Die schlechte Nachricht

  • Es war ein Tag wie jeder anderer.


    Früh am Morgen hatte ich mich nach dem allmorgendlichen, ebenso einsamen wie üppigen Frühstück ankleiden lassen. Wie jeden Morgen hatte Camryn mir diese Blicke zugeworfen, besondere Blicke, welche mich noch vor einem Jahr bezirzen konnten, bis ich mir nahm, wonach es mir gelüstete. Seit allerdings Deandra ihren Platz in meinem Herzen gefunden hatte, beachtete ich solche Blicke nicht mehr. Nicht, dass ich nicht daran gedacht hätte, mir dennoch zu nehmen, was mir zustand. Ich wusste allerdings, wie Deandra darüber dachte, und ich respektierte ihren stillen Wunsch nach Treue, auch wenn man Sex mit einem Sklaven kaum als Seitensprung zu bezeichnen mochte, geschweige denn anderweitige Enthaltsamkeit während Verlöbnis oder Ehe per Gesetz zur Strafe standen. Im Grunde hatte ich freie Wahl, und doch akzeptierte ich bisher, dass Deandra verletzt sein würde, würde ich dieser freien Wahl nachkommen, und vermied diese offensive Verletzung.


    Ich war also nach dem ientaculum aufgebrochen, wie jeden Morgen, wenn ich zu Hause schlief, was ohnehin selten genug das Fall war. In letzter Zeit schlief ich darüber hinaus mehr denn schlecht. Ich hatte mich im Kastell mit der Inventur der Lagerhäuser herumgeplagt, war knapp nur einem herunterfallenden Ziegel ausgewichen und hatte anschließend keine Muße mehr, meinen Dienst pflichtbewusst zu Ende zu bringen, was mir auch keiner nachsah, immerhin verbrachte ich sonst sehr viel mehr Zeit im Lager als es offiziell nötig war. Ich hatte eine Weile in meinem officium verbracht, mich dann jedoch auf den Heimweg gemacht. Auf dem Weg hatte ich kein Auge für die verschiedenen Händler oder für die Regenwolken, welche einen Wolkenbruch andeuteten. Lediglich die beiden verdreckten Kinder, die ihre Hände bittend ausstreckten, bedachte ich mit je einer Münze.


    Nur wenig später war die villa bereits in Sichtweite und es begann zu regnen. Zuerst nur wenig, dann immer stärker. Da ich zu Fuß unterwegs war, es aber vermied, die letzten Meter rennend zurückzulegen, da es mir unangemessen vorkam, wurde ich recht nass. Kurz darauf erreichte ich das Haus, das sich vor einem gelblichen Himmel beinahe bedrohlich erhob. Ich ging hinein, kassierte einen verwunderten Blick vom ianitor und verlangte barsch und tropfend nach Camryn. Auf meinem Weg hinterließ ich nasse Spuren im atrium. Ich löste selbsttätig die Schnalle meiner paenula und ließ sie achtlos rutschen. Der leichte Mantel landete mit einem sehr nassen Geräusch direkt neben dem impluvium, doch ich ging einfach weiter und steuerte das balneum an. Weil es mir nicht schnell genug ging, brüllte ich kurz vor dem Eintreten noch einmal Camryns Namen.


    "Camryn!"


    Dann trat ich ins Bad und schlug missgelaunt die Tür hinter mir zu. Ein verwirrter ianitor fragte sich, ob es am Regen lag.

  • Mein Ruf musste Camryns Gang merklich beeinflusst haben, denn nur wenige Sekunden später hörte ich sie hierher hasten. Kurz darauf öffnete sich die Tür und sie sah mich ebenso fragend wie erschrocken an, in den Händen hielt sie die tropfende paenula. "Herr?" fragte sie, und in ihrer Stimme schwang jene Besorgnis mit, die ich ihr auch ansehen konnte. "Ich will ein Bad nehmen. Richte alles her", gab ich die Anweisung. Inzwischen saß ich auf dem hölzernen Hocker, auf welchem sonst nur die frische Wäsche griffbereit lag. "Herr??" fragte sie nun deutlich verwirrter und sie legte den Mantel fort, um einige Schritte näher zu kommen. In einer scheinbar beruhigenden Geste berührte sie mich flüchtig an der Schulter, und ich ließ sie gewähren, was die Keltin augenscheinlich in Erstaunen versetzte. "Herr, was ist mit dir? Möchtest du dich nicht etwas ausruhen, ehe du ein Bad nimmst? Es wird ohnehin noch etwas dauern, bis das Wasser eingelassen ist, und-" "Ich bleibe. Mit mir ist gar nichts los, ich hatte nur einen schlechten Tag und darüberhinaus bin ich patschnass, Camryn. Hättest du nun die Güte, mir ein Bad zu bereiten? Mir ist kalt", unterbrach ich die Sklavin, welche auch sofort verstummte. Nun zog sie die Hand zurück und beeilte sich, zu nicken. "Sofort, Herr", erwiderte sie und nickte. Anschließend sorgte sie dafür, dass das im Keller gewärmte Wasser durch die großen, vergoldeten Hähne in das großzügig ausgelegte Marmorbecken floss. Das Rauschen des Wassers machte mich etwas schläfrig, und während sich der Wasserdampf allmählich vom heißen Wasser im Raum ausbreitete und langsam an den Wänden empor kroch, setzte die hübsche Sklavin nach und nach wertvolle Badeessenzen dem wirbelnden Wasser bei. Mein Kopf fühlte sich schwer an. Zuletzt hatte ich mich nach meiner liberalia so gefühlt, doch da war ich kurze Zeit später bettlägerig gewesen, da ich mir eine deftige Erkältung eingefangen hatte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und lehnte auch den Kopf dort an.


    "Corvinus!" sagte Camryn dann plötzlich dicht vor meinem Gesicht. Ich schlug die Augen auf und sah in das Gesicht der keltischen Blondine, das sich so dicht vor meinem befand. Ich richtete mich auf, räusperte mich. "Was?" fragte ich verwirrt. War ich eben weggenickt? "Ich hatte dich gefragt, warum dein Tag nicht gut war. Ist auch wirklich alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen, du wirkst gar nicht gut", sprach Camryn und hob die Hand, um besorgt meine Strin zu fühlen. Ich schob ihre Hand fort. "Mir geht es gut, lass das. Mir wäre nur beinahe ein Ziegel auf den Schädel gefallen und ich bin nass geworden. Und jetzt ist mir kalt. Wie weit ist das Wasser denn?" fragte ich mürrisch und war mir des skeptischen Blicks der Sklavin bewusst. Dass sie mich eben unpassend genannt hatte, hatte ich übersehen. "Deine Augen sind glasig, und du bist ganz warm", sagte sie nüchtern und verschränkte die Arme vor der Brust. "Du wirst krank." "Unsinn, mir fehlt nichts. Was ist nun mit dem Bad?" gab ich schroff zurück. "Ist bald soweit. Fünfzehn Minuten vielleicht noch. Soll ich nicht lieber die Claudia benachrichtigen?" fragte sie kühl.


    Ich wusste ja, dass sie Deandra nicht mochte, und ich ahnte auch, warum das so war. Immerhin hatte Camryn bis zum Verlöbnis einen gewissen Sonderstatus inne gehabt, den sie nun nicht mehr hatte. Während ich das dachte, streifte mein Blick ihre Brüste. Ich schluckte und richtete den Blick auf das Bad. "Nein. Ich will nur ein Bad nehmen, nichts weiter, verdammt, was ist daran so schwer zu verstehen? Mir geht es prima, ich will nur ausspannen und mich daran erfreuen, dass der Ziegel sein Ziel nicht getroffen hat", sagte ich ihr klipp und klar. Camryn starrte mich an, nickte dann aber abgehackt. "Verstanden. Verzeih, ich wollte dich nicht verärgern." "Schon gut."


    Allmählich füllte sich das marmorne Becken.

  • Camryn löste die seitlich gelegenen Schnallen meiner Rüstung. Ich hatte sie nicht fortgeschickt und stattdessen jemand anderen herkommen lassen. Warum, wusste ich selbst nicht einmal. "Und er ist wirklich direkt neben dir heruntergefallen? Das nenne ich Glück, dass er dich nicht getroffen hat", sagte sie gerade und stellte nun den Brustharnisch zur Seite. "Genau das habe ich mir auch gedacht. Es war wirklich Glück." Allmählich hob sich meine Laune wieder. Das Bad war bereitet, die verzierte Decke spiegelte sich in der Wasseroberfläche, nur durch einige treibende Rosenblätter und den Schlieren der verschiedenen Öle durchbrochen. Gedankenverloren sah ich hinein und hob die Arme. Camryn entkleidete mich, doch als sie das subligaculum ebenfalls lösen wollte, hielt ich sie davon ab und schnürte den Knoten selbst auf. Camryn wirkte resigniert und wandte sich um, um abermals unnötigerweise die Temperatur des Bades zu kontrollieren. Dabei kniete sie sich hin und beugte sich vorn über, um ins Wasser zu langen. Ihr keltischer Hintern zeichnete sich in der einfachen roten tunica recht deutlich ab. Ich sollte sie wegschicken, tat es jedoch nicht, um mir selbst zu beweisen, dass es nicht nötig war.


