zu drängen, war zu gering, ich hatte ihm versprochen, meinen Abstand zu bewahren, das Unfassliche zu akzeptieren. Aber er sprach mich an, kam nicht näher, stand hinter mir an der Türe, und ich war fast froh, dass ich ihn nicht sehen musste, dass er nicht sehen konnte, wie sehr ich mir wünschte, er würde mit mir in diesem verfluchten Becken sitzen.
    "Salve, Manius," erwiederte ich und hoffte, man würde die Rauhheit meiner Stimme nicht zu deutlich hören. Alles stürzte in diesem Augenblick auf mich ein, die Einsamkeit meiner letzten Nächte, der Hunger, den lächelnde Frauen nur immer wieder geschürt hatten, und nicht zuletzt das Begehren, das in seiner Nähe immer aufs Neue entflammte und nie gestillt werden durfte. "Mein Kopf ist müde von all den gehörten Gebeten des heuten Tages, man könnte meinen, die Frömmigkeit greife erst im Kriege wieder im Volke um sich, wenn sich die Menschen Sorgen um ihre Liebsten machen müssen. Aber ich würde wetten, es sah bei Dir heute auch nicht besser aus, Vetter."


    Langsam drehte ich mich im Becken um, sodass ich zu ihm aufblicken konnte und tiefere Regionen meines Leibes nun vom Rand verborgen bleiben mussten - eine reine Sicherheitsmaßnahme, und wie ich sogleich fühlte, nicht unklug getroffen, sah er doch, aufrecht und erschöpft zugleich, genau so aus, wie man sich einen Menschen nur wünschen konnte, ungleich näher und offener als sonst, ohne die übliche Distanz zwischen uns, die so vieles ersticken ließ. "Willst Du das Bad mit mir teilen, oder lieber alleine sein? Einem Gespräch würde ich mich nicht verschließen, doch respektiere ich auch, solltest Du im Stillen entspannen wollen, ich lag lange genug hier drin." Es war gemein, hinterhältig, ich wusste das genau, denn ihm die Entscheidung zu überlassen hieß, ihn zu einem stillen Zugeständnis zu zwingen, mir klar zu sagen, ob er mit mir in einer so intimen Nähe allein sein wollte oder nicht. Und obgleich ich wusste, wie gemein dieses Ansinnen war, ich konnte nicht anders handeln, ich wollte es von ihm hören, jetzt, in diesem Augenblick.

  • Die Spannung, welche im Raum, welche zwischen ihnen herrschte, war beinahe greifbar, wie ein Band aus flüssigem Harz, weich und biegsam, doch ebenso fest klebend und beständig. In jenem unbedachten Moment, in welchem er die Sklaven fort geschickt und die Tür geschlossen hatte, hatte er sich in diesem Spinnennetz verfangen, nun versuchen sich hinauszuwinden würde ihn nur unweigerlich tiefer darin verheddern. Er mied die Augen seines Vetters, blickte in das Wasserbecken, das verlockend, unschuldig sich in feinen Wellen kräuselnde Wasser - unverfängliches Becken gänzlich natürlicher Reinigungstat. Eine Berührung nur, ein nasser Zeh, und es würde ihn verschlingen, dessen war er sich sicher.
    "Ich denke nicht, dass ich ..."
    begann er, stockte jedoch. Dass ich ein Bad mit dir aushalten kann, waren seine Gedanken. Doch es war albern. Wie oft hatten sie gemeinsam in einem Becken voller Wasser gesessen, in der heimischen Villa, in den öffentlichen Thermen, als Jungen, als Heranreifende und auch als Männer? Konnte die Distanz zwischen ihnen geschaffen haben, was die Nähe niemals vermocht hatte zu tun? Es wäre kindisch das Bad zu verlassen ohne getan zu haben, weshalb her gekommen war, ein Bad zu nehmen, nicht mehr und nicht weniger, mit und ohne Caius. Gleichsam wäre es ebenso närrisch die Möglichkeit verstreichen zu lassen mit Caius jenes Gespräch zu führen, welches er sonstig mit niemandem in dieser Villa würde führen können, welches ihm auf dem Herzen brannte, es verbrannte, Asche zurückließ, Tag um Tag seit Tagen. Sie würden das Bad teilen, nichts verfängliches war daran, nichts verwerfliches, tagtäglich geschah solcherlei überall auf der Welt. Doch Gracchus wusste, er würde in diesem Becken untergehen oder ertrinken, letztlich vielleicht beides. Es war unvermeidlich. Dennoch strich er seine letzten Worte mit einer oberflächlich belanglosen Geste hinfort, ging langsam zu einem Stuhl ohne Aquilius aus den Augen zu lassen, trug eine Gelassenheit zur Schau, mit welcher er Caius noch niemals hatte betrogen, und nahm Platz.
    "Geh nicht wegen mir. Diese Villa ist ohnehin viel zu leer."
    Nicht nur leer an Einwohnern, auch leer an sinnhaften Worten, leer an wahrhaftigem Gefühl und leer an Leben. Vornüber gebeugt begann er voll Sorgfalt die Riemen seiner Stiefel zu lösen, langsam und bedächtig, womöglich in der Hoffnung die verstreichende Zeit würde ihm jene Beherrschung schenken, welche er in sich zu schwinden befürchtete, und die Gelenke ein wenig starr, um das verräterische Zittern seiner Finger zu unterdrücken.
    "Ich hörte, du bildest eine Discipula aus. Macht sie gute Fortschritte?"
    Belanglosigkeiten waren immer schon ein probates Mittel gewesen, die eigenen Schwächen, die eigene Unsicherheit zu überspielen. Umständlich nestelte Gracchus weiter an den Riemen, hielt seinen Blick auf die eigenen Füße gesenkt.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Er kam herein, und was noch viel wichtiger war, er schickte mich nicht fort. Was immer heute noch gesprochen werden würde, er hatte mich nicht weggeschickt, wie man ein Kind fortschickte, einen Menschen, den man nicht sehen wollte - ich konnte bleiben. Und gleichzeitig, wie mich diese simple Tatsache mit brennender Freude erfüllte, hätte ich doch weinen können, da ich mich so sehr an ein Lächeln, an ein Wort von ihm knechtete, nicht mehr derjenige war, der besaß, der eroberte, sondern einer verwitterten Festung auf irgendeinem Berg nahe des Po gleich, darauf wartete, mit neuem Leben erfüllt zu werden, aus der Miserabilität des Wartens in die Freude des Gebrauchtwerdens zurückgeführt zu werden. Ob er mich brauchte? Wahrscheinlich nicht. Ob ich ihn brauchte? Ich wagte es nicht, diese stumme Frage zu beantworten, ich kannte die Antwort nur zu gut, sie erfüllte mich jeden Tag aufs Neue, in dem ich ihm auswich, mich selbst zu meiner vermeintlichen Stärke beglückwünschte und doch, wenn ich abends alleine in meinem cubiculum weilte, genau wusste, dass ich ihn vermisste, niemanden sonst.


    Er brauchte lange, um seine Stiefel zu öffnen, und ich betrachtete ihn dabei, als würde ich zum ersten Mal sehen, wie jemand sich sein Schuhwerk selbst auszog. Aber doch, mein Blick musste seinen Bewegungen folgen, ich konnte nichts anderes tun als auf seine Finger zu starren, bewegungslos, gefangen in diesem Anblick wie die Fliege im Netz der Spinne.
    "Nun, ich habe sie noch nicht lange als discipula, aber sie scheint intelligent, aufgeweckt und strebsam, ihre Entscheidung, klein zu beginnen und von Grund auf alles zu lernen, was einen sacerdos ausmacht, ist ehrenhaft und ich versuche, ihr alles beizubringen, was sie wissen muss, um die Prüfungen zu bestehen ... den Rest wird ihr Glaube an die Götter erledigen müssen, aber ich denke, sie wird den Erfolg haben, den man ihr nur wünschen kann. Sie ist, wie die meisten Octavier, pflichtbewusst, was ihr beim Lernen sicherlich helfen wird." Dass sie ausgesprochen reizvolle Augen hatte, verblasste in diesem Moment, in dem ich seine Stimme hörte.


    "Soll ich Dir bei der Toga helfen?" Sich alleine auszuwickeln kam immer einem Tanz zwischen Stoffbahnen gleich, und ich ahnte, er würde Wert darauf legen, sie nicht, wie ich es tat, auf den Boden zu werfen und liegenzulassen, sondern sie ordentlich aufhängen wollen, was nur mit Hilfe wirklich gelang. Und ein gemeiner, widerlicher Teil in mir hoffte, ich könnte ihn wenigstens in diesem Augenblick berühren, und wenn es nur durch viele Lagen Stoff geschehen würde. Wie weit musste ich schon herabgesackt sein, um so zu empfinden?

