De profundis | Der Fluch der Unterirdischen - Rutger, Gracchus

  • Zischelnd rüttelte der Wind an den Fensterläden. Die Sklavenkammer war voll Nacht. Auf dem kargen Strohlager wälzte sich unruhig der Germane, gefangen in einem Strudel spukhafter Bilder.



    Hoch am Himmel die Sonne. Blendend, gleissend. Vor ihm: das Kreuz. Einen scharfen Schatten werfen die Balken über ihn. Der dunkle Umriss dort oben, menschenförmig, ist ein Wimmeln dunklen Gefieders, blanker Tieraugen und scharfer Schnäbel. Gierig reissen die Raben Fleischbrocken aus dem Kadaver, zerren an Sehne bis sie reissen, trinken die glasigen Augen. Langsam tritt er näher, bis zum Fuße des Kreuzes, ritzt Runen in den rissigen Balken, bis sie einen Namen formen: Rutger, des Thidrik Sohn. Denn der ist der Tote dort oben.


    Ein Wasserfall. Spitze Klippen, glitschig und trügerisch, umtost von den Wassermassen. Die Luft ist erfüllt von einem Schleier der Gischt, und zwischen diesen Schleiern tanzt sie, Arrecina, dort oben auf den Klippen. Selbstvergessen und lachend. Sie dreht sich übermütig, ihr Haar schwingt um sie herum, ihre Füsse sind einen Fingerbreit nur vom Abgrund.
    "Arrecina!" Sie kann ihn nicht hören. "Arrecina! Kleines! Pass auf!" Er will hin zu ihr sie halten und bewahren. Der Gefahr nicht achtend steigt er über die Klippen, watet durch eisige Fluten. Zu ihr, hin zu ihr. Er streckt ihr die Hand hin. "Arrecina!" Sie wirbelt herum in ihrem schwerelosen Tanz. Ihre Augen weiten sich erschrocken.
    "Du?!" Abwehrend weicht sie zurück vor ihm - und gleitet aus. Er vermag nicht sie zu fassen. Die Wassermassen reissen sie in die Tiefe, ersticken ihren Schrei. Blut rötet die Fluten. Sie ist fort.


    "Ich bin niemand mehr..." Er presst die Finger gegen das Gesicht, erstickt sein Weinen um die Verlorenen. Ketten knirschen. Schwere schwarze Eisen sind um seine Gelenke geschmiedet. Ihm ist eiskalt. Dicke Mauern umgeben ihn, werden ihn für immer hier festhalten. In der lichtlosen Tiefe, wo nur die Leere herrscht.
    Ein Raunen. Klauen schaben über Stein. Ein Grollen... Geifer trieft von ihren Fängen. Hungrig ihn zu verschlingen glimmen ihre Augen. Die Unterirdischen sind hier, wollen sich an ihm laben, das was noch übrig ist zerfetzen. Sie kriechen an ihn heran, geduckt, strömen aus den Schatten auf ihn zu, doch langsam, sie wissen, sie haben alle Zeit der Welt. Denn er ist gefangen.
    "Was wollt ihr noch von mir? Ihr findet hier niemanden... ich bin niemand mehr!"
    Kreischend, geifernd, widerlich ist das Lachen aus tausend gierigen Mäulern, das ihm entgegenschallt.
    "Armer Narr... was sind uns Namen ... fressen nur wollen wir... und fressen werden wir, einmal gerufen ... dich verzehren ... Stück für Stück..."
    Ihre Fänge und Klauen schlagen sich in sein Fleisch hinein. In rasendem Schmerz schreit er auf...



    Schweißnass fuhr er hoch, den Klang seines eigenen Schreis noch in den Ohren. Mit wild aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Unwilliges Murren wurde laut, jemand fluchte verschlafen. Stroh raschelte, als die anderen Sklaven, die ebenfalls aufgewacht waren, sich wieder die Decke über den Kopf zogen, um weiterzuschlafen.
    Aufrecht saß er auf seiner Lagerstatt, atmete tief ein und aus, spürte wie der hämmernde Schlag seines Herzens wieder langsamer wurde. Ein Traum... Doch die Beklemmung saß wie ein eiserner Reif um seine Brust. Die Unterirdischen... Sie waren ihm wieder auf der Spur! Hatten erneut seine Witterung aufgenommen!
    Es hielt ihn nicht auf seinem Lager. Er erhob sich und verließ gehetzt die Sklavenunterkunft, nur in der Tunika, barfuss. Und rastlos durchstreifte er die dunklen Gänge, unruhig, seines Weges nicht achtend, wie ein von den Furien getriebener. Der Wind strich ums Haus, seufzte mit hohlen Stimmen. Unwillkürlich zog es den Germanen in Richtung des Peristyls.