    Die erste Stufe war nur mäßig mit Wasser bedeckt. Ich stieg in das wärmende Nass hinunter und seufzte wohlig, als es meinen Körper umspülte und nur mehr der Kopf herausschaute. Ich strebte der unter Wasser liegenden, tiefsten der drei Sitzbänke zu und ließ mich darauf nieder. Camryn legte sich ein Kissen an den Rand und kniete sich darauf. Anschließend half sie mir, meinen Hinterkopf auf ihre Oberschenkel zu betten. Dann begann sie mit einer Massage. Zuerst sanft, dann kräftig knetete sie meine Schultern und bearbeitete auch den Nacken. Ich entspannte mich allmählich, ließ den Geist treiben. Doch eine Frage beschäftigte mich nach wie vor. "Warum kannst du dich nicht mit Deandra arrangieren, Camryn?" fragte ich in die feuchte Stille hinein. Das Kneten wurde unkoordiniert, langsamer und hörte schließlich ganz auf. Ich schlug die Augen auf, wartete noch einen Moment und wandte mich schließlich um. Meine Hände griffen rechts und links neben der knienden Sklavin an den Beckenrand, während ich sie aufmerksam beobachtete. Im Grunde war sie eine Sklavin und damit ein Ding, eine Sache. Ich wusste selbst nicht, warum ich mir so viel Mühe mit ihr gab. Vermutlich aber schätzte ich sie im Stillen doch irgendwie als Freundin, weil sie zuhörte und sich um mich kümmerte, auf eine simple wie gleichzeitig auch selbstverständliche Weise. Kein Wunder, von einer Sklavin erwartete man auch nichts anderes.


    Das Erschrecken in ihrem Gesicht war nicht lange zu sehen, denn plötzlich wirkte es verschlossen. Sie wich meinem Blick aus und sah zur Seite. "Herr, vielleicht sollte ich Dina bei der Wäsche helfen, sie beklagt sich in letzter Zeit immer wieder darüber, dass ihr niemand hilft" sagte Camryn. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, du bleibst hier. Ich habe dich etwas gefragt und ich verlange eine ehrliche Antwort, Camryn. Ist es, weil du dir mehr erhofft hattest, als meine Leibsklavin?" fragte ich sie offen und direkt. Die Sklavin sah mich perplex an. "Herr!" entfuhr es ihr, und ihre Stimme klang panisch und war höher als sonst. Ich sagte nichts weiter, sah sie nur erwartungsvoll an. Camryns Hände suchten einander, falteten sich umständlich und legten sich in ihren Schoß. Sie senkte den Blick. "Ich kann es nicht sehen, wenn sie dich so berührt wie ich es tu", gestand sie flüsternd und vermied jeglichen Blickkontakt. Ich wollte schon etwas erwidern, als sie weitersprach. "Sie ist schrecklich. Sie mag mich nicht, weil sie weiß, was wir getan haben, als sie noch deine Schwester war. Sie ist herrschsüchtig und arrogant, und sie zeigt es mir mit jedem Wort und jeder Geste. Jeder Tag, den du im castellum weilst, ist schrecklicher als der vorherige. Ich bin so froh, jedes Mal, wenn du heimkommst", sagte sie und sah nun auf. Ihr Gesicht war eine gequälte Mischung aus Verlegenheit und Schmerz.


    Ich wusste nicht im Ansatz, was ich dazu sagen sollte.

  • Eine ganze Weile starrte ich die Sklavin an, ausdruckslos. Ich fühlte ebenso berührt wie in meiner Vermutung bestätigt. Schließlich dachte ich daran zurück, wie sie jedes Mal auf mich gewirkt hatte, nachdem ich bei ihr gelegen hatte: glücklich, zufrieden. Ich zog die Brauen nachdenklich zusammen und antwortete der kleinen Keltin schließlich. "Camryn, ich weiß deine ehrlichen Worte zu schätzen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich etwas in der Art sogar schon vermutet, aber ich wollte es von dir selbst hören. Du bist eine Sklavin, auch wenn ich dich bisher nie so behandelt habe, als seist du eine. Du hast bei mir Freiheiten genossen, die sonst nur einem Freien zustehen. Ich habe dich nie geschlagen und nie etwas gegen deinen Willen getan. Und dennoch warst du nicht meine Geliebte und wirst es auch niemals sein. Du bist eine Sklavin. Was soll ich nur mit dir machen?" sagte ich und schüttelte den Kopf. Vermutlich hätte mich ein Flavier wegen dieser Worte ausgelacht und Denadra hätte mich verrückt und voreingenommen erklärt. Mein Kopf pochte. Camryn sah mich an, keine Regung war in ihrem Gesicht zu erkennen. "Ich verstehe. Ich war nur ein Mittel zum Zweck. Die kleine, willige Sklavin, die nicht gemerkt hat, wie man mit ihr spielt. Und die sich dummerweise verguckt hat." presste sie trocken hervor und starrte mich an. Sie schien wütend auf mich, auf sich, auf die ganze Welt. Ich legte den Kopf schief und seufzte. "Camryn. Ich werde-" "Nein. Es ist schon gut. Ich habe es verstanden, du brauchst nichts weiter sagen. Ich denke, ich werde jetzt doch mal Dina mit der Wäsche helfen, Herr." Überrascht kniff ich die Augen zusammen und folgte ihr mit Blicken, denn sie sprang auf und verließ fluchtartig das Bad. Der Schlag der Tür hallte einen Moment wider, wurde dann jedoch vom Wasserdunst verschluckt. Ich verzeichtete darauf, sie zurückzurufen, tapste eine Weile hockend im Becken herum und dachte nach. Vielleicht sollte ich sie verkaufen, dann war ich das Problem los und Deandra und sie würden nicht immer aneinander geraten. Ich sollte mit Deandra reden, sie um Rat fragen. Obwohl ich eigentlich davon ausging, dass sie diese Idee begrüßen würde.


    Ich strebte erneut dem Rand zu, ließ mich seufzend nieder und schloss die Augen. Etwas Entspannung...


    Als ich die Tür ins Schloss fallen hörte, blinzelte ich träge und sah Caecus entgegen. Er trug eine frische tunica und einige Briefe. Die Kleidung legte er auf den Hocker, mit der Tagespost kam er auf mich zu. "Herr, ich habe die Post hier. Ich dachte, du möchtest sie vielleicht hier lesen?" fragte er und blieb fragenden Blickes stehen. Ich winkte ab. "Leg sie mir auf den Schreibtisch, Caecus, das hat Zeit", erwiderte ich, doch der Sklave nickte nicht und wandte sich auch nicht um, wie ich es erwartet hatte, sondern sah zerknirscht drein und entgegnete: "Es ist auch ein Brief von deinem Vater dabei, Herr." Ich änderte meine Meinung und streckte die Hand aus. "Na gut. Her damit. Aber den Rest bring ins Arbeitszimmer. "Sehr wohl, Herr." Caecus reichte mir eine Schriftrolle, verbeugte sich und verließ das balneum.


    Ich drehte den Brief mit klammen Händen und brach das aurelische Siegel. Zögerlich entrollte ich das Pergament. Der Tag war bisher nur schlecht gewesen, er konnte also nur besser werden. Ich begann zu lesen.


  • Marcus Aurelius Corvinus
    villa aurelia zu Mogontiacum
    Germanien



    Geliebter Sohn, einziger Sohn,


    sicher hattest du nicht gehofft, so bald wieder ein Schriftstück von mir in den Händen zu halten.


    Dir schreibt ein gebrochener Mann, Marcus. Einer, der seine Söhne beerdigen musste, der seiner einzigen Tochter und nun auch noch des Eheweibs beraubt wurde. Ich stehe mit leeren Händen hier und bitte die Götter um Vergebung und darum, dass sie ein Nachsehen mit mir haben werden mit dem, was ich tun werde, sobald dieser Brief sich auf dem Weg zu dir befindet.


    Deine Mutter hatte keine Schmerzen. Ihr Gesicht ist so friedlich, man könnte meinen, sie schliefe nur. Ich frage die Götter immer und immer wieder, wie sie mir das nur antun können. Meine geliebte Severina. Mir fehlen die Worte, mein Junge.


    Du bist mein Erbe. Du trägst aurelisches Blut in dir, aurelischen Samen. Du wirst die Linie fortführen. Du wirst dich um deine Familie kümmern, um Deandra, die unser aller Herzen mit Liebe erfüllt hat. Du wirst dir und den Göttern stets treu sein, wirst Rom und dem Kaiser treu sein. Ich vertraue darauf, Marcus.


