Am Gebetsfelsen

  • An Feiertagen wie den Parentalia war Witjon auch nach so vielen Jahren seines Lebens immer noch zwiegespalten. Zwar brachte er den Laren der Casa Duccia regelmäßig Opfergaben dar. Aber seinen Ahnen gedenken, dafür erschien ihm der Hausaltar nicht passend. Immerhin konnte er hier zwischen Ahnen und Hausgeistern unterscheiden. Komplizierter wurde es, wenn er großen römischen wie germanischen Göttern opferte und sich nicht entscheiden konnte, ob und wo er Iuppiter oder Wodan, Venus oder Freya, Iuno oder Frigg, Teiwaz oder Mars opfern sollte. In manchen Fällen hatte er sich für den römischen Tempel entschieden, vielfach ging er jedoch hinaus in die Natur, zu geweihten Hainen, mystischen Opferfelsen oder umnebelten Quellorten, wo er den Göttern seiner Vorväter seine Dankbarkeit bezeugte oder göttliche Hilfe erbat.


    Um jene Ahnen zu ehren, deren Grabstätten Witjon entweder unbekannt oder für ihn unerreichbar waren, hatte er heute den Gebetsfelsen in der hinterletzten ruhigen Ecke des Gartens aufgesucht, um Zwiegespräch mit jenen zu halten, deren Rat und schützende Hand er sich so oft erhoffte, wenn er in Schwierigkeiten war. Witjon stellte einen großen Krug Bier und eine randvoll gefüllte Schale Leckereien vor dem Felsen in den Schneematsch und kniete sich dann hin - unter leichtem Ächzen ob seiner alten Tage und nicht gerade glücklich über die augenblicklich durchnässte Hose an Knien und Schienbeinen. So verharrte er einige Zeit lang in stillem Gebet. Dabei wandte er sich an Wolfrik selbst, den Urvater der Sippe wie Witjon sie kannte. Weiterhin richtete Witjon seine Gebete an seinen Vater Evax und auch an seinen Großvater Audaod, den er jedoch nie kennen gelernt hatte. Und dann musste Witjon an seine verstorbene Frau Callista denken. Doch ihrer wollte er später seine Sinne zuwenden, an ihrem Grab. So konzentrierte er sich wieder auf seine Ahnen und hielt Zwiegespräch, versank in Meditation und spürte bald seine Beine nicht mehr, während seine Gedanken weiter wandelten, bis er schließlich seine Bitten vorgetragen, Fragen gestellt und gewisse grob umrahmte Antworten erhalten hatte, die ihm eine Idee von den zu treffenden Entscheidungen geben würden. So erhob er sich mit einigen Problemen und lahmen Beinen, ließ die Opfergaben an Ort und Stelle und taumelte zurück zur Casa, wo er sich im Kaminzimmer schwerfällig auf einen der Sessel plumpsen ließ und sich erst einmal aufwärmen musste.

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