  • Endlich waren alle Riemen gelöst, ohne, dass Gracchus überhaupt den Sinn Caius' Worte ob der Discipula in sich hatte aufgenommen, und er hob langsam die Füße aus den Stiefeln und setzte sie auf den Boden auf, unschlüssig wie hernach zu verfahren sei, nicht etwa aus dem Grunde, dass er sich noch nie selbst entkleidet hätte, sondern viel eher noch immer Aquilius' Anwesenheit wegen. Sein Vetter jedoch trug bereits dafür Sorge, dass er sich nicht allzu lange mit der Überlegung konnte Zeit lassen.
    "Nein,"
    antwortete er hastig, noch ehe er groß darüber nachdenken konnte, zu hastig womöglich, und stand auf. Für gewöhnlich war es ihm zuwider hinter sich eine Spur des Chaos zurück zu lassen, hierzu gehörte ebenso seine Kleidung im Raum zu verteilen und darauf zu warten, dass ein Sklave dies beseitigte, denn für gewöhnlich waren die Sklaven ihm nicht eilig genug, so dass er sich lieber geduldig aus der Toga auswickeln ließ und die Tunika immer sorgsam gefaltet auf einen Stuhl drapierte als hinterher sich die Unordnung ansehen zu müssen. Doch in diesem Falle musste er ein Opfer bringen, galt es doch in jedem Fall zu vermeiden, dass Caius würde das Becken verlassen, würde bar jeder Hülle vor ihm stehen, ihm mit dem Stoff zu helfen und ihn womöglich dabei mit der Wärme seines Körpers zu berühren.
    "Sie ist ohnehin schmutzig."
    Mit einer raschen Bewegung streift er den Stoff von seiner Schulter, welcher schwer fiel und sich in wogenden Falten um seine bloßen Füße legte, an einigen Stellen die Feuchtigkeit aufnahm, die dem Becken entwichen sich auf dem Boden gesammelt hatte, und dort sich dunkler färbte. Es war beinahe einem Sinnbild der Wirklichkeit gleich, wie lange und aufwändig der Stoff um den Menschen herum drapiert werden musste bis dass er ein ansehnliches Bild komplettierte, und wie schnell gleichsam diese Ansehnlichkeit in Sekunden zerstört war. Zerstörung war oftmals so einfach und ging so rasch vonstatten, diejenige lange mühsam aufgebauter Contenance, diejenige lange fest aufgebauten Willens, gleich derjeniger kunstvoll kreierter Gewandung. Einzig die dunkelgrünfarbene Tunika schützte Gracchus nun vor jenem Augenblick, welchen er am meisten fürchtete. Langsam umrundete er das Becken, sich des bohrenden Blick seines Vetters nur allzu bewusst, trat an die Stufen, die in das Becken hinein führten, und tippte vorsichtig mit der Fußspitze ins Wasser. Es war angenehm warm temperiert, so dass er schnell darin versinken würde können, doch gleichsam war er sich dessen nur allzu bewusst, dass sein Körper seine Schwäche würde verraten, sobald er seinen Leib aus der Tunika würde geschält haben. Die Bewegung seines Fußes hatte kleine Kreise auf der Wasseroberfläche zurück gelassen, welche als winzige Wellen durch das Becken rollten und an Aquilius' Brust brandeten und zerbrachen. Gracchus schluckte und drehte sich um, befürchtete, dass bereits nun unter seiner Tunika sich allzu deutlich würde abzeichnen, welche Gedanken in seinem Kopfe herumspukten. Wie den meisten Menschen seiner Zeit fehlte Gracchus das Schamgefühl aus natürlicher Nacktheit. Zu viele Männer gingen in den Thermen ein und aus, zu vielen trat man mit bloßer Haut gegenüber - in den Sportarealen, in den Becken, in den Dampfräumen - als dass man sich an solcherlei würde stören. Dennoch, vor Caius würde er nicht nur nackt stehen, er würde sich gleichsam nackt vorkommen. Nicht nur dies. Er war nicht mehr in Form, die Magistratur war nicht spurlos an ihm vorüber gegangen und obgleich er ob der bisweilen kargen Kost des maroden Zahnes wegen kaum Fett hatte angesetzt, so waren seine Muskeln doch schlaff ob des spärlichen Trainings, für das sich so selten die Zeit hatte finden lassen. Er trat zu einer der in die Wand eingelassenen Bänke, den Rücken zu Caius gewandt, griff das Gewand am Nacken, zog es sich über den Kopf und begann es ordentlich zusammen zu falten. Es war unvermeidlich an etwas Unverfängliches zu denken, um sich keine Blöße zu geben, etwas Gegensätzliches. Antonia. Die Nacht, welche er erst kürzlich neben ihr verbracht hatte, das Erwachen samt des Erkennens, welches einem Erschrecken gleich kam. Antonia mit ihrem eisigen Lächeln. Antonia, wie sie seinen Praenomen nannte, wie sie ihn ausspuckte wie ein giftiges Mahl. Antonia, wie sie ihn ansah, mit ihrem frostigen Blick, der nichts als Verachtung, Missbilligung und Anklage für ihn barg. Antonia, wie sie sich vor ihm zurück zog, sobald er den Raum betrat, als hätte er ein ansteckendes Gebrechen. Wie sie über sich ergehen ließ, was ihre Pflicht war, weil es ihre Pflicht war, das was er tat, weil es seine Pflicht war. Antonia, die ihm nur immer das Gefühl gab, ein Scheusal zu sein, ihr Leben zu zerstören durch seine bloße Anwesenheit. Und die Furcht, dass eben dies eine Tatsache war, dass er ihr Leben zerstörte durch seine bloße Existenz. Als Gracchus sich dessen gewahr wurde, dass seine Gedanken zu tief abglitten, legte er das gefaltete Gewand ab und drehte sich um, und tatsächlich verriet sein Körper nicht mehr allzu deutlich seine vorherigen Gedanken, wenn auch das körperliche Verlangen nicht gänzlich erloschen war. In einer Geschwindigkeit, die nicht unbedingt als hastig zu bezeichnen war, doch längst nicht so bedächtig, wie er für gewöhnlich das Becken betrat, setzte Gracchus einen Schritt vor den anderen, ging die Stufen hinab, konzentriert den Blick vor sich auf die Wasserfläche gerichtet um keinesfalls Aqulius' Augen zu streifen. Die wohltuende Wärme umfing seinen Körper, sanft wiegten ihn die Wassermassen und gaukelten die Leichtikeit der Existenz vor.
    "Mmmm ..."
    Genießerisch ließ er sich herabsinke, schloss er die Augen und vergaß für einen Moment völlig das Hier und Jetzt. Er atmete tief ein und konnte den Odeur der Verlockung riechen, Caius' Duft zog in seine Nase, Illusion womöglich nur, doch unumstößlich schob sich sein Vetter in seinen Geist. Noch immer mit geschlossenen Augen legte Gracchus den Kopf ein wenig schief, sog noch einmal die von Feuchtigkeit schwere Luft durch seine Nase und versank in den Landschaften anklingender Reminiszenz, dunkles Grün überzogen von einem Himmel aus sattem Blau, durchzogen von lilafarbenen Streifen, dort wo der Horizont die oberen Gefilde von den hiesigen trennte. War es dort gewesen, im saftigen Grün des Frühlings, begleitet vom eintönigen Zirpen der Grillen und einem Hauch nach Granatapfelblüten, als die Unschuld aus ihrer Freundschaft gewichen war? Dort, als Gracchus, die Konturen des Freundes mit seinen Blicken malend, darüber sinnierte, weshalb Caius nicht mit ihm teilen konnte, was Sciurus tat? Als er entschied, dass er alles würde mit Caius teilen, seine Freundschaft, sein Leben, sich selbst? Dass er gleichsam nicht wollte teilen, sondern zusammen fügen? War es der verzweifelte Wunsch gewesen zu komplettieren, was getrennt war? Sein unvollständiges Leben zu komplettieren? Wie er versucht hatte mit seinem Ebenbild zu teilen, zu nivellieren? Wie eine seichte Briese zogen Fetzen anderer Erinnerung in das perfekte Bild, verdrängten es, verbargen es hinter einem feinen Nebelschleier, zerstörten es und zwangen Gracchus schließlich die Augen zu öffnen.
    "Caius,"
    Furcht lag in seinem Blick, die Furcht, einen kostbaren Augenblick verpasst zu haben.
    "Bitte sei ehrlich zu mir. Ist ... ist in der letzten Zeit etwas vorgefallen, bei dem es schien, als wäre ich nicht ... als wäre ich nicht ich selbst gewesen?"