    Und wenn die Phiole gebrochen, der Wein meine Kehle hinabgeronnen ist, werde ich vereint mit deiner Mutter sein und im elysium auf dich warten. Auf euch, denn ich bin stolz auf euch und stolz, den Namen Aurelius getragen zu haben. Geliebter Sohn, trauere nicht, sondern bewahre deine Mutter und mich im Herzen. Grüße meine kleine Deandra und beschütze sie gut vor allem, was sie bedroht.


    In Liebe,
    [Blockierte Grafik: http://img128.imageshack.us/img128/7496/maunterschriftej5.gif]


  • Trotz des angenehm warmen Wassers wurde mir kalt. Eine eisige Klaue schien nach meinem Herz zu greifen, suchte es zu zerdrücken. Im Verlaufe des Lesens begann die Hand zu zittern, welche das Schriftstück hielt, sodass ich die zweite Hand zur Hilfe nehmen musste, doch das Zittern wurde nicht merklich besser. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, je weiter ich las. Ich hatte unbewusst den Atem angehalten, und als meine Augen jene Stelle erreichten, an dem mein Vater sein Vorhaben ankündigte, keuchte ich gepeinigt und erstickt. Mein Körper bebte, der Atem ward nicht länger zurückgehalten, sondern überkam mich stoßweise und vollkommen unkoordiniert. Ich zitterte nun so sehr, dass mir das Pergament aus den Händen und ins Wasser fiel. Als umgebe es eine schlechte Aura, taumelte ich rückwärts von der Stelle fort, an dem das ölige Badewasser allmählich die schwarze Tinte auflöste. Nichts war zu hören, außer dem Geräusch, welches das Wasser machte, als ich fahrig rückwärts strebte, den fassungslosen Blick auf den Brief gerichtet. Nichts, außer dem Wumm-wumm-wumm, welches mein Herz verursachte, das hart und erbarmungslos gegen meinen Brustkorb klopfte.


    Ich hatte den gegenüberliegenden Beckenrand bald erreicht, das Wasser dort aufwirbelnd verdrängt. Den Rücken presste ich an das Bassin, noch immer den Brief anstarrend und einfach nur atmend, angestrengt und schwerfällig. Ich zitterte wie ein germanischer Soldat, wenn die Römer einfielen. Das war doch nicht möglich! Mutter tot... Vater... Gift? Niemals würde er sich das Leben nehmen, niemals! Ich kannte ihn doch, er war ein starker Mann, er respektierte und verehrte die Götter, er war ein guter Mann, ein guter Vater... Warum tat er mir das an, warum nur? Zu wem sollte ich aufblicken, wenn nicht zu ihm, werd würde mich leiten, wenn nicht er?


    Ein Beben schüttelte meinen Körper. Mochte ich sonst vom Verstand gelenkt sein, hier war ich es nicht. Ich hätte es wissen sollen, der Tag hatte schließlich schon schlecht begonnen. Nur die parces wussten, welche schrecklichen Ereignisse er noch für mich bereithalten würde. Ich schluchzte. Tränenlos, gemartert, gequält. Allmählich wandte ich den Blick ab, drehte mich rum und umklammerte den Beckenrand hoch aufgereichtet, als sei er der letzte Halt in meinem Leben. Die Knöchel traten weiß hervor, ein Nagel riss ein und begann zu bluten. Und ich konnte immer noch nichts weiter spüren als diese unbändige Wut und die schreckliche Enttäuschung, die mich mit dem Lesen des Briefes gepackt und seither nicht wieder losgelassen hatte. Schwer mahlten meine Kiefer aufeinander, so schwer, dass die Zähne knirschten.


    Ich merkte nicht, dass sich die Tür erneut öffnete und Sofia eintrat, denn Camryn hatte sie geschickt, um mir während des Bades meine Wünsche zu erfüllen. Erst, als sie einige Schritte in den Raum hineintrat, stehen blieb und den Brief im Wasser treiben sah, erklang ihre besorgte Stimme und ich bemerkte sie. "Herr! Was ist geschehen?" fragte sie und beeilte sich, den inzwischen aufgeweichten Brief aus dem Wasser zu fischen. Dann kam sie herum, denn ich rührte mich nicht. Ich wollte allein sein, allein mit mir und der Wut, mit mir und der Enttäuschung. "Herr! So sag doch etw-" "HINAUS! SCHER DICH FORT!" brüllte ich sie ohne Vorwarnung an, und, bei Iuppiter, wenn sie nur nahe genug gewesen wäre, ich hätte sie geschlagen, weil es mir dadurch besser gegangen wäre. In Ermangelung eines Gegenstandes holte ich aus wie irr, ließ meine Fäuste ins Wasser klatschen. Es ergossen sich wahre Fluten über der griechischen Sklavin, die mich mit aufgerissenen Augen und offenen Mund anstarrte und dann nicht schnell genug aus dem Raum flüchten konnte.


    Ich tobte noch, als sie bereits gegangen war.

  • Nur langsam sickerte mein Verstand durch die Wüt über diesen Brief, der nun im Trockenen lag und darauf wartete, erneut gelesen zu werden, sofern das aufgrund der verschwommenen Tinte überhaupt noch möglich war. Schwer keuchend hörte ich schließlich auf, gegen unsichtbare Geister zu rebellieren und das balneum zu überfluten. Ich bahnte mir einen Weg hinaus aus dem Becken, konnte gar nicht schnell genug aus dem Wasser kommen. Vermutlich war meine Hast auch der Grund, der mich ausrutschen und stürzen ließ. Dabei zog sich meine Hüfte einen ansehnlichen Stoß zu, der sich bald zu einem Bluterguss wandeln würde.


    Da lag ich nun im Nassen auf dem Bauch, mit schmerzendem Kopf, schmerzender Hüfte, schmerzendem Stolz und schmerzendem Herzen. Allmählich verblasste die Wut, verebbte der Zorn. Zurück blieben Trauer und Enttäuschung und das vage Gefühl des Versagens. Ich war nicht da gewesen, um ihn davon abzuhalten und um Mutter beizustehen auf ihrem Weg. Ich hatte es vorgezogen, an mich und meine Karriere zu denken, statt an meine Familie. Kurz: Ich hatte versagt. Ich schämte mich nicht meiner Nacktheit, wie ich hier lag, sondern schämte mich meines Versagens. Und aus diesen Gedanken heraus resultierten die erlösenden Tränen, die nun endlich fließen wollten, während ich auf dem Boden des Bades lag, das Gesicht in den Händen geborgen, und meine Schultern bebten.

  • „Also, ich nehme doch an, dass sich das Bad im Haus befindet“, sagte ich mit einem Kopfschütteln, als mir Sofia eine Palla um die Schultern legte. Eine Armbewegung reichte, da lag das gute Stück auf dem Boden. Ich schritt über die Türschwelle und … musste warten. Geduldig hörte ich mir die Erklärungen der Sklavin an, die mich stark an Großmutter Aurelia erinnerten. Immer diese Ratschläge und dazu diese nicht nachvollziehbare, aber dennoch von mir akzeptierte Scham. Jedoch hatte alles seine Grenzen und der Gedanke, dass eine Sklavin Marc auf mein Erscheinen vorbereiten würde, kam mir derart skurril vor, dass ich lachte. Zum Glück war Sofia nicht so wendig im Kopf, um dieses Lachen richtig deuten zu können, und das war gut so. Niemand wusste, wie nahe sich Marc und ich bereits gekommen waren und doch hatten wir keine wichtige Norm gebrochen.


    „Können wir jetzt gehen?“, fragte ich schließlich ungeduldig. „Und du wirst ganz sicher nicht zuerst in das Bad schauen. Ich brauche dich nur für den Weg, dann kannst du gehen.“ Sofia bewegte sich endlich und ich folgte ihr.


    Ich wusste nicht, ob es Genervtheit wegen der einfältigen Sklavin war, oder ob sich langsam ein ungutes Gefühl, das aus Ungewissheit und leichter Sorge bestand, in mir breit machte. Die anfängliche Abgeklärtheit war verflogen, als ich vor der Badtür stand. Unwillig wedelte ich mit den Händen, um erst einmal Sofia loszuwerden. Erst danach betrat ich das Balneum.


    Der Versuch, sich zunächst zu orientieren, scheiterte gleich zu Beginn, weil zu viele unverständliche Eindrücke auf mich wirkten. Da war ein leeres Bassin und Stille, die kurzzeitig durch bekannte Geräusche durchbrochen wurden, die ich aber nie im Leben mit Marc in Verbindung bringen würde. Kurz darauf entdeckte ich ihn.
    Ein Gefühl überkam mich, das Sofia wohl tagtäglich fühlen musste: Nichts verstehen, der Situationen hilflos ausgeliefert, zeitweilig handlungsunfähig. Die klamme Luft förderte auch nicht gerade die Denkprozesse. Wieso lag er am Boden? Warum, bei den Göttern, zuckten seine Schultern so verdächtig? Bei aller Dümmlichkeit – in einem hatte die Sklavin Recht behalten: Es ging ihm nicht gut, wenn auch anders als von Sofia geschildert und von mir erwartet.