  • Stürmisch zerrte der Wind an den Blättern, peitschte die Äste in wildem Tanz und schlug hart gegen die hölzernen Läden vor dem Fenster. Prasselnd fielen die dicken Tropfen vom Himmel hinab und begruben die Stadt unter sich, in welcher kaum mehr ein Mensch wachte und alle tugendhaften Bürger - so denn sie nicht der städtischen Einheit der vigiles waren zugehörig - längstens in friedlichen Traumreichen schlummerten. Womöglich nicht gar alle, denn manch einer um Tugend bemühte quälte sich Nacht um Nacht durch gar unliebsame, schaurige Gefilde im Reiche des Morpheus.


    Silberflecken tanzten vor seinen Augen, welche weit aufgerissen in die undurchdringliche Finsternis starrten. Zögernd lauschte er in die Stille hinein, konnte doch nur seinen eigenen Atem rasseln hören, spürte die Kälte, welche langsam seine Haut von den Zehen an die Beine hinauf kroch, alsbald von seinem ganzen Körper Besitz ergriff, auf dass er letztlich gar zu zittern begann.
    "Hallo?"
    fragte er zaghaft in die stille Dunkelheit hinein, doch nur das dumpfe Echo seiner Worte hallte zurück. Vorsichtig tastete er sich in die Düsternis, schob langsam einen Fuß vor den anderen, als er hinter sich eines schwachen Glimmen wurde gewahr, ob dessen er sich umwandte. Er erstarrte, als er in sein eigenes, hasserfülltes Antlitz blickte.
    "Manius, du Verräter!"
    Er stolperte zurück, doch Quintus packte ihn am Kragen der Tunika.
    "Du Verräter!"
    Seitlich neben ihm griffen zwei weitere Hände nach ihm, deren Bewegung er musste folgen und darob mit seinen Blicken in Leontias verzerrtem Gesicht haften blieb.
    "Wieso nur, teuerster Vetter, wieso nur?"
    Auch von der gegenüberliegenden Seite her packten ihn Hände mit festem Griff.
    "Verräter!"
    Neuerlich war es Quintus.
    "Wieso nur, Manius, wieso nur?"
    Leontia auch in seinem Rücken. Immer mehr Hände griffen nach seinen Schultern, griffen nach seinem Körper, rissen über ihn hinweg, hinterließen Spuren ihrer scharfen Krallen in seiner Haut, in seinem Leib, begannen unermüdlich an ihm zu ziehen, zu zerren, jede in eine andere Richtung, bis dass er glaubte zerbersten zu müssen, zerreißen und zerspringen. Als er zersplitterte in Tausende von winzigen Partikeln schreckte er auf mit lautem Schrei.


    "Nein! Leontia, nicht!"
    Atemlos keuchte Gracchus. Fahles Mondlicht fiel durch das Fenster in den Raum hinein, beleuchtete die Szenerie nebulös, so dass es schien er würde sie durch milchiges Glas betrachten. Er drehte sich zur Seite zu dem warmen Körper neben sich und stieß ihn behutsam an der Schulter.
    "Sciurus, wach auf. Wach auf, Sciurus."
    Der Sklave drehte sich um, viel zu schnell für einen Schlafenden, doch war er längst nicht schlafend. Er entblößte eine grauenhafte Fratze, einem Oachkatzl gleich, doch mit völlig verwildertem, zerzaustem Fell, die Augen gelbfarben glühend, die spitzen Zähne blutbeschmiert, ein Ohr zerrissen durch eine tiefe Kerbe. Sciurus, das, was von ihm geblieben war, zischte wie ein Reptil.
    "Manius, wir kriegen dich! Bald steht der mundus auf!"
    Überall um ihn herum, in gewaltiger Kakophonie tausender Stimmen, kreischten sie, zischten und schrien, riefen und sangen sie, brüllten und krähten, krakeelten und gröhlten, quietschten und lärmten, zerrten mit aller Gewalt an seinen Sinnen.
    "Wir werden dich verzehren ... Stück für Stück ... !"