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Ich bemühte mich ernsthaft, Gracchus beim Ausziehen seiner Sandalen nicht zu sehr anzustarren, aber ein Teil von mir wusste genauso, dass es sinnlos war, weil ich ohnehin nur in seine Richtung blicken würde. Endlich waren wir alleine, niemand sonst hier, nicht einmal irgendwelche Sklaven, wie sie sonst immer umher irrten, in der stetigen Hoffnung, niemandem negativ aufzufallen und alle Wünsche der Hausbewohner am besten vor ihnen selbst bereits zu erahnen. Bei allem, was mir in der letzten Zeit geschehen war, hatte ich dennoch nie ganz das Gefühl gehabt, mich in meinen Wünschen vollends zu verlieren - sicher, ich gab ihnen nach, was das Gespräch mit Frauen anging, was andere Dinge mit Frauen anging, aber ich war nicht willenlos, nicht vollkommen hilflos, wenn es darum ging, eine Entscheidung zu treffen. Allein die Tatsache, dass er sich ganz entkleiden würde, ließ meine Sinne schon einen vorfreudigen und gleichzeitig ängstlichen Tanz aufführen, in dem ich mehr und mehr das Gefühl hatte, mich nicht mehr wiederfinden zu können. Wann hatten wir unsere Unschuld im Umgang miteinander verloren? Es schien Jahrhunderte her zu sein.


    Dass er meinen Vorschlag ablehnte, erstaunte mich nicht, ich hätte es auch getan, wohl wissend, wie unerträglich seine Berührung sein würde, wie unmöglich es danach sein würde, mich noch in irgendeiner Form zurückzuhalten, wie ich es versprochen hatte. Ich konnte nur eines tun, versuchen, mich so weit wie möglich abzulenken, an irgend etwas anderes denken als eben genau diesen Moment, den jede Faser von mir genießen wollte. Und doch, gerade als ich mich hatte abwenden wollen, um mir einen Schwamm zu greifen, zog er sich die Tunika über den Kopf und ich konnte nicht anders, ich starrte zu ihm, ließ meinen Blick über jeden Fingerbreit seines Körpers wandern, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen. Sein Amt hatte ihm ein wenig die Form genommen, sein Körper kündete von fehlender Zeit zur körperlichen Ertüchtigung, aber ansonsten war er noch genau der Gracchus, an den ich mich entsann, der meine Tage und Nächte, selbst meine Träume begleitete, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, ich wollte es nicht einmal. Was auch immer er gerade denken mochte, ich musste wieder einmal bewundern, wie bemerkenswert gut er sich im Griff hatte, kein Zittern, kein Schwanken, er benahm sich, als wäre ich nur ein politischer Weggefährte, mit dem er sein Bad teilte, nicht mehr.


    Und ich selbst, wieviel weniger war ich, da ich im Wasser ein Bein anwinkeln musste, um meine Gedanken zu verbergen, den rebellierenden Körper, der seinen schon zu lange begehrte und niemals sein Recht erhalten hatte? Er hatte mir so oft seine gute Meinung von mir bewiesen, und doch wusste ich, dass ich keinen Gedanken wert war, es niemals sein würde, denn im Gegensatz zu ihm war ich schwach, wenn er bei mir war, wünschte mir nur, ihm zu gehören, wie er mir gehören sollte, um neben ihm zu ruhen, in ihm mit Herz und Seele zu sein, wie er in mir war. Seine Worte allerdings trafen mich bis ins Mark. Was meinte er? Hatte ich etwas falsches gesagt, hatte er gespürt, was ich dachte? Wie konnte er ahnen, wie es mir ging? Und doch, er klang ... furchtsam? Gracchus, mein Manius, der sich vor irgend etwas fürchtete, der ansonsten der einzige Fels war, auf den ich mich bisher hatte immer stützen können, abgesehen von Mars? Vielleicht waren es nur Augenlicke, die vergangen waren, bis ich eine Antwort fand, doch kam es mir vor, als hätte mich eine Ewigkeit verschluckt und mühte sich, mich wieder auszuspeien, nur damit ich endlich tat, was ich tun musste - reagieren, die geforderte Antwort geben.
    "Wie kommst Du darauf? Du bist von allen Menschen in diesem chaotischen Haus der verlässlichste, Manius, und ich hatte nie Grund, an Dir zu zweifeln - weder an Deinem Wort, noch an Deinen Taten. Was bewegt Dich denn, dass Du an Dir selbst zu zweifeln beginnst? Hat sich irgend etwas schreckliches ereignet, von dem ich wissen sollte?"

  • Es schien nicht, als wäre etwas geschehen, was ihm wurde nachgetragen. Womöglich war er nicht einmal lange in diesem Hause gewesen, als dass Gracchus sich müsste sorgen. Dennoch nagte die Ungewissheit an ihm, fraß ihn langsam auf und verspeiste ihn in kleinen Häppchen. Die Antwort seines Vetters erstaunte Gracchus dennoch, auch wenn ihm dies möglicherweise selbst nicht gänzlich bewusst war, denn im Grunde reihte sich in seinem Leben ein Zweifel an den nächsten, jeder Tag war geprägt von tiefem Hader mit sich selbst, doch vermutlich war es ohnehin nicht so subtil, was Caius meinte, sondern eben das offensichtliche. Aus diesem Grunde ließ Gracchus erst gar nicht seine Gedanken in die Tiefen der Zweifel hin abgleiten, nicht diejenigen über sich selbst, denn zu tief konnte er darin versinken, so tief, dass er gar befürchtete, eines Tages nicht mehr daraus empor schwimmen zu können. Gleichsam jedoch gab es dieser Tage weitaus schlimmeres als sein eigenes Leben, obgleich all diese Geschehnisse seine Existenz meist mehr als nur tangierte und immer wieder ins Wanken brachten.
    "Wahrhaftig chaotisch, doch es ist nicht das Haus, Caius, es ist diese Familie. Gerade in der letzten Zeit frage ich mich, ob jene Worte ob der Degeneration der Patrizier womöglich doch wahrer sprechen, als wir dies zugeben wollen, ob es nicht in unserem Blut begründet liegt, am Abgrund des Wahnsinns zu stehen."
    Keinem Menschen gegenüber würde Gracchus je so offen sein, denn seinem Vetter. Er bewegte seine Hand vor sich hin und her und beobachtete die feinen Wellen, die er damit erzeugte.
    "Davon abgesehen, dass es mir schlichtweg nicht einmal gelingt, einen Erben in die Welt zu setzen, frage ich mich beizeiten, ob es tatsächlich klug ist, dies tun zu wollen."
    Obgleich dies etwas war, was Gracchus zutiefst beschämte und ihn gleichsam immer drängender beschäftigte, so sprach er die Worte wie beiläufig, als wäre Caius irgend ein Gesprächspartner in den öffentlichen Thermen. Er wusste, würde er einmal seinem Gefühl erlauben, die Oberhand zu gewinnen, so würde nicht nur jenes aus ihm herausbrechen, welches er ausdrücken mochte, sondern gleich einer Lawine ein ganzer Berg, unter anderem auch jene Emotion, die in keinem Falle duldsam waren. Caius war so greifbar nah, er brauchte sich nur von der Wand des Beckens abzustoßen und würde geradewegs in die Arme seines Vetters treiben. Niemand war hier, nicht einmal ein Sklave, die Tür war verschlossen, niemand würde je davon erfahren, es konnte ein Geheimnis sein zwischen Caius und ihm, auf ewig, wie so viele andere Dinge zwischen ihnen. Gracchus schloss erneut die Augen, doch der Duft der Verführung blieb in seiner Nase, konnte er jene doch gleichsam nicht verschließen. Ein klandestines Seufzen echappierte seiner Kehle, so dass er schließlich die Augen wieder öffnete und seinen Vetter ganz unverholen ansah. Was war es nur, das ihn so besonders machte? Er war schön, das Gesicht in perfekter Symmetrie, als hätten die Götter es selbst aus Anmut gemeißelt, die Augen tief und dunkel, der Blick immer ein wenig verwegen, als könne nichts und niemand ihn aufhalten, doch schöne Menschen gab es viele auf der Welt. Auch Antonia war schön, einer Muse gleich, dennoch drängte es Gracchus nicht nach ihr, nicht danach sie zu berühren, nicht danach sie zu umschließen, nicht danach mit ihr eins zu sein. Selbst andere Männer konnten Aquilius nicht das Wasser reichen, sie waren nur Ersatz, Befriedigung einer Lust, die nicht zu befriedigen war, Stillen eines Durstes, der nie würde verlöschen können. Es konnte das Äußere allein nicht sein. Würde Gracchus' Äußeres ausreichen, Caius Durst zu stillen? Würde sein Äußeres dazu ausreichen können, dass Caius ins Schwanken geriet?
    "Es ist tatsächlich etwas geschehen,"
    begann er schließlich als ihm schien, als würde die Stille sich langsam schwer auf seine Schultern senken.
    "Vor langer Zeit schon. Am Tage meiner Geburt, welche so exklusiv nicht war wie ich bisherig glaubte, wie deine dies beispielsweise war ..."
    Der Anfang schien Gracchus nicht gut gewählt, weshalb er ihn verwarf und noch einmal Luft holte, um von neuem zu beginnen.
    "Wir waren nicht nur fünf anerkannte Nachkommen des Vespasianus, wir waren sechs, nicht nur drei Brüder, sondern vier. Ich habe nie darüber nachgedacht, doch scheint es dir nicht seltsam, dass einzig Quartus Lucullus als Praenomen eine Zahl trägt? Nun, ich glaube er hat ihn deswegen erhalten, um über den verlorenen Sohn, den eigentlich vierten oder vielleicht auch dritten Nachkommen hinwegzutäuschen. Und doch trägt Lucullus ihn zu unrecht, denn obgleich meine Eltern dies annahmen, dies annehmen mussten, so ist jener Nachkomme nicht tot. Er wurde ihnen gewaltsam entrissen, längst ist er kein Flavius mehr, doch sein Leben fand kein Ende. Bis heute nicht."
    Gracchus suchte Auqilius' Blick, um zu sehen, ob dieser annähernd verstand, was er ihm versuchte zu sagen, gleichsam kämpfte er mit sich, in sich, gegen sich, gegen die aufwallenden Empfindungen, die jener Blick in ihm auslöste.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • "Diese Familie ist, wie ich schon immer vermutet habe, verrückt, Manius, ein jeder unter uns hat seine kleine Verrücktheit - aber diese Verrücktheiten hat ein jeder Mensch, manche verstecken sie besser, manche schlechter. Was denkst Du denn, andere Patrizierfamilien sind nicht besser oder schlechter als wir. Keine hat so viele junge und wohlgestalte Nachkommen wie die Flavier, keine nimmt eine so vorzügliche Stellung ein wie die unsere ... da sind die Schrullen des ein oder anderen nebenrangig und solange wir uns mit keiner anderen Familie zu nahe verbinden, sollte dies auch kein Schaden sein," gab ich zu bedenken und lehnte denKopf zurück, an die Decke blickend, denn sonst hätte ich ihn wohl noch mehr angestarrt als zuvor. Ihn noch länger anzublicken hätte bedeutet, mir mehr zu wünschen, als ich jemals bekommen würde, sozusagen die delikate Süßspeise schon riechen zu können, aber nicht daran lecken, niemals kosten zu dürfen, eine Folter der Sinne ertragen, bei der ich nichts gewinnen konnte und niemals gewinnen würde. "Vielleicht haben wir eine Neigung dazu, extremer zu denken und extremer zu handeln als andere, doch bedenke, die meisten in unserer Familie üben eine gewisse Selbstdisziplin, die ihnen Schranken auferlegt, über die sie nicht schreiten."