    Mein Blick fiel auf einen achtlos hingeworfenen und halb zerweichten Brief, als ich auf ihn zuschritt. Aber das Papier interessierte mich nicht, weil das Herz längst hart schlug und eine unbestimmte Angst meinen Brustkorb zusammenpresste. Ich wollte von Marc wissen, was geschehen war, ich ahnte, es musste etwas Schlimmes sein, wenn es ihm derart schlecht ging. Das Bedürfnis kam auf, ihn einfach in den Arm zu nehmen, aber ich schob diesen Wunsch auf. Stattdessen holte ich tief Luft, bevor ich mich hinkauerte und ihn sanft an der Schulter berührte.


    „Was ist passiert, mein Liebster?“, flüsterte ich, denn selbst wenn der Hals nicht zugeschnürt gewesen wäre, eine normale Sprechweise passte nicht in diese Situation.

  • Irritiert führte das Soffchen die Herrin nun also zum Bad, in welchem der Herr verweilte, und zwar nackt. Stille verriet, dass er zumindest nicht mehr tobte wie ein Irrer. Dennoch hatte Sofia kein gutes Gefühl dabei, Deandra unvorbereitet eintreten zu lassen. Regeln und Normen waren das A und O, und wenn man sich vor der Hochzeitsnacht unbekleidet sah, war das ein Fauxpas, den man doch vermeiden konnte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch trat die griechische Sklavin einige Schritte zurück, fasste sich unwohl an den Händen und verkündete, dass sie für alle Fälle erst einmal hier bleiben würde, falls man etwas brauchen würde. Dann war Deandra auch schon eingetreten und die Tür geschlossen. Sofia überlegte, ob sie nicht auch der jungen Helena Bescheid geben sollte, entschied sich aber vorerst dagegen. Sie würde sie immer noch holen können.



    Ich lag immer noch auf dem Boden, der mir so unendlich kalt erschien, obwohl er, wie das Wasser selbst, von unten her beheizt war, um ein angenehmes Bad auch ebenso angenehm ausklingen zu lassen beim Ankleiden. Wer wollte schon der wohligen Wärme eines Bades entfliehen, um sich danach auf kalten Steinen ankleiden lassen zu müssen? Inzwischen hatte ich die Arme unter mein Gesicht geschoben und die Stirn auf dieselben gebettet. Mein Kopf war rot, meine Ohren ebenfalls, mein Gesicht war versteinert und verheult, ich musste wirken wie ein kleines Kind, das sein geliebtes Spielzeug nicht bekommen hatte. Allmählich hatte ich mich beruhigt. Auf die unbändige Wut war die Enttäuschung gekommen, dann waren die Selbstvorwürfe gefolgt, nun ergoss sich Resignation über mir. In dieser Stimmung war ich verletzlich wie nie zu vor, jedoch ebenso angriffslustig. Deandra kannte mich so nicht. Als meine Brüder oder andere Verwandte gestorben waren, war ich jünger gewesen und hatte noch nicht begriffen, was es hieß, ins elysium zu gehen, oder aber ich war gar nicht anwesend gewesen. Zwei meiner Brüder hatten die Götter geholt, als ich meinen Bildungsaufenthalt in Achaia gemacht hatte.


    In dieser Stimmung nun vernahm ich die Tür erneut, regte mich jedoch nicht. Das verfluchte Sklavenpack sollte mich allein lassen, meine "Anweisung" war doch eigentlich klar gewesen. Am Schritt erkannte ich eine Frau in dem Besucher, doch ich drehte mich weg, sah nicht auf. Ich wollte mich meiner Resignation hingeben, meiner Enttäuschung und der Trauer über den Verlust, die nun langsam einsetzte - und zwar allein.


    Jemand kniete neben mir nieder, und zum ersten Mal vermutete ich Deandra, Helena oder aber Camryn, die sanfte Berührung an der Schulter festigte diese Vermutung noch. Doch dann vernahm ich eien Stimme, die ich unzweifelhaft nur einer zuordnen konnte, Deandra. Ich regte mich nicht, eine ganze Weile war ich nur darauf bedacht, zu atmen und sie zu ignorieren. Helfen konnte sie mir nicht, ich wollte auch keine Hilfe, sondern vielmehr Ruhe und Abgeschiedenheit, am besten gar in einem abgedunkelten Raum und in eine Decke gehüllt, doch in jedem Falle allein. Als sie nicht ging - ich hatte es gehofft, aber nicht erwartet - wandte ich mich vollends von ihr ab und kauerte mich seitlich zusammen. "Lass mich allein", brachte ich erstickt hervor, abwesend mein rechtes Knie anstarrend, die Arme gefaltet und die Gänsehaut ignorierend, welche meinen Körper überzog. Ich wollte, dass sie verschwand, ich wollte allein sein und ihr nicht zeigen, dass ich schwach und angreifbar war. Mir war heiß und kalt, übel und schwindelig zugleich, und dann war da dieses unsagbar schlechte Gefühl des Versagens, dass mit jedem getanen Atemzug stärker wurde und sich weiter in die Seele fraß. Nein, ich konnte sie jetzt nicht hier haben, so gern ich sie auch hatte. Um das noch einmal zu verdeutlichen, brüllte ich nun heiser. "Nun geh schon! Verschwinde! Lass mich allein!"

  • Statt einer Antwort auf meine bange Frage bekam ich nach langem Schweigen drei Worte zu hören, die ich niemals erwartet hätte und die mich wie eine Ohrfeige trafen. Dementsprechend erschrocken fuhr ich zurück. Ich zog die Hand von seiner Schulter fort, als hätte ich eine heiße Herdplatte berührt. Verständnislos starrte ich seinen Rücken an, nachdem er sich abgewendet hatte. Fliegenden Gedanken rangen um eine sinnvolle Erklärung, warum er mich zurückwies. Der Schrecken war zugleich in den Bauch gefahren und hatte dort wie ein gefräßiges Raubtier gewütet. Meine Magenwände fühlten sich durchlöchert an, es brannte im Herzen, atmen fiel schwer, weil diese drei Worte wie eine schwere Last auf meinem Brustkorb lagen.


    Die Erneuerung seines Wunsches, dieses Mal brüllend vorgebracht, ließ mich erneut zurückfahren. Sie beraubte mich aller Kraft, ich stand mühsam auf. Natürlich gewahrte ich, dass er fror, dass es ihm schlecht ging, aber ich verstand nicht wieso? Wenn er mich zurückwies, musste ich auch Schuld haben – Schuld an seiner schlechten Verfassung, an seinem Schmerz und damit selbst Schuld, wenn ich zurückgewiesen wurde. Ich strich mir über die schmerzende Stirn und versuchte krampfhaft zu ergründen, worin mein Fehler gelegen haben könnte. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hatte ich etwas Unverzeihliches getan? Ich versuchte mich an das letzte Gespräch zu erinnern, suchte nach möglichen Stellen, die ihn verletzt haben könnten, was er vielleicht erst jetzt zeigte.


    Meine Gedanken waren gelähmt, deswegen fiel mir das Pergament, an dem ich vor Augenblicken achtlos vorüber gegangen war, erst ein, als ich bereits alle anderen Möglichkeiten erwogen hatte. Ich wandte mich um, ging die wenigen Schritte zurück und bückte mich, um es aufzuheben. Ich verblieb in gehockter Stellung, als ich versuchte, die zerweichten Zeilen zu entziffern, aber es gelang mir nur bruchstückhaft. Die Wortfetzen machten keinen Sinn, aber sie halfen mir dennoch aus dem Elend, weil ich nun wusste, dass es eine andere Erklärung für seinen Schmerz gab. Eine Erklärung, die ich derzeit nicht kannte, die mir aber auch nicht vordergründig wichtig zu wissen war, weil mir das auch nicht weiterhelfen würde.


    Ich erhob mich, ohne den Brief an mich zu nehmen, denn er gehörte mir nicht. Die Angst, ausgelöst durch seine unverständliche Reaktion, und die Ungewissheit wichen mehr und mehr der Sorge um ihn. Es war schwer, ihn so zu erleben, fast gab es nichts Schlimmeres, als mitzuerleben, wenn starke Männer Schmerz zeigten.
    Schwierig war, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich ihn nicht trösten durfte, warum ihm meine Nähe nichts bedeutete. Vor allem das hätte MIR geholfen, aber es ging ja vornehmlich um ihn. Ich spürte instinktiv, dass ich ihm genau damit helfen konnte, was mir am schwersten fiel: Seinem Wunsch entsprechen und ihn alleine lassen.


