Angespannt blickte und lauschte ich noch immer in die Richtung, in der es nun an Marcus war, der kleinen Sisenna beizubringen, dass ihre Eltern nicht, nie wiederkommen würden. Die Götter schienen in diesem Moment ihren Segen gegeben zu haben, denn mein Vetter fand, so sah jedenfalls ich es, sehr einfühlsame Worte, mit denen er Sisenna das für sie kaum Fassbare zu erklären versuchte. Nun betete ich - wieder einmal - darum, die Götter möchten Sisenna die Kraft geben, die Wahrheit langsam zu fassen und irgendwann einmal zu verarbeiten. Einmal sah Corvinus mich währenddessen fragend an; dies war natürlich kein Wunder, denn vor lauter puls-Klamauk und Kyniker-Scherz war ich ja noch gar nicht dazu gekommen, ihm oder jemand anderem der "Germanen" zu erklären, wie Sisenna eigentlich die Nachricht vom Tod ihrer Eltern aufgenommen hatte: nämlich eigentlich gar nicht, regungslos; sie hatte es einfach nicht wahrhaben wollen. Im Stillen machte ich mir heftige Vorwürfe, dass ich in dieser Angelegenheit nicht doch noch mit Brix einen Brief den ankommenden "Germanen" entgegengeschickt hatte, sondern mich ganz hatte gefangen nehmen lassen von diesem - zweifellos gelungenen - Scherz, auf Kosten Sisennas. Nun blieb mir nur, auf Marcus' fragenden Blick pantomimisch zu reagieren: Ich führte meine rechte Hand an mein Ohr und meinen Kopf, um zu signalisieren, dass Sisenna die Nachricht vernommen habe. Dann führte ich meine Hand an meine Brust und meinen Bauch und schüttelte dabei meinen Kopf; dies sollte Corvinus anzeigen, dass Sisenna die Nachricht nicht eigentlich erfasst hatte.
Ähnlich ans Herz wie die Reaktion Sisennas ging mir nun aber die Geschichte, in die Deandra ihr Leben und ihre derzeitigen Gefühle kleidete. Mein dreijähriger Aufenthalt in Athen bedingte es, dass einiges mir sogar ganz neu war. Vor allem aber nötigte mir die Offenheit, mit der sie nun uns allen ihre Gefühlswelt eröffnete, großen Respekt ab. Gerne hätte auch ich jetzt zu ihr etwas gesagt, doch treffendere Worte, als sie mein Bruder fand, hätte ich sicher nicht aussprechen können. Da sich Deandra jetzt auch direkt an ihn wandte, hüllte ich mich vollends in Schweigen und versuchte nur, ihr mein Mitgefühl durch meinen Blick mitzuteilen. Ich hoffte sehr, dass sich mir irgendwann noch andere Ausdrucksmöglichkeiten dazu bieten würden.
Je länger ich in diesem Schweigen über Deandras Geschichte nachdachte, je länger ich in mich hineinhorchte, desto mehr spürte ich, dass ich ihr Gefühl der Verlassenheit und Fremdheit nachempfinden konnte. Gewiss hatte ich einige lange und auch befriedigende Gespräche mit meinem älteren Bruder geführt, doch kam ich mir dabei vor wie in unserer Kindheit: immer ein wenig linkisch, immer ein wenig langsam, immer ein wenig zu ernst. Und so sehr ich mich auch darüber freute, nun nach all den vielen Jahren die übrigen Mitglieder meiner gens wiederzusehen, so meinte ich auch jetzt schon wieder zu spüren, dass die gleichen Makel sich auch ihnen gegenüber an mir zeigten. So seltsam es klang, aber sicherer als in meiner eigenen Familie würde ich mich möglicherweise eines Tages auf der rostra fühlen oder gar im Feld.
Bei all diesen Gedanken tat es gut, dass Lupus, der sie zu erraten schien, nun auf mich zu schritt und mich gar in seine Arme nahm. Gerne erwiderte ich seine Aktion und sagte dann lächelnd:
"ich danke dir Lupus, aber großer Dank gebührt wirklich dir, und zwar nicht nur für das Schauspiel und für das Mahl. Auch für deine wahren Worte über den Zusammenhalt unserer Familie, für dein Bemühen, diesen zu stärken, und für deine Einfühlsamkeit. Es ist wirklich gut, dass wir hier alle wieder zusammen sind. Und damit meine ich wirklich: alle!"