    Dass er den fehlenden Erben beklagte, ließ mich aufhorchen, aber auf andere Weise, als ich es noch vor wenigen Tagen getan hatte. Das Gespräch mit Antonia hatte mir auch die andere Seite gezeigt, wie sehr sie hoffte, einen Erben zu bekommen, um seinem Anspruch zu genügen, und nun ... ich stand so sehr in der Mitte zwischen meinen eigenen Wünschen und dem Wunsch, ihn zu beschützen, allen Schmerz von ihm zu nehmen, dass es mich innerlich zerriss. "Ein jeder Mann wünscht sich einen Erben, und vielleicht ist es manchmal besser, es nicht zu sehr zu hoffen, damit man bekommt, was man sich ersehnt. Ich wollte nie Kinder haben und werde nun Vater, Du möchtest es gern und Iuno ist noch nicht willens, diesen Wunsch zu erfüllen. Vielleicht bedarf es einfach nur der Zeit und der Gewöhnung, bis es funktioniert. Oder eines gemeinsamen Opfers, um die Göttin günstig zu stimmen," überlegte ich laut und hätte mich innerlich schlagen können, denn die Möglichkeit, die sich mir geradezu laut schreiend aufdrängte, die war ich zu feige, sie auszusprechen. Ich kannte seine strengen Ansichten zur Moral nur zu gut, und ich wagte nicht, ihn von mir zu enttäuschen.


    Wenigstens lenkten mich seine Worte von seiner Nähe ein wenig ab, wenngleich nicht genug, um zu vergessen, dass uns nur Wasser trennte, nur einfaches Wasser, dessen Vorhandensein so schnell beiseite geschoben werden könnte, dann würde ich ihn berühren, und ... es fühlte sich an, als würde mein Kopf vor Begierde glühen, als könnte man meinen Augen ablesen, was ich fühlte, hätte er jetzt ins Wasser gesehen, er hätte es ohne Zweifel auch erkannt, denn selten hatte sich mein pilum so emporgereckt wie zu diesem Augenblick, bereit zu einem Kampf in süßer und erfüllender Lust.
    "Du willst mir damit sagen, es gibt noch einen Flavier, der als Plebejer aufgewachsen ist?" versuchte ich in seine Worte Klarheit zu bringen und runzelte die Stirn. Alles war besser als zu begehren. "Am Tage ...deiner ... Geburt?" Unwillkürlich schnappte ich nach Luft, ein zweites Kind, ein Zwilling? Ein zweiter Manius, konnte das möglich sein? "Du hast einen Zwillingsbruder? Aber ...warum? Warum nahm man ihn Deinen Eltern?"

  • Die Worte seines Vetters klangen so überzeugt, so überzeugend zugleich, und Gracchus wollte ihnen Glauben schenken, so dass er dies denn bereitwillig tat. Eine kleine Verrücktheit, eine Marotte, dies würde er aushalten - wer, ohnehin, konnte von sich behaupten ohne Makel zu sein? Er ganz sicher nicht, so dass eine kleine Verrücktheit womöglich neben all der Unzulänglichkeiten nicht weiter würde ins Gewicht allen - doch dem Wahnsinn anheim fallen, dies war etwas, was er nicht wollte erleben, sich den Rastlosen anschließen, auf immer gefangen zwischen den Welten. Er schauderte obgleich das Wasser um ihn herum noch immer angenehm warm war, und überging geflissentlich jenen Wink auf ihrer beider Schranken hin, gleichsam drängten sich ohnehin andere Gedanken in seinen Sinn.
    "Ich fürchte, Antonia verabscheut mich. Diese Ehe war von Anfang an eine Farce, doch ich komme mir vor wie ein Ungeheuer in ihrer Gegenwart. Ich will nicht mehr von ihr verlangen, als was ich muss. Wenn erst ein Nachkomme aus dieser Verbindung entsteht, drei oder vier hernach im Gesamten ... es gibt genügend Damen, die fern Roms ihre Zeit in den Landhäusern verbringen, während ihre Gatten ihren Pflichten nachgehen. Ich werde sie nicht zwingen, hier in meiner Gegenwart ihr Unglück zu fristen."
    Ein bitteres Lächeln schob sich auf seine Lippen.
    "Ich weiß, du willst es nicht hören, Caius. Doch ich bringe meinen Mitmenschen wahrlich kein Glück. Dir nicht, ihr nicht, nicht Arrecina, nicht Serenus, nicht meinen Geschwistern, ... was ich diesbezüglich anfasse, verbrennt unter meinen Händen zu graufarbener Asche."
    Kraftlos schüttelte er den Kopf und blickte auf seine Hände, die vor ihm noch immer in unbewusster Weise das Wasser zerteilten, aufwühlten, gleich seinen Gefühlen. Es war wahrlich nicht einfach, all dies aus sich heraus zu bringen. Langsam brachte Gracchus seine Arme zur Seite, legte die Hände auf den Beckenrand und betrachtete, wie sich die Oberfläche des Wassers allmählich glättete, die Umgebung zu spiegeln begann. Er senkte seinen Blick und beugte den Kopf ein wenig vor, besah sein eigenes verzerrtes Abbild, musterte sich derangiert aus so vertrauten und gleichsam unbekannten Augen heraus.
    "Sein Name ist Quintus Tullius. Zumindest nennt er sich so. Seine ... unsere Amme raubte ihn ob des Geldes wegen, doch irgend etwas ging schief, sie floh mit ihm, zog ihn auf. Ich ... ich habe es nicht ganz ... mitbekommen."
    Als jene Frau ihnen erzählte, woher ihre Similarität rührte, hatte es zu viel in Gracchus Kopf gegeben, als dass er ihr hätte in allen Einzelheiten folgen können. Er musste sie finden. Sciurus musste sie finden, womöglich würde sie wissen, wohin Tullius gegangen war. Gracchus legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete sein Spiegelbild dabei, doch es war nicht wie an jenem Tag, denn sein Zwilling war nicht sein Spiegelbild, er war sein Abbild und darum ihm gegenüber seitenverkehrt zu einem Spiegel.
    "Er ... und ich ... wir ... er ... beim zweigesichtigen Ianus ..."
    In einer harschen Bewegung zerstörte Gracchus die ruhige Fläche des Wassers vor sich, in dem er mit Linken hindurch fuhr und blickte hernach zu seinem Vetter, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt.
    "Er gleicht mir völlig. Er trägt mein Gesicht, meinen Körper, selbst ... als er anfing zu überlegen, begann er an seiner Lippe zu kneten! Du weißt, dass der alte Sciurus vergeblich versuchte, diese Marotte mir auszutreiben. Er ist mein vollkommenes Ebenbild und doch ... und doch ist er völlig verdorben."
    Gracchus' Schultern sanken herab, dann ging er langsam in die Knie. Rechtzeitig schloss er Mund und Augen, bevor das Wasser über seinem Kopf zusammen schlug. Nur noch gedämpft klangen die leisen Geräusche der Villa an sein Ohr und als er die Augen unter Wasser öffnete, war die Welt davor verschwommen. Dennoch, verschwommen, verzerrt, strahlte Aquilius' Körper eine Verlockung aus, der nur schwer zu widerstehen war, und jene Verlockung, die sich ihm entgegen reckte war nicht so sehr verschwommen und verzerrt, als dass Gracchus nicht all zu deutlich gesehen hätte, wie groß sie tatsächlich war. Er ließ die angehaltene Luft in blubbernden Blasen nach oben entweichen und folgte ihr sodann. Ob es nicht den Versuch wert war, zu erfahren, ob das Leben vielleicht ein wenig einfacher würde sein, wenn der Mensch sich ein wenig Verderbtheit gönnte?