    Eines jedoch ging auf gar keinen Fall: Ich konnte ihn unmöglich so frierend und unbekleidet zurücklassen. Ich wäre mir wie ein Barbar vorgekommen. Suchend schaute ich mich um und fand in einem stärkeren Leinentuch eine zweckmäßige Lösung. Es war zwar nicht übermäßig dick, wie die Prüfung erwies, aber es spendete Schutz. Ich seufzte einmal, weil ich gern viel mehr getan hätte, trat dann aber auf ihn zu, kauerte mich hin und breitete das Tuch über seinem gesamten Körper aus. Weil es an seinem Rücken anliegen sollte, schob ich es bestmöglich zurecht.
    Ich wusste nicht, ob er im Augenblick Berührungen als unangenehm empfinden würde, aber ich brauchte es für mich, ihm noch einmal über den Kopf zu streichen.


    „Du weißt ja, wo du mich finden kannst“, flüsterte ich, und wusste sogleich, dass ich keine Antwort erhalten würde.


    Ich erhob mich, ging zur Tür und zog sie nach mir ins Schloss. Mit einem ganzen Wust an Gedanken und Gefühlen kehrte ich in mein Cubiculum zurück.

  • Natürlich verletzte ich sie, dessen war ich mir bewusst. Doch um ehrlich zu sein, war mir seit dem Moment des Lesens alles egal, und so auch der Umstand, dass ich jener weh tat, de mir doch am meisten bedeutete. Ich dachte nicht daran, wie sie sich fühlen musste. Ich fragte mich auch nicht, was sie denken mochte, von mir, meinem Verhalten, der Situation. Ich starrte nur weiterhin mein Knie an, den durchaus muskuösen Oberschenkel, die Haare, die aus der Haut sprossen. Und dabei dachte ich an nichts, sondern fühlte nur Kälte, innerlich wie äußerlich. In wenigen Minuten war ich um Jahre gealtert, so zumindest fühlte ich mich. Ob dem so war, würde nur ein Außenstehender bestätigen können, denn man selbst war stets eingenommen vom eigenen Empfinden und der eigenen Meinung.


    Bald hörte ich Schritte, wenige, die sich entfernten und stehen blieben. Ein Rasscheln - vermutlich dieser verhasste Brief, der doch das letzte Bindeglied zwischen Vater, Mutter und mir darstellte. Obwohl ich das Schriftstück verachtete, gar hasste, als sei es ein realer Feind, wollte ich doch nicht, dass man mir dieses letzte Glied entriss. Aufmerksam lauschte ich, was geschah, auch wenn ich vorgab, dass es mich nicht interessierte. Die Augen waren geschlossen, um den Leistungsfähigkeit der Ohren bestmöglichst zu verstärken. Eine Weile geschah nichts, kein Klagelaut war zu hören. Ich schlussfolgerte, dass der Brief nicht mehr leserlich war, doch auch dies war mir gleich. Ich wusste ohnehin, was darin gestanden hatte, konnte mich an jedes einzelne Wort erinnern.


    Wenn Deandra mich verstand oder auch nur meinen Wunsch, so man es denn so nennen wollte, respektierte, würde sie gehen. Darauf vertraute ich, darauf hoffte ich. Und tstsächlich, nachdem es eine Weile still war, hörte ich erneut leise Schritte, die jedoch nicht in gerader Linie die Tür anstrebten, sondern im Raum umher gingen. Das lauschen lenkte mich etwas ab, und begierig klammerte ich mich an diesen unsichtbaren Strohhalm, der nach außen hin als Interessenlosigkeit und Ignoranz gewertet werden würde, was mir nur recht war. Dann bewegte sich Deandra erneut auf mich zu, ein kühler Lufthauch streifte mich, dann legte sich eine kühle Decke über mich, die sich rasch erwärmen würde. Ich schätzte diese wortlose Geste mehr als jedes Wort des Trosts, dass Deandra hätte sprechen können. Ich dankte ihr im Stillen und gewann sie nur noch mehr lieb für den Respekt, den sie meinem Wunsch zollte, auch wenn ich ihn grob dargelegt hatte. Äußerlich blieb alles unverändert. Ich regte mich nicht, auch nicht, als Deandra die Decke feststeckte und mir über den Kopf strich wie einem kleinen Jungen, der hingefallen war und nicht mehr aufstehen mochte. Seltsamerweise fühlte ich mich aber genau so: klein und kraftlos. Ach auf ihre Worte hin entgegnete ich nichts. Aufsuchen würde ich sie nicht, mir stand der Sinn vorerst nach anderem.


    Ich wartete, bis ihre Schritte verklungen waren, dann drehte ich mich auf den Rücken und zupfte die Decke zurecht. Stellenweise war sie bereits nass, da der Boden durch meine wütende Aktion sozusagen schwamm. Ich starrte an die Decke und dachte an nichts. Vor dem inneren Auge lief ein eigenwilliger Film ab, der mich mit Vater und Mutter zeigte, in glücklichen Tagen, beim Ballspiel, beim Ratsuchen, bei Lob und bei Freude. Ich verschlos die Augen.


    Eine endlose Zeit später erhob ich mich langsam, schwach wie ein alter Mann, träge wie ein Stück Blei. Das Tuch, inzwischen vollends klamm, warf ich mir notdürftig über, dann verließ ich das Bad und steuerte mein Zimmer an. Dass mich dabei skeptische wie besorgte Blicke verfolgten, war mir gleich. Ich spürte, wie Sklaven mich musterten und sich wohl fragten, ob ihr Herr den Verstand verloren haben musste. Nur wenig später erreichte ich mein cubiculum, welches im ersten Stock der villa gelegen war, ließ das Tuch zu Boden gleiten und zog eine weiche Decke vom Bett. Die Vorhänge wurden zugezogen, die Decke um mich geschlungen. So legte ich mich auf mein Bett. Mir war immer noch kalt, doch fror ich inzwischen nicht mehr so wie im Bad, ehe Deandra gekommen war. Ich starrte an den Himmel des Bettes und versuchte zu begreifen, dass ich von nun an sui iuris war, frei, und zugleich um so vieles ärmer.

  • Die Schatten wurden länger. Schatten deshalb, weil selbst durch die dicken Vorhänge und an deren Seiten vorbei noch Licht ins Zimmer fiel. Ich war nicht eingeschlafen, sondern immer noch wach. Inzwischen fror ich auch nicht mehr. Allmählich sickerte die Dunkelheit hinein, und mit ihr wurde es auch allmählich Essenszeit. Nur wenig später klopfte es an der Tür. Ich antwortete nicht, doch Arsinoe trat trotzdem ein. Zum Öffnen der Tür verwendete sie den Ellbogen, zum Schließen ihren Fuß. Sie balancierte ein Tablett, von dem es herrlich duftete. Scheinbar hatte sich die Nachricht schnell herumgesprochen, dass ich keinerlei Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden, und so verzichtete man auf meine Anwesenheit unten im Speisezimmer und schickte mir das Essen aufs Zimmer.


    Arsinoe warf einen besorgten Blick auf mich, steuerte den kleinen Beitisch an, stellte ihre Fracht darauf ab und lächelte mich zuversichtlich an. Ich drehte mich weg. "dominus, es machen sich alle schreckliche Sorgen. Wenn du doch nur erzählen würdest, was dich-" "Ich habe keinen Hunger. Geh", unterbrach ich die Sklavin. Einen Moment verhielt sie, dann wandte ich ihr den Blick zu und sie senkte den Kopf. "Sehr wohl", sagte sie. Arsinoe war stets gehorsam und folgsam, das mochte ich an ihr, deswegen hatte ich sie gekauft. Sie ging zur Tür, konnte es jedoch nicht lassen, vor dem Schließen noch etwas zu sagen. "Bitte versuche, etwas zu essen, Herr." Dann schloss sich die Tür und ich war wieder allein.


    Obwohl das schwer beladene Tablett ganz vorzügliche Düfte aussandte, verspürte ich keinen Hunger in dem Knoten, der einst mein Magen gewesen war. Arsinoe indes machte sich nun wirklich Sorgen, denn wenn es soweit war, dass ich selbst die beste Küche verschmähte, so war wirklich etwas im Argen und es war nicht nur eine Laune von mir. Deswegen machte sich die Sklavin auch auf, um der Köchin Bericht zu erstatten.