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Es war das alte Motiv einer Melodie, nur dieses Mal in einer anderen, vertrauteren Tonart. Ach, Manius, wenn Du nur wüsstest, wie sehr sich Deine eigene Frau mit ähnlichen Gedanken quälte, wie wenig sich euer beider Furcht unterschied, dem anderen ein Gräuel zu sein, verabscheut zu werden, wäre es nicht so tragisch gewesen, ich hätte über die Ironie dieses Gedankens geschmunzelt. Vielleicht nicht für lange, denn noch ironischer war es, dass ich, der ich ihn liebte, davon erfahren musste, mich so begierig auf dieses Wissen gestürzt hatte, als hinge mein Überleben davon ab, und ich wohl wusste, würde ich versuchen zu vermitteln, würde ich am allerwenigsten dabei gewinnen, eher verlieren, was ich jetzt wenigstens noch erhoffen konnte. Doch wie auch schon bei Antonia tat ich und schob mein eigenes Selbst in irgendeine verlorene Kammer meines Bewusstseins, wo es hoffentlich so schnell nicht mehr den Weg hinaus finden würde.
    "Hast Du Dir eigentlich schon einmal überlegt, dass es Antonia nicht viel anders gehen dürfte als Dir?" sponn ich den Faden weiter, den ich vor einigen Tagen im hortus als Parze des Menschen, den ich liebte, und seiner Frau begonnen hatte.


    "Selbst mir fällt es schwer, gedanklich neben Dir zu bestehen, und ich kann auf eine Geburt als Flavier, eine gute Ausbildung, eine sichere Tätigkeit und ein gewisses Prestige zurückblicken - Du ragst zwischen den Familienmitgliedern als Fels hervor, an den sich alle stützen, wenn sie ein Problem haben, Du wirst von allen als der vorzüglichste der Flavier benannt, wenn es um Verlässlichkeit und Klugheit geht. Meinst Du nicht, dass eine Frau, die dieses Leben mit Dir nicht wirklich teilen kann, davon eingeschüchtert wird und irgendwann ebenso glauben muss, dass Du sie hasst? Antonia ist nicht glücklich, und Du bist es auch nicht, und ich will nicht dabei zusehen, wie sich zwei gute und aufrechte Menschen in ihrem Unglück gegenseitig bestärken, obwohl es nicht notwendig wäre. Du bist gewiss ihr erster Mann und ihr fehlt die Erfahrung, unser schwieriges flavisches Temperament zu betrachten, ohne sich zurückgesetzt zu fühlen, Manius. Hast Du Dich denn schon einmal damit beschäftigt, was sie im Leben interessant und wichtig findet? Auch wenn Du sie vielleicht niemals lieben wirst, vielleicht kann sie Dir ein Freund sein, eine Stütze in Deinem Leben, und dieses Potential solltest Du nicht verschenken." Hätte ich doch lieber geschwiegen, meinen Kopf gegen das kunstvolle Randmosaik des Beckens geschlagen und die Delphine mit meinem Blut übergossen, hätte ich doch diese Worte niemals gesprochen, die vielleicht helfen würden ... aber sein verzweifelter, bitterer Gesichtsausdruck ließ mir keine andere Wahl.


    "Manius, Du musst endlich aufhören, die Schicksalswege anderer als Deinen Fehler anzusehen. Dass Arrecina von meinem Sklaven entführt werden konnte, ist zu allererst meine Schuld, ich wusste, dass er aufsässig war, ich hätte ihm weniger Freiheit geben müssen - und Arrecinas Hang zum Abenteuer liegt nun einmal in der Natur dieser Frau, glaube mir, ich kenne die Frauen ein wenig, und sie sehnt sich nach Aufregungen, von Ereignissen mitgerissen zu werden, und Neues zu erleben. Serenus ist ein verzogenes Gör, das zu lange in der Obhut seiner überbehütenden Großmutter war, und dies ist Aristides' Entscheidung und Sorge, nicht die Deine. Und Deine Geschwister sind erwachsen, und treffen ihre Entscheidungen selbst. Ziehe doch nicht jedes Quentchen an Schuld, das Du vielleicht tragen könntest, mit Gewalt an Dich und lass Dich davon nicht erdrücken - was Deinen Anteil an den meisten Dingen angeht, versuchst Du immer noch am ehesten zu helfen und eine miserable Lage zu verbessern, etwas, das die wenigsten in dieser Familie hinbekommen, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind!" Doch bevor ich richtig zornig ob seiner Neigung, die Schuld zuerst bei sich zu suchen, werden konnte, lenkte er mich schon wieder mit den Berichten über seinen Bruder ab, es war kaum zu glauben, dass sich so etwas ereignen konnte, aber wenn einer Patrizierfamilie solcherlei passieren musste, dann waren es ohne Zweifel die Flavier. Es passte zu unserer chaotischen Familiengeschichte wie die Faust aufs Auge.


    Was er erzählte, war beunruhigend, denn vielleicht sah ich die Schlechtigkeit der Welt ein wenig genauer und deutlicher als er, mir fielen sofort ungefähr hundert Dinge ein, die ein Mann mit seinem Aussehen, der nun sicherlich auch wusste, was er mit dem Namen unserer gens anstellen konnte, tun mochte, um sich selbst ein lockeres Leben zu ermöglichen. Dieser Quintus Tullius war ein Problem, um das man sich kümmern musste, ohne Zweifel. Als er abtauche, blickte ich ihm überrascht nach, hatte ich doch nicht erwartet, dass er seinen Satz so abrupt beenden würde, und sogleich fürchtete ich wieder um ihn, die alte Sorge kehrte zurück, ich dachte nicht nach, sondern handelte - stieß mich von meinem Beckenrand ab, glitt zu ihm und zog ihn in meinen Armen aus der Tiefe, sodass er atmen konnte. "Manius .. Manius! Ist alles in Ordnung?" Dass er in diesem Augenblick auftauchte, als ich ihn mit den Armen umfing, entging mir, denn nun berührten sich unsere Leiber, und ich ahnte, dass ich aus dieser Sache nicht so leicht wieder herauskommen würde wie sonst. Selbst durch das Wasser brannte seine Haut an der meinen, und ich fühlte, wie sich in meinem Körper alles nach ihm sehnte, unübersehbar nun, da wir uns so nahe waren, als könnten wir einander wirklich gehören.