  • Helena war kurz davor der Sklavin entgegen zu gehen, doch gerade als sie sich dazu entschloßen hatte hörte sie eilige Schritte auf der Treppe. Mit einer leicht dampfenden Schüssel in der Hand erreichte die Sklavin das Ende der Treppe und Helena warf einen prüfenden Blick auf die Esskastanien. Sie wusste nicht, ob diese kleine Geste Marcus aufmuntern würde, aber sie konnte sich zumindest noch gut daran erinnern, dass er sie auf dem Markt mit genuß gegessen hatte. Wenn er im Moment nichts Handfestes zu sich nehmen wollte, so könnte ihm doch die Maroni schmecken. Auf die Frage der Sklavin hin nahm Helena ihr die Schüssel ab und lächelte kurz.


    "Danke, aber ich brauche deine Hilfe jetzt nicht mehr. Obwohl, mein Zimmer müsste aufgeräumt werden. Geh Marina dabei zur Hand. Bis ich heute schlafen gehe sollte erledigt sein."


    Mit diesen Worten und den Esskastanien machte Helena sich auf den Weg zu Marcus. Sie wusste von der Sklavin bis jetzt nur, dass er sehr schlecht gelaunt war und irgendetwas passiert sein musste. Möglicherweise war ihre Mühe umsonst, aber sie wäre nicht seine Cousine, wenn sie es nicht wenigstens versuchen würde. Ihr Herz klopfte ein wenig schneller, als die Tür zu seinem Cubiculum in Sicht kam. Kurz davor blieb sie noch einmal stehen und atmete tief durch. An sich konnte ja nichts passieren. Schlimmstenfalls würde Marcus sie wegschicken, ohne ihr die Chance zu geben auch nur ein Wort zu sagen. Die Schüssel auf einer Hand balacierend klopfte sie leise an.


    "Marcus? Ich bin es, Helena. Bitte, lass mich hinein!"


    Den Blick starr auf das Holz gerichtet überlegte Helena, was dahinter gerade vorgehen mochte. Auch wenn die Sklavin nicht ausgesprochen hatte, wusste Helena nur zu gut was sie gemeint hatte. Innerlich machte sie darauf gefasst, dass sämtliche Inneneinrichtung zerlegt war und sie Marcus mitten im Chaos antreffen würde. Mit klopfendem Herzen wartete Helena auf eine Antwort. Er musste einfach mit ihr reden. Egal was passiert war, mit irgendjemandem musste man sich austauschen. Deandra hatte er ja nun schon weggeschickt...

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  • Die Sklavin verneigte sich kurz und tat dann wie ihr gehießen. Schon bald erklang fröhliches Geplapper aus dem Zimmer der Helena, als die beiden Sklavinnen geschäftig Kleider ordneten, Stühle rückten und sonstige Aufräumarbeiten verrichteten.


    In meinem Zimmer allerdings war es ruhig. Ich hörte nichts und wurde auch nicht gehört. Wie auch, saß ich doch immer noch in meinem Bett - das köstliche Essen in Sichtweite, den leckeren Geruch des Bratens in der Nase, doch mit dem Herzen in Mantua und den Gedanken im Nebel. In der Stille und Abgeschiedenheit schien das Klopfen ein Feind zu sein, etwas, das hier fehl am Platze war und laut dröhnend die Ruhe durchdrang. Ich wandte den Kopf und fixierte die Tür. Lethargisch versuchte ich, durch das verzierte Holz hindurch den Klopfenden zu erkennen, was natürlich nicht gelang, doch das nahm ich gar nicht wahr. Ich realisierte nicht einmal, dass das Klopfen eine Antwort meinerseits erforderte. Kurz darauf drang Helenas Stimme durch die Tür. Verklärt blinzelte ich, rührte mich aber sonst nicht weiter. Als einen Moment nichts geschah, wanderte meine Blickrichtung langsam wieder nach links und von der Tür weg. Ich war gerade von meiner Reise wieder in Mantua angekommen, meine Mutter herzte mich und mein Vater sagte mir, dass er stolz sei auf seinen Sohn. Den Siegelring, den Onkel Cicero mir vermacht hatte, trug ich immer noch am Finger. Er erschien mir nun schwer und kalt, ein Überbleibsel längst erloschener Zeiten. Die Vergangenheit machte mein Denken träge, lähmte jegliches Gefühl bis auf Schmerz, Enttäuschung und das gefühl, versagt zu haben.

  • Es kam keine Antwort. Helena starrte ihrerseits weiterhin auf die Tür, die sich nicht öffnen wollte und die Unruhe in ihrem Inneren wurde stärker. Sie wusste, dass Marcus da sein musste. Immerhin hatte die Sklavin ihr gerade noch erzählt, dass sie mit ihm gesprochen hatte. Helena konnte sich nicht vorstellen, dass er innerhalb der wenigen Minuten sein Zimmer verlassen hatte. War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Helena schluckte und rang mit sich selbst. Es war unhöflich ein Zimmer zu betreten ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Doch mittlerweile machte sie sich wirklich Sorgen und Marcus würde das mit Sicherheit verstehen.


    Helenas Hand ruhte einen Moment über dem Riegel, der die Tür verschloß, bis sie sich einen Ruck gab und sie vorsichtig öffnete. Als Erstes bemerkte sie, dass die Inneneinrichtung heil war. Und es war recht dunkel. Mittlerweile war der Abend hereingebrochen und niemand hatte eine Kerze angezündet. War vielleicht doch niemand da? Doch dann bemerkte Helena eine leichte Bewegung auf dem Bett. In dem dämmrigen Licht erkannte sie nur einen Schemen, aber es musste sich um Marcus handeln. Wieder stockte sie in ihrer Bewegung und ihr wurde ein wenig mulmig. Warum saß er im Dunkeln? Dann jedoch trat sie ein Stück vor, auf das Bett zu und versuchte etwas Genaueres zu erkennen. Marcus hatte sich nur in eine Decke gewickelt und sein Blick gefiel ihr überhaupt nicht. Sie meinte Verzweiflung zu erkennen und Schmerz. Großen Schmerz.


    Die Sorge musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, als sie an die Kante des Bettes trat. Da er bis jetzt noch nichts gesagt hatte wusste Helena nicht ob ihm ihre Anwesenheit unangenehm war. Sie leiß sich zwar auf der Bettkante nieder, sorgte aber dafür, dass sie ihn nicht berührte. Helena wusste, dass jeder Mensch anders auf Schmerz reagierte. Manche wollten getröstet und umarmt werden, andere konnten in diesem Moment Berührungen nicht ertragen. Sie wollte Marcus auf keinen Fall bedrängen. Ihr Blick fiel auf das Tablett mit den Köstlichkeiten, das die Sklavin auf den kleinen Beistelltisch gestellt hatte. Plötzlich kam sie sich mit ihren Esskastanien idiotisch vor, doch nun gab es kein Zurück mehr.


    "Erinnerst du dich an unseren Einkaufsbummel auf dem Markt? Wenn ich mich richtig erinnere konntest du von den Maroni gar nicht genug bekommen."


    Helenas Stimme klang sanft und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Da der kleine Tisch belegt war hielt sie die Schale in den Händen, in der Hoffnung, dass der Duft bis zu Marcus durchdringen würde. Sie fragte ihn absichtlich nicht was passiert war. Natürlich war sie neugierig und besorgt, aber sie würde ihn nicht drängen. Falls er darüber reden wollte war sie da, falls nicht sollte er sich von ihr nicht dazu gezwungen fühlen. Helena bemühte sich nicht dorthin zu starren, wo die Decke einen schmalen Einblick auf seine nackte Haut zuließ. Die Situation kam ihr seltsam irreal vor. Jetzt konnte sie nichts weiter machen als abzuwarten.

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    Einmal editiert, zuletzt von Aurelia Helena ()

  • Obwohl keine Aufforderung dazu erklang, öffnete sich schließlich die Tür und ließ die Helligkeit des Flures ein, der von kleinen Öllampen erhellt wurde, damit man sah, wo man seine Füße hinsetzte. Eine dunkle Gestalt hob sich vor dem hellen, länglichen Rechteck ab, und wie ich eben schon an der Stimme erkannt hatte, war es Helena, die sich in mein vorübergehendes Reich der Schatten wagte. Die Tür schloss sich leise. Irgendetwas trug sie, etwas Bauchiges. Und obwohl ich momentan keinerlei Interesse hegte, mich zu unterhalten oder sie auch nur länger als einige wenige Augenblicke in meiner Nähe zu dulden, wuchs dennoch die Neugier in mir, was sie da wohl in den Händen hielt.