  • Jenes Bild, welches Caius eben noch von ihm zeichnete, stand so vollkommen und gänzlich jenem entgegen, welches Gracchus von sich selbst hatte, war so unglaublich und gleichsam unglaubwürdig, dass er dies weder sonderlich ernst nehmen, noch eben glauben konnte. Seinem Vetter stand es ohnehin nicht zu, als neutraler, wertfreier Beobachter aufzutreten, konnte Caius ihn doch nur mit dem Blick eines Verlorenen sehen - ebenso wie er Caius nie würde sehen können, wie jener tatsächlich war, sondern nur immer durch einen verklärten Schleier des Sehnens und Verlangens. Für Caius mochte er der perfekte Mensch sein, den jener in ihm sah, doch für niemanden sonst konnte dies möglich sein, stand dies doch seinem Wesen gänzlich entgegen, und keinesfalls mochte Antonia ihn je so sehen, trug jene nicht einmal den täuschenden Schleier der Familie vor Augen, und es mochte der Fluch der Ehe sein, dass sie mehr noch als alle anderen geeignet war, die zahlreichen Unzulänglichkeiten und Defizite an ihm zu detektieren, doch war dies unveränderlich, war er doch ein durch und durch fehlerbehafteter Mensch. Die schmeichelnden Worte seines Vetters prallten darum nur an einer dicken, lange gehegt und gepflegten Mauer aus Hader und Zweifel ab. Doch war es längstens nicht dies, was ihm durch die Sinne zog als er wieder auftauchte, halb von Caius hinauf gezogen, als er Luft in seine Lungen ziehen wollte, doch dies ob des Anblickes beinahe vergaß. Zuerst brach ein Schrecken in seine Gedanken, blickte ihn doch Aquilius an, als wäre er eines Larven angesichtig geworden, und Gracchus konnte erst nicht einordnen, woher jenes Erschrecken rührte. Kurze Zeit darauf hatte er nicht mehr die Gelegenheit darüber nachzudenken, denn Aquilius' Nähe und seine Berührung entrissen ihm vollends die Contenance.
    "Alles ... bestens,"
    stammelte er, wusste doch im gleichen Moment, dass dem nicht so war, dass er nicht so war. Er war verdorben, verzweifelt, verloren. Hitze stieg in Gracchus' Körper auf, nicht vom ihn umgebenden Wasser abgegeben, sondern tief aus ihm emporwachsend, er spürte Caius' Hände an seinen Armen wie glühende Kohle, spürte Caius' Körper nah an dem seinen - zu nah - gleichsam dörrte seine Kehle aus wie eine Frucht in der Sonne, und es drängte ihn danach, erneut unter Wasser abzutauchen, das Becken gleichsam auszutrinken.
    "Völlig verdorben ..."
    wiederholte er und griff langsam zu Aquilius' Händen. Alles in ihm drängte danach, der Versuchung nachzugeben, niemand würde es je wissen, nur Caius und er, und doch würde er es wissen, gleichsam wie das Verlangen ihn würde aufzehre, würde gegensätzlich das Wissen ihn aufzehren, es gab keinen Ausweg aus jenem Dilemma. Doch was würde gewichtiger wiegen, das Bedauern jener Dinge, die nie getan wurden, oder jenes jener, die getan worden waren, unumstößlich, nie wieder umkehrbar? In seinen Gedanken, in seinem Hader gefangen nahm er Aquilius' Hände von seinem Körper, hielt sie jedoch vor sich, hielt sie fest und ließ sie nicht los, blickte auf sie herab, als würde er in den feinen Linien der Haut eine Antwort finden können. Dann hob er sie empor, legte sie um sein Gesicht, presste sie mit den eigenen Händen an seine Wangen, schloss die Augen und biss die Kiefer zusammen. Verdorben, verzweifelt, verloren.
    "Er war hier,"
    flüsterte er ohne die Augen zu öffnen. Es war einfacher, von verdorbenen Taten zu sprechen, als jene zu tun.
    "Hier in der Villa."

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • "Er war hier? In der Villa?" echote ich seine Worte wie ein debiler peregrinus, der in seinem Leben nichts anderes als Schmutz und Arbeit mitbekommen haben musste, denn die Erkenntnis, dass das Problem nicht irgendwo in der Stadt sich ereignet hatte, sondern tief im Herzen der flavischen Trutzburg, traf mich als Erkenntnis wie ein kräftiger Hieb direkt auf den solarplexus. "Was hat er getan? Hat er irgendeinen Schaden angerichtet?" Was konnte ein Mann anstellen, der das ebenmäßige, wundervolle Gesicht meines Vetters hatte und sich erst darüber bewusst geworden sein mochte, dass er die grenzenlose Macht eines Patriziers ausnutzen konnte?


    Und gleichzeitig wehrte sich jeder Gedanken in meinem Kopf gegen die Tatsache, nachdenken zu müssen, denn ich war ihm nah, so nahe wie schon lange nicht mehr, wir waren beide unbekleidet, und hätte ich in die Tiefen des Wassers blicken können, dann hätte ich alles an seinem Leib gesehen, was ich nur hätte sehen wollen - ich starrte ihm ins Gesicht wie ein Ertrinkender, und genau das war ich, ich ertrank in der Gegendwart seiner Nähe, seines Geruchs, der trotz des Badeöls, trotz des Wasserdampfes so deutlich wahrzunehmen war, als gäbe es sonst keinen einzigen Geruch mehr um uns herum. Als er meine Hände von seinem Körper nahm, brannten meine Finger vor Sehnsucht nach seinem Leib, und wenigstens nahm er mir nicht die letzte Möglichkeit, ihm nahe zu sein, führte meine Finger zu seinem Gesicht und ich barg ihn in meinen kräftigen, schlanken Fingern, die langsam die Spuren der harten körperlichen Arbeit als Fischer zu verlieren begonnen hatten. Durfte ich hoffen? Durfte ich von den saftigen Früchten dieses sich zu mir neigenden Baumes kosten, ohne von Iuppiters Blitz getroffen zu werden, da ich Seinen Priester begehrte und berühren wollte? Wenn die Götter gnädig waren, dann würde ich den heutigen Tag überleben, irgendwie, und vielleicht endlich einen Bruchteil jener Sehnsucht gestillt wissen, die mich noch immer nicht losließ.


    "Manius, ich .." stammelte ich, und ich wusste, dass ich den Satz nicht vollenden durfte, nicht aussprechen, was ich empfand. Wen kümmerte dieser verfluchte Quintus Tullius, mochte er die ganze verfluchte Villa ausräumen und sich hundert lupae herschleppen, er war mir egal, in diesem Moment war mir alles egal, selbst wenn mich jetzt Iuppiters Blitz getroffen hätte, ich wäre froh gestorben, in der Nähe des Menschen, den ich liebte, den ich schon so lange geliebt hatte. Manius, ich liebe Dich. Ich begehre Dich. Ich will Dich. Ich gehöre nur Dir allein. Hatte ich es laut gesprochen oder hallte mir nur der gedankliche Lärm dieser Sehnsüchte im Kopf herum? Ich wusste es nicht, blickte ihn an, als könnten mir seine Augen sagen, ob ich laut gesprochen hatte oder nicht, doch noch immer hielt ich sein Gesicht in meinen Händen, neigte mich vor, ich musste es einfach tun, wenigstens einmal noch dieses Gefühl kosten, wenn mich seine Lippen berührten. Hatte ich nicht tausend Eide geschworen, ihn unbehelligt zu lassen? Ich war nicht nur ein tausendfacher Eidbrecher, ich war schwach, und ich liebte ihn mit aller Kraft, die ein menschliches Herz aufbringen konnte, wenn es einem anderen Menschen gehörte. Und dann berührten meine Lippen die seinen, diese von der Hitze weich gewordenen, dennoch trockenen Lippen, die so sehr nach Vollkommenheit schmeckten, und nach Manius, nach dem, was niemals sein durfte und doch war, ohne dass ich es hätte verhindern können.

  • Ein buntes Farbenspiel tanzte vor Gracchus' Augen, ein wildes Flimmern und Flirren aus brennendem Orange, glühendem Rot und strahlendem Gelb, durchzogen, durchbrochen von Schlieren und Funken aus blendendem Weiß. Jede Druckveränderung der starken und gleichsam doch so sanften Finger auf seiner Haut zeichnete sich wie eine Spur durch dieses Gewirr, ließ einen Stern darin neu gebären oder erlöschen, und es schien Gracchus, dass er sich nur müsse in diesen starken Halt ergeben, als müsse er sich nur in Aquilius' Arme fallen lassen, zulassen loszulassen, um dem Funkenwerk Einhalt zu gebieten und Ruhe zu finden.
    "Ich ... weiß es ... nicht."
    Quintus Tullius war nur noch ein Schatten seines Lebens, ein leeres Abbild seiner Selbst, völlig unbedeutend und marginal. Nichts hatte er von seinem Schrecken verloren, doch Quintus Tullius war fort, hatte sich davon gestohlen, einen Teil Gracchus' mit sich genommen, doch er war nicht hier, er hielt nicht Gracchus' Kopf, er drängte nicht seinen Körper an ihn - eine Vorstellung, die unter anderen Umständen gleichsam äußerst verwirrend, kurios, wie auch sicherlich äußerst reizvoll wäre gewesen.
    "Ich war ... nicht hier."
    Wie eine ferne Reminiszenz zog die Erinnerung an die Tage im Keller unter dem namenlosen Weinberg inmitten der italischen Hügel an Gracchus' vorbei, die Erinnerung an den äußerst entwürdigenden Fußmarsch zurück nach Rom, die Furcht allein in der Wildnis, das Zischen und Flüstern der Untergründigen, die Furcht, eine Villa voll kopfloser Verwandter vorzufinden, die Furcht um Caius, darum, dass dieser mit seinem falschen Ich geteilt haben konnte, was er nie hatte zugelassen. Er spürte den drängenden Körper vor sich, spürte Caius mit allen Sinnen, ließ seine Hände über dessen Arme gleiten, hielt sie fest, dass er nicht würde von ihm weichen, verweigerte sich doch gleichsam die Augen zu öffnen, um nicht erkennen zu müssen, was er tat. Die weichen Lippen auf den seinen waren unvermeidlich, es gab keine andere Möglichkeit mehr, denn in allem, was er tat, wusste Gracchus, dass nur er dies konnte verhindern. Doch er verhinderte nichts, hielt sich an seinem Vetter, als würde sein Leben davon abhängen, erwiderte die Berührung drängend und schmeckte die vom Badewasser benetzten Lippen. Seine Hand fuhr über Caius' Schultern hinauf und vergrub sich in dessen feuchten Haar, sein Körper drängte gegen denjenigen seines Vetters, nicht mehr imstande, seine Gier zu verbergen, während seine Lippen längst über Caius' Hals zogen, sich in seine Haut gruben, bis dass sein Kopf endlich einen Augenblick Ruhe fand, dicht an den seines Vetters gepresst, die Lippen knapp unter dem Ohrläppchen verharrend, der Körper in einem feinen Beben inbegriffen, schnaufend als läge schon jetzt ein Gewaltmarsch hinter ihm.
    "Tu das ... nicht ... Caius ..."
    bat er den Vetter flehentlich, gleichsam wissend, dass es vergeblich war, gleichsam nicht wissend, ob dies noch war, was er tatsächlich bitten wollte, welche Worte sein Geist hervorbrachte und welche einzig sein Körper von sich stieß, ob er seinem Geist wollte folgen oder seinem Körper, seinem Verlangen oder seinem Verstand, dem Verzweifeln oder dem Verderben. Niemals in seinem Leben war sich Gracchus weniger sicher und gleichsam ob dessen verzweifelt gewesen - dabei konnte niemand behaupten, nicht einmal er selbst, dass er selten zweifelte und verzweifelte.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Im Grunde war es mir egal geworden, ob die Welt ausserhalb dieses Beckens noch existierte. In diesem Augenblick hätten die Wisigoten samt der Parther und der Germanen über Rom herfallen können, und ich hätte nichts getan, um sie daran zu hindern oder überhaupt Notiz von der Welt zu nehmen, denn meine Welt befand sich in meinen Armen, und nur dort war mein Geist, war mein Herz, meine Sinne waren einzig und allein auf ihn gerichtet, ihn, der mir Sonne, Sterne und Mond zugleich geworden war.
    Und er hielt mich ebenso, in den kräftigen, warmen Armen, die ich mir so sehr ersehnt hatte, mehr als alles andere auf dieser dreckigen und verlorenen Welt, fühlte die Nähe seines Leibes wie das reine und wahre Leben in meinem Inneren, es war so richtig, dass er hier war, ich bei ihm sein durfte, und gleichzeitig wusste ich, dass es gar nicht richtig war, dass ich achten musste, was Gracchus vor den Götter geschworen hatte, dass ich hätte achten müssen, was ich ihm versprochen hatte, und doch konnte ich es nicht. Es war einfach irgendwo verloren gegangen, dieses Wollen, dieses Bezähmen meiner Sehnsucht und meiner Liebe zu ihm, ertrunken im Plätschern des Wassers, zerschmolzen in der Hitze dieses Beckens.