    Kaum war die Tür geschlossen, trat sie näher, durchschritt den schmalen Streifen silbrigen Mondlichts, der dennoch durch die zugezogenen Vorhänge fiel. Ihr Gesicht verriet mir, was der Klang ihrer Stimme anschließend bestätigte: Sie sorgte sich. Vermutlich hatte sie mit Deandra gesprochen, schlussfolgerte ich, und weil ich sie fortgeschickt hatte, sollte nun meine Cousine ihr Glück versuchen. Ich sah an die getünchte Wand, als sie sich zu mir setzte. Sie machte allerdings nicht den gleichen Fehler wie Deandra und verlangte zu wissen, was geschehen war. Auch berührte sie mich nicht. Und während sie sich setzte, stieg mir der Geruch von Geröstetem in die Nase. Helena war in gewisser Weise sonderbar, das stellte ich in diesem Moment nicht zum ersten mal fest. Ihre Stimme klang beruhigend, kein Stück Sorge schwang darin mit. Sie lächelte mich sogar an, und ich erinnerte mich an eine Krankheit, der ich in Mantua anheim gefallen war, und Mutter hatte mich so gepflegt wie Helena es nun tat. Deandra und Helena waren zwei Frauen verschiedener Gemüter, keine weniger liebenswert als die andere, und doch sehr verschieden. Vielleicht lag es daran oder an der Art, wie Helena sich, gegensätzlich zu Deandra, um mich kümmerte, dass ich den Kopf wandte und aufmerksam ihr vom Dunkel umgebenes Gesicht betrachtete. Maronen also, das erklärte den Geruch. Eine liebe Geste, fand ich. Und noch besser war, dass sie mich nicht bedrängte. Ich wollte zwar immer noch lieber allein sein, doch wenn sie mich nicht ausfragte, konnte ich ihre Anwesenheit doch ertragen.


    Einige Zeit verging, in der ich nur dasaß und sie ausdruckslos ansah. Dann senkte ich den Blick auf die Schüssel, hob die Hand und nahm mir eine Marone. Warm barg ich sie in der Hand. Ich dachte nach. Helena bot gegenüber Deandra zwei weitere entscheidende Vorteile: Sie hatte keinen Grund, den Brief zu hassen, der ihr mitteilte, dass ihre Eltern ins elysium gegangen waren. Sie brauchte daher keinen Trost wie Deandra. Vielleicht hatte ich sie deswegen fortgeschickt...weil ich nicht imstande war, sie zu trösten, weil es mir selbst schlecht ging. Der zweite Vorteil war, dass Helena schon Erfahrung gesammelt hatte, was den Tod eines Elternteiles anbelangte. Während ich nachdachte, kühlte die Marone allmählich aus. Hatte ich vorher noch das rundliche braune Etwas angestarrt, hob ich nun den Blick und suchte Helenas. "Sag mir, denkst du oft an deine Mutter?" wollte ich wissen. So leise war meine Stimme, dass ich flüsterte. Angst wie Pein schwangen in ihr mit.

  • Eine Weile lang reagierte Marcus überhaupt nicht. Helena fragte sich schon, ob er sie überhaupt gehört hatte. Doch dann rührte er sich und drehte sich langsam zu ihr um. Sie war erschrocken über den Ausdruck in seinen Augen, doch sie bemühte sich das Lächeln nicht zu verlieren. Marcus schwieg auch weiterhin und Helena begann sich langsam unwohl zu fühlen. Sie kannte ihn nicht sehr gut, aber sie wusste, dass er eigentlich sehr redseelig war. Das er sie nun einfach nur anstarrte machte sie nervös. Helena überlegte gerade, ob sie nicht vielleicht soch besser wieder gehen sollte, als er eine Hand hob und eine der Esskastanien nahm. Ihre Augen leuchteten kurz erfreut auf, denn obwohl er sie nicht aß war es doch ein kleiner Sieg für sie. Und er schickte sie auch nicht hinaus, wie er es bei Deandra getan hatte.


    Die Frage, die er ihr dann allerdings stellte kam so überraschend, dass Helena scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, zum Teil aufgrund der Erinnerungen, die plötzlich über sie hineinbrachen, zum Anderen da Marcus Stimme so voller Angst war. Diesmal war sie es die eine Weile schwieg, die Schüssel fest umklammert. Es war schon Jahre her, dass ihre Mutter an Wundbrand gestorben war. Ein harmloser kleiner Schnitt war ihr zum Verhängnis geworden. Ihre Mutter war eine stolze und starke Frau gewesen. So stolz, dass sie erst geklangt hatte, als es schon zu spät war. Auch die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen. Helena senkte die Augen auf die Bettkante und blinzelte ein paar Mal. Sie bemühte sich nicht zu oft an ihre Mutter zu denken, doch diesmal hatte sie die Mauer um sich herum nicht aufbauen können. Dafür war die Frage viel zu plötzlich gekommen.


    "Natürlich denke ich oft an sie. Auch wenn ich mich bemühe diese Gedanken von mir fern zu halten. Es tut weh, weißt du. Aber Nachts, kurz vor dem Einschlafen ist man fast wehrlos gegen die Erinnerungen. Und gegen die Träume kann man eh nichts tun." Helena stockte und sah dann zu Marcus hoch. Das Lächeln war verschwunden, doch in ihren Augen lag ein warmer Glanz. "Aber es wird besser, Marcus. Anfangs erinnert man sich nur an die letzten schlimmen Tage. Doch dann erinnert man sich auch an die schönen Ereignisse. Ein zufälliger Duft oder eine Blume, ein Lachen...die Auslöser sind meistens recht einfach. Die Jahre zusammen mit meiner Mutter überwiegen ihre letzten Tage. Und es gibt soviel Schönes an das man denken kann." Erneut verstummte Helena und seufzte leise. Es dauerte einige Augenblicke, bevor sie den Mut aufbrachte die nächste Frage zu stellen. Wieso fragst du mich das?"


    Den Grund dafür konnte sie sich mittlerweile gut vorstellen. Seine Frage in Verbindung mit der Nachricht, dass es seiner Mutter schlecht ging. Von Anfang an, als sie von der Sklavin von Marcus Benehmen gehört hatte, hatte sie daran gedacht. Aber sie hatte gehofft, dass es einen anderen Grund gab. Helena hoffte nur, dass sie sich nun nicht zu weit herausgewagt hatte. Sie wollte Marcus nicht verletzten, sie wollte ihm helfen, soweit ihr das möglich war. Die Hand, die die Marone hielt lag ganz in ihrer Nähe. Wie gerne hatte Helena ihn berührt, aber sie hielt sich zurück. Wenn er ihre Nähe brauchte, würde er auf sie zukommen.

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  • Helena weilte zwar kaum mehr als drei Minuten in meinem Zimmer, und doch kursierten schon die heißesten Gerüchte in der villa, ja, sie waren sogar schon bei Deandra angekommen, doch davon wusste ich nichts.


    Es schien meine Cousine zu freuen, dass ich träge nach der Kastanie griff, ohne sie jedoch zu schälen und zu essen, sondern nur, um sie in der Hand zu halten und mich an der Wärme zu erfreuen, die leider nicht in mein Innerstes vordringen konnte. Ob sie wusste, dass ich Deandra aus dem Bad geworfen hatte? Ob sie den Grund ahnte, aus dem ich mich meiner Verlobten noch nicht anvertrauen konnte? Wie konnte ich Deandra trösten, wenn ich selbst schlaff und ohne Hoffnung war? Ich würde nicht der sein können, den sie brauchte, und ich war niemand, dem in solchen Situationen ein panisches, krampfhaftes Aneinanderklammern großartig half. Nein, dann war ich lieber allein, wie ich es ohnehin gewohnt war. Alleinsein half am besten. Manchmal half aber der Rat eines weisen Menschen noch besser, und in Helena sah ich im Moment eine Weise, denn sie hatte Erfahrung mit dem Tod eines Elternteils, sie konnte mir sagen, ob die Selbstvorwürfe irgendwann aufhören würden, die ich mir machte, ob die Wut versiegte und die Trauer sich mit ihren kriechenden Fingern jemals wieder von der Seele zurückzog.


    Mir war durchaus bewusst, dass ich einen wunden Punkt berührte mit meiner Frage. Dennoch musste ich die Antwort wissen. Mit einem ebenso aufmerksamen wie ausdruckslosen Gesicht hörte ich Helena zu. Vor dem Schlaf hatte ich auch Angst, vielmehr vor den Träumen, die mich heimsuchen würden. Helena wirkte bedrückt, während sie sprach, aber sie wirkte nicht so, als würde sie sich die Schuld geben an dem, was passiert war. Es gibt so viel Schönes, an das man denken kann. Mir wollte aber gar nichts einfallen, alles war grau und traurig. Und dann stellte sie die Frage nach dem Warum. Ich seufzte leise und sah fort, sagte einen Moment gar nichts und hielt der Leere in meinem Inneren stand. Als ich antwortete, war meine Stimme blechern und kaum zu vernehmen. Mein Blick ruhte auf der Maronenschale, und ich hob während des Sprechens eine Hand, um gedankenverloren über die warmen Kastanien zu streichen. "Es gibt nichts Schönes mehr, an das ich denken kann. Alles ist kalt und lieblos, der Brief hat meine Familie zerstört, alles, was mir etwas bedeutet hat." Natürlich stimmte das nicht, denn nicht nur meine Eltern, sondern auch Deandra, Helena, der Rest der Familie, gute Freunde und Bekannte bedeuteten mir etwas, genauso wie einiges anderes. Aber es ist den Menschen eigen, dass sie in traurigen Stunden bar jeder Hoffnung sind und stets nur das Schlechte sehen. Ich machte da keine Ausnahme, und ich ließ den Kopf hängen.

  • Es ging also wirklich um seine Mutter. Zwar hatte Marcus das nicht direkt erwähnt, aber der Brief von dem er sprach konnte nur das bedeuten. Er hatte Nachricht über den Tod seiner Mutter bekommen. Helena spürte wie sich ihr Herz erneut zusammenkrampfte. Erinnerungen durchfluteten sie. Sie dachte an den Moment an dem man ihr gesagt hatte, dass ihre Mutter von ihnen gegangen war. Wie gut konnte sie Marcus Verhalten in diesem Moment nachvollziehen. Auch sie war untröstlich gewesen und hatte sich tagelang in ihrem Zimmer eingegraben. Helena versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Mittlerweile war sie über den Tod ihrer Mut einigermaßen hinweg. Zudem war sie hier um Marcus zu helfen und dabei waren ihre eigenen Gefühle nebensächlich. Dir richtigen Worte zu finden war schwierig, zumal Helena noch nie in so einer Situation gewesen war. Sie fühlte sich hilflos und beschloß schließlich einfach ihrem Herzen zu folgen.


    "Es tut mir sehr leid, Marcus. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Aber durch den Brief ist dein Leben nicht zu Ende, auch wenn es im Moment für dich so aussieht. Es gibt immer noch Menschen, die dich lieben und denen du viel bedeutest."


    Helena verstummte und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht war es doch nicht so ratsam nur auf das eigenen Herz zu hören. Sie wollte ihn nicht auch noch mit ihren eigenen Problemen belasten. Trotzdem fiel es ihr unheimlich schwer Marcus so zu sehen. Sie mochte seine offene und fröhliche Art. Momentan war er nur ein Schatten seiner Selbst. Da er seinen Blick gesenkt hatte konnte sie ihn ohne Gefahr mustern. Der Glanz war aus seinen Augen verschwunden und hatte einer Verzweiflung Platz gemacht, die sie nur zu gerne wieder vertreiben würde. Vorsichtig und unendlich langsam hob sie eine Hand und schloß sie sanft um seine, die die Esskastanie hielt. Noch immer wusste sie nicht, wie er auf eine Berührung ihrerseits reagieren würde. Sie hatte das Gefühl, dass Marcus ganzer Körper momentan unter Spannung stand und wenn er es nicht schaffte sich zumindest ein wenig zu entspannen, würde er über kurz oder lang zusammenbrechen. Eigentlich war sie nicht die Richtige um ihm beizustehen. Das müsste Deandra tun, aber aus irgendeinem Grund wollte er sie nicht sehen. Stattdessen duldete er ihre Gegenwart und vielleicht sogar ihre Berührung.


    "Du darfst dir nicht die Schuld an dem geben was passiert ist. Deine Mutter war krank, schwer krank und du hättest ihr nicht helfen können, selbst wenn du bei ihr gewesen wärst. Ich weiß, dass ist schwer zu verstehen und noch viel schwerer zu akzeptieren. Das du trauerst ist verständlich, aber gib dich deswegen nicht auf. Wir brauchen dich! Ich brauche dich..."


    Ihre Stimme war bei den letzten Worten so leise geworden, dass sie noch nicht einmal sicher war, dass Marcus sie gehört hatte. Ihr Daumen fuhr zärtlich über seinen Handrücken und sie versuchte etwas von der Kraft, die sie in sich verspürte auf ihn zu übertragen. Immer noch war sie unsicher, was Marcus nun von ihr erwartete. Aber wahrscheinlich erwartete er überhaupt nichts. Immerhin war sie zu ihm gekommen und nicht umgekehrt. Trotzdem wünschte Helena sich, dass er ihr wenigstens ein Zeichen geben würde, dass er sich über ihre Anwesenheit freute.

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  • Helenas Worte des Mitleids wollte ich nicht hören. Egoistisch, wie ich in diesem Moment war, dachte ich mir, dass sie es ohnehin nicht so schlimm getroffen hatte wie mich. Ihr war nur die Mutter genommen worden, mir mit einem Schlag beide Eltern. Sie konnte da gar nicht mitreden. Mein Gesicht verfinsterte sich zusehends, aber ich sagte nichts dazu. Ein verschwindend geringer Teil meiner selbst ermahnte mich, die Logik nicht zu vergessen, die deutlich gegen diese Gedanken sprach und sie als ungerecht anprangerte, aber mir war die Logik schlicht gleichgültig. Hier war sie fehl am Platze. Es gibt immer noch Menschen, die dich lieben und denen du viel bedeutest. Das mochte ja so sein, aber eben zwei besondere Menschen, dich ich liebte und verehrte, die mir viel bedeuteten - die waren nun plötzlich weg.


    Ich presste meine Kiefer so fest aufeinander, dass die Backenzähne leicht schmerzten. Helena, Prisca, Deandra, Cotta, Lupus und die kleine Sisenna, sie sahen in mir...ich wusste nicht, was sie in mir sahen. Sie respektierten mich, vielleicht achteten sie mich auch in besonderer Weise oder sahen gar zu mir auf, aber sie konnte niemals meine Eltern ersetzen. Ich hob den Blick und sah Helena eine Weile undurchschaubar an. Mein Blick ruhte zwar auf ihr, doch ich sah wie durch sie hindurch, blinzelte und betrachtete dann den Ausdruck ihrer Augen. Mitleid, das ich nicht wollte. Gerade holte ich Luft, um etwas Entsprechendes zu erwidern, da spürte ich ihre Hand auf der meinen und sah verdutzt herunter. Ganz klar: sie wollte mich trösten. Mit der Geste hatte sie mir den Wind aus den Segeln genommen und ich vergaß, was ich eigentlich hatte sagen wollten.


    Wieder war es Helena, die nun das Wort ergriff. Ohne es zu wissen, ließ sie mit dem Gesprochenen wieder die Verzweiflung aufkeimen. Ich fiel ihr halb in die Worte, die ich alle gehört hatte, obwohl Helena immer leiser geworden war. Der Daumen, der über meine Haut strich, schien eine ätzende Spur zu hinterlassen, und während ich sprach, entwandt ich mich ihrem lockeren Griff. "Es IST meine Schuld! Wäre ich dort gewesen, hätte ich zumindest ihn abhalten können, Mutter freiwillig zu folgen! Er hat mich allein gelassen, Helena! Sie haben mich BEIDE allein gelassen!" donnerte ich. Wütend warf ich die Marone, die ich bis eben gehalten hatte, quer durch den Raum. Sie erreichte die Wand, prallte daran ab und kullerte über den Boden. Heftig atmend registrierte ich Helenas Gesichtsausdruck und verstummte. Nun wieder ruhiger, sah ich sie an. "Niemand braucht mich hier, Helena, du nicht, Deandra nicht, Prisca nicht. Ich habe immer geglaubt, stark zu sein im Geist und einen klaren Verstand zu haben, aber das stimmt nicht. Ich bin ein Niemand, ein Möchtegern! Ich werde dem Erbe niemals gerecht werden, das mein Vater mir so feige hinterlassen hat, selbst wenn ich alles daransetze. Vielleicht sollte ich alles hinwerfen, in den Süden ziehen und Tauben züchten." Melancholisch endete ich und zuckte mit den Schultern. Da fiel mir Deandra erneut ein. "Und Deandra verdient jemanden, der besser ist, nicht mich. Ich kann ihr nicht sagen, was passiert ist. Das würde sie am Boden zerstören und ich kann sie jetzt nicht trösten..." Verzagt schüttelte ich den Kopf, verzweifelt suchte ich nach einem Plan in meinem Kopf, dem ich folgen konnte, aber da war nichts außer Enttäuschung und Schuld.


    Diesmal war ich es, der die hand meiner Cousine ergriff und sie freudlos anlächelte. "Es ist lieb, dass du gekommen bist, aber du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das. Ich muss meinen Weg wiederfinden, und das kann ich nur allein. Vielleicht finde ich ihn auch nicht, nie wieder. Es ist so viel, was man von mir erwartet, Helena. Ich soll die Familie zusammenhalten, mich um alles kümmern, ich soll für jeden da sein, jedem einen guten Rat geben, jeden leiten, auf jeden aufpassen, jedem ein Vorbild sein und dabei noch ich selbst bleiben und meinen eigenen Weg gehen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, allein. Vielleicht ist die Bürge zu groß, das Vermächtnis meiner Eltern. Ich bin noch nicht mal dreißig", sagte ich und schüttelte den Kopf, Helena immer noch anschauend.

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