    Dass er ebenso sehnen musste wie ich, bewiesen seine Lippen, die einmal die meinen trafen, einmal meinen Leib, und ich bebte unter diesen Berührungen wie Blätter im Sturm beben mussten, konnte mich und ihn kaum richtig halten, so sehr riss mich der Sturm in meinem Inneren hinfort. "Ich kann nicht mehr ...aufhören," keuchte ich rauh, stieß die heiße Luft meines Atems aus, als könnte ich damit auch die Begierde ausstoßen, die seine Nähe stets in mir weckte.
    "Willst Du es wirklich, Manius, willst Du es wirklich? Ich könnte sagen, nur dieses eine Mal, nur einmal Dir gehören, Dich bei mir wissen, aber es wäre eine Lüge, ebenso, wie wenn ich sagen würde, dass ich Dich hasse. Ich werde Dich immer lieben, begehren, Manius, ich weiss es jetzt." Ein Eingeständnis einer Schwäche, und doch wollte ich mich nicht für diese Schwäche schämen, die meinen Geist mit sich hinfort nahm, mich in seinen Armen beben ließ, mich dazu brachte, mit meinen Lippen über seine Wange, die Wangenknochen zu tasten, um dieses Gefühl in mich aufzunehmen wie ein Ertrinkender. Und ich wollte ertrinken, in seinem Sein ertrinken, und am besten niemals wieder auftauchen müssen. Ich fühlte seine Lust, wie er die meine manifestiert spüren musste, als sich unsere Körper aneinander schmiegten, sollte es wirklich so falsch sein, was wir taten?

  • Gleich eines schweren Sommergewitters braute sich der Sturm in Gracchus zusammen, düstere, schwarzfarbene Wolken rangen mit dem seichten, hellen Blau des Himmels um die Vorherrschaft, zuckende, grelle Blitze und böige Winde suchten die Strahlen der Sonne zu überbieten und vertreiben, prasselnder Regen überschwemmte das Land, während sich die Hitze des Tages aus der Erde emporhob und schwer gegen das Unwetter drückte, die Luft sich förmlich voll sog mit stickiger Feuchtigkeit, sich auflud und schwer über der Welt lag, dass es eine Qual wurde nur einen Finger zu rühren. Qual, dies war es, was in Gracchus entstand im Augenblick, da er Caius so nah an sich spürte, sich wollte ergeben in den Augenblick, nicht mehr sehnte als loszulassen, seinen Geist, seinen Körper, sein Leben, Vergangenheit und Zukunft zugleich, und doch nicht konnte. Per Iovem lapidem, bei Iuppiters Stein hatte er geschworen, dem Stein, der so vielen zum lapidaren Versprechen gereichte um ihre Standhaftigkeit zu bekunden, von hundert Schwüren mochte dieser Tage nur ein einziger nicht gebrochen werden, doch wenn es nur einer von Tausenden war, dieser eine musste der seine sein - nicht, weil die Larven ihn ohnehin schon jagten, nicht, weil der Fluch ihm im Nacken saß, nicht, weil er bereits das missbilligende Gesicht seines Vaters vor sich sehen konnte, nicht, weil im anderen Falle die Welt auf ihn herabblicken mochte, nicht einmal, weil Caius ebenso geschworen und mit ihm ins Verderben würde fallen - einzig und allein, weil Gracchus der war, der er war, weil alles, was am Ende blieb, alles, was am Ende noch vorzuweisen war, alles, was zurück blieb einzig und allein ein winziger Funken seines Selbst war, ein kleines, schwelendes Feuer der Achtung, sonst tief verborgen unter der Glut des Zweifels, des Verzweifelns, des Zerwürfnisses mit sich selbst, doch nun, da all dies von Verlangen und Sehnen verzehrt war, nun blieb einzig noch dies.
    "Nein,"
    flüsterte er, wenig überzeugt. Denn noch drängte in ihm alles zu Caius, seine Finger suchten die Haut des Freundes ab als könnten sie dort auf dem Körper finden, nach was es ihm verlangte, seine Nasenflügel bebten unter dem berauschenden Odeur, seine Lippen gruben sich wieder und wieder in die Kuhle zwischen Aquilius' Hals und Schulter, sein Körper spottete seiner Selbst.
    "Bei Iuppiters Stein ..."
    Qual nun war es, welche sich langsam ergoss, Gracchus' Finger krümmten sich unter ihr, sein Griff um den Körper, in die Haut des Geliebten wurde fest, sein Kopf presste sich an Caius' Hals und Schultern als könne er seinen Geist aus sich verdrängen, strafte seine Worte mit dem Hauch der Lüge. Lüge. Nur dieses eine Mal. Eine Lüge. Dieses eine Mal eine Lüge. Immer. Immer lieben. Immer begehren. Immer lügen. Nur diese eine Mal lieben. Nur dieses eine Mal begehren. Nur dieses eine Mal lügen. Unter dem Kampf seiner Sinne bäumte sich Gracchus auf, stemmte sich gegen seine Ratio, gegen seine Emotio, gegen sich selbst, verlor nur, siegte gleichsam, verzweifelte, triumphierte, vergaß und erinnerte sich, brach und stand auf.
    "Bei Iuppiters Stein, Caius, bei Iuppiters Stein! Hör auf damit, hör auf! Bei Iuppiters Stein!"
    Es war gleich einem Mantra, das immer wieder vor seine Augen treten musste, wieder und wieder gesprochen ihn zu Sinnen bringen würde, ihn zur Verzweiflung treiben. Er fasste fest in Aquilius' Haut, packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn von sich.
    "Bei Iuppiters Stein!"
    Er hatte geschworen. Nichts gab es, das höher lag als dieser Schwur, nichts gab es, was ihn durfte brechen, kein profanes Verlangen, selbst sinnliche Liebe konnte nicht gegen den sakralen Schwur bestehen. Mit aller Kraft stieß Gracchus seinen geliebten Vetter von sich, stieß ihn zurück ins Wasser, drehte sich fort, taumelte am Beckenrand entlang, kämpfte sich durch das Wasser, wollte dem Ort entkommen, die Flucht antreten, wie so oft, scheiterte doch an der Treppe hinaus aus dem Nass, wo er schlussendlich zusammen sank, noch immer bebend, zitternd, schwer atmend, sich auf der Treppe hin zusammen krümmte, das Gesicht zwischen den Händen verbarg, nass ohnehin, ohne zu wissen ob nur von außen oder auch von innen.
    "Bei Iuppiters Stein ..."
    Er wippte den Körper leicht vor und zurück, suchte sich selbst zu finden, suchte einen Ort der Ruhe und Stille, einen Ort der Erinnerung, suchte den letzten Rest seiner Selbst, doch er fand nicht einmal mehr ein Schimmern, fand sich nur von Sinnen, verloren im Kampf mit sich selbst.

    cdcopo-pontifex.png flavia.png

    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Warum? In meinem Innersten brannte nur dieses einzige Wort, diese ewige und immer gleiche Frage, die er mir niemals würde beantworten können, nicht beantworten musste, weil ich die Antwort selbst schon zu gut kannte. Warum? Liebst Du mich denn nicht genug, um wenigstens uns ein einziges Mal zu gestatten, die dumpfe Bitterkeit zum Verstummen zu bringen? Fliehst Du vor einem Gefühl, das Dir die ratio nehmen könnte, um sie mit emotio zu ersetzen, fliehst Du davor, Dich vielleicht in etwas zu verlieren, von dem Du nicht weisst, in welche Richtung es Dich führen kann? Fliehst Du vor mir, ist denn nichts, was ich dir geben könnte, genug, um wenigstens ein einziges Mal nur schenken und annehmen zu dürfen, was schon so lange nur für Dich bestimmt ist?


    Warum, Manius? Warum? Ich bekam die gesprochenen Worte, die wenigen, entscheidenden, nur durch einen dumpfen Nebel mit, ich hielt ihn nicht auf, denn ich konnte nicht, ich durfte nicht, es wäre falsch gewesen, so unendlich falsch, wie alles falsch war, das ich an diesem Abend getan hatte. Ich hätte ihn nicht berühren dürfen, nicht einmal anblicken, weil ich nur zu gut wusste, was es auslösen würde, was es auslösen musste, und doch war mir nur zu sehr bewusst, dass ich in jedem Augenblick genauso wieder gehandelt hätte, wie ich es getan hatte, instinktiv, nach dem Menschen drängend, den ich so verzweifelt liebte, und nicht lieben durfte. Noch immer brannte die Berührung seiner Finger auf meiner Haut, dort, wo er mich gepackt hatte, aber es war nicht angenehm, es schmerzte wie das Feuer, an dem man sich einmal zu oft verbrannt hatte, und doch immer wieder verbrennen würde, weil es so heiß, so einladend war.


    Ich merkte nicht, dass mir die Tränen, die ich lange nicht geweint, immer in mein Innerstes zurückgedrängt hatte, über die Wangen liefen, sich mit dem Dampf mischten, der hier noch immer herrschte, aber auch dies konnte ich nicht verhindern oder ändern - es war einfach da, und mein Körper war einfach da, und irgendwo, irgendwo war auch mein Innerstes, das sich im neuerlichen Schmerz der Zurückweisung wand und zitterte. Meine Augen sahen ihn auf der Treppe sitzen, leicht wippend, in sich zusammengesunken, wie ich mich zusammengesunken fühlte, kraftlos, ohne Stärke, ohne innere Freude, ohne den Halt, den ich gebraucht hätte, den ich gehofft hatte, irgendwann zu finden ... und mein Körper handelte, glitt durch das warme Wasser hin zu ihm, und einer meiner Arme legte sich um seinen zitternden Körper, ohne das Verlangen auszulösen, das ich wenige Augenblicke früher noch empfunden hatte. Meine Wange legte sich an seinen Nacken, und ich weinte schweigend, wie auch er schweigend dort saß, in seiner Gedankenwelt verloren. Warum .. warum hast Du nur auf Iuppiter geschworen? War das die einzige Möglichkeit, Dich zu schützen?


    Und doch, es war noch da. Es ließ sich einfach nicht zerstören, nicht zerfetzen. Ama te. Es brannte tief in mir genau wie der Schmerz brannte, aber noch war ich nicht genug ausgebrannt, um nichts mehr zu empfinden. Noch nicht.
    "Per Iovem lapidem ..." flüsterten meine Lippen, und auch ich leistete einen Schwur. Den einzigen, den ich vielleicht leisten konnte, ohne Weihrauch, ohne Opferkekse, aber ein Schwur. Er würde ihn gehört haben, dessen war ich mir sicher.

  • Erneut zuckte Gracchus unter der Berührung seines Vetters zusammen, doch ohne Zögern ließ er seine Stirn gegen die Brust des Freundes sinken, ließ sich in seine Umarmung sinken, die so fest und zweifellos war wie seit jeher, die ihm immer schon das Gefühl der Sicherheit hatte geboten, gleich ob es tatsächlich war oder nicht. Sein Körper erbebte, zuckte leicht und nun war es sicher, dass das Nass in seinen Händen nicht vom Bad herrührte. Er hatte keine Tränen vergossen, seit er in Serenus' Alter gewesen war und er erinnerte sich seltsamerweise genau, dass es damalig einzig und allein aus Schrecken deswegen gewesen war, da er sich das Knie blutig aufgeschlagen hatte. Wie fern und gleichsam verlockend einfach schien der damalige Schmerz nun im Angesicht wahrer Pein. Wäre nicht ohnehin Gracchus Gemüt aufgrund der Vorfälle der letzten Wochen bereits völlig aus den Fugen geraten, so hätte ihn vermutlich, selbst in zweisamer Einsamkeit mit seinem ältesten und innigsten Gefährten, der Scham überkommen ob seiner Larmoyanz, doch längst brauchte er seine Stärke für Tiefgehenderes als die Aufrechterhaltung einer leeren Maske. Was hatte er nur getan? Er hatte Caius und sich selbst die einzige Hoffnung geraubt, gleichsam die einzige Möglichkeit ergriffen, die im Angesicht ihrer gemeinsamen Schwäche gegeben war, denn Gracchus wusste, dass nur ein Eid ihn auf Dauer würde bewahren. Der Schwur seines geliebten Freundes drang in seine Ohren, zerschmetterte den letzten Rest ihrer Hoffnung, zerbrach den feinen Schimmer und ließ Gracchus' Herz in einem zerbersten. Er wollte fort. Weit fort. Die Pflicht wollte er vergessen, sollte sein Vater brüllen, bis die Stimme ihm versagte, Gracchus würde ihn hören und gleichsam dies nicht tun.
    "Gibt es nichts, das uns bleibt, denn Schmerz und Verzweiflung? Nichts, denn hoffnungsloses Sehnen? Muss alles zwischen uns so enden, jedes Wort, jede Berührung? Mit einem Schwur unter erstickten Tränen? Stein ist unser Verderben, Caius, des Iuppiters, des Tarpeius. Nur einen Schritt will ich gehen, nur einen einzigen Schritt, doch wohin?"
    Langsam drehte er den Kopf, blickte auf, aus schimmernden Augen dem Körper des Geliebten entlang bis in zu dessen Gesicht, dessen gleichsam glitzernden Augen, wie kleine, schimmernde Ozeane. Beschämt senkte er den Blick, kniff die Augen einen Moment zusammen, blinzelte hernach und stand langsam auf, fasste Aquilius an den Schultern, als müsse er sich ein letztes Mal vergewissern, dass dieser tatsächlich wahrhaftig war. Er hob nicht seine Stimme, hob nicht seinen Blick.
    "Verzeih, Caius, verzeih mir. Es war ein Fehler zu bleiben, ich war ... ich hätte es wissen müssen. Verzeih mir, Caius, ich wollte nicht ... "
    Es war ohnehin ohne Sinn. Er schüttelte langsam den Kopf, wandte sich um, ließ die Hände an Aquilius' Schultern, bis dass sie sich zwangsläufig mussten lösen, da sie noch immer seinem Körper zugehörig waren und diesem die Treppe hinauf mussten folgen. Jeder Schritt war eine Qual, jeder Schritt, welcher ihn von Caius entfernte und es schien Gracchus als hätte er Ketten an den Füßen, Gewichte dazu, obgleich er nichts mehr sehnte, als endlich dem Raum zu entkommen. Er machte sich nicht die Mühe, die Haut zu trocknen, nahm nur die Tunika und zog sie über den Kopf. Hastig schob Gracchus den Riegel der Türe zur Seite, zögerte einen letzten Moment, drehte sich doch nicht um.
    "Ich werde nie damit aufhören, Caius, doch ... ich kann nicht."
    Bevor er eine weitere unüberlegte Handlung beginnen konnte, öffnete Gracchus die Türe, trat hinaus in den durch sanften Öllampenschein erhellten Gang und schloss die Türe hinter sich. Gleichsam sperrte er sein Verlangen in den tiefen Keller seines Gedankengebäudes, sperrte seine Gier hinter Gittern, verbarrikadierte noch die Eingänge zu den finsteren Gewölben, schloss alle Türen und grub die Schlüssel weit in die Erde ein. In der Villa Flavia wankte Gracchus durch die Gänge zu seinem Cubiculum und hinterließ feuchte Tropfen auf dem Gang. Er wollte fort, nur fort.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!