    Verzweifelt warf Gracchus sich hin und her, wühlte sich in der Decke und seinem Kissen, versuchte der akustischen Agonie zu entfliehen, bis dass er endlich aus seinem Traum aufschreckte, das Gesicht seines Sklaven über sich gebeugt sah, der er versucht hatte, ihn aus den Albtraumgefilden zu reißen. Das fahle Licht einer kleinen Flamme, welche neben der Tür zum Gang hin in einer kleinen, silberfarbenen Öllampe flackerte, zeichnete Sciurus' Miene bleich und farblos, beinahe diaphan wie ein weiterer Traum. Am ganzen Leibe noch immer vor Furcht zitternd rückte Gracchus fort von seinem Leibsklaven, setzte sich heftig atmend auf und lehnte sich an die Wand hinter ihm. Schweiß rann seinen Rücken hinab und nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, weit genug, um Realität als solche zu eruieren und anzuerkennen.
    "Es war wieder ein Traum, Herr, nur ein Traum", versuchte Sciurus ihn zu beruhigen.
    "Ich brauche Luft"
    , keuchte Gracchus.
    "Ich muss den Himmel sehen, die Welt, die Wahrheit."
    "Es regnet, Herr."
    Gracchus schüttelte nur abwehrend den Kopf.
    "Hole mir einen Mantel!"
    Der Sklave tat wie ihm geheißen und reichte Gracchus kurz darauf einen Umhang, welchen dieser sich über sein Nachtgewand legte.
    "Bleib hier"
    , wies er den Sklaven an und eilte aus dem Raum, vergaß dabei völlig, seine bloßen Füße mit einem Paar Schuhen zu besohlen, doch Gracchus glaubte ersticken zu müssen, würde er noch lange in der Enge des Hauses verweilen. Es zog ihn zum Peristyl hin, wie durch fremde Hand gelenkt fanden seine Füße den Weg. Nur vor dem Gemach seiner Gattin verweilte er einige Herzschläge lang zögernd, unschlüssig, ohne zu wissen, weshalb, doch schließlich hörte er den Nachhall der Furien in seinen Ohren, hörte gleichsam wie sie mit Antonias Stimmlage seinen Namen artikulierten, floh auch vor diesem Raum weiter zum Peristyl.

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  • In großen schweren Tropfen netzte der Regen sein Gesicht, als der Germane aus dem überdachten Säulengang in den Innenhof hinein trat. Der Wind fing sich stürmisch in seinem Haar. Kalt war es, doch es tat wohl, den Ansturm der Element so zu spüren. Vieles konnten die Römer unterwerfen, brechen und zähmen, aber nicht den Sturm oder den Regen. Die tobten wild wenn sie es wollten, auch hier in dieser so überaus zivilisierten Villa, im Herzen der römischen Ordnung.
    Die Kälte klärte ein wenig den Aufruhr, den der Germane in sich trug. Er blieb stehen und hob das Gesicht gegen den schwarzen Himmel. Heftig prasselte der Regen auf ihn hinab, nässte sein Haar, floss in kleinen Bächen an ihm hinunter. Schon nach wenigen Momenten klebte die Tunika klatschnass an ihm. Es fühlte sich gut an. Lauter. Als würde der Regen ihn reinwaschen, von den stickigen Dünsten der Sklavenunterkunft, von der widerwärtigen Berührung der kalten Eisen, die ihn in seinem Traum gefangen hielten.


    Brausend fuhr eine Bö durch den Peristylgarten, ließ die Bäume ächzen und die Zweige schwanken. Die Blumen in den adretten Beeten lagen, vom Wind geknickt, platt auf der Erde.
    Hier war es gewesen... Letzten Winter. Langsam schritt der Germane über den hellen Kies. Dort hatte er gestanden - in Ketten - dort drüben zwischen den Säulen Arrecina. Und hier der Gode, hier hatte er die Grenzen zersprengt, die aus guten Grund zwischen den Welten waren, hier hatte er mit der Macht seiner finsteren Götzen die Unterirdischen hervor beschworen und sie auf ihn gehetzt... auf ihn? Auf Rutger Thidriksohn...
    Tiefe Schwärze lag an den Mauern, in den Fensterhöhlen, zwischen den windgeschüttelten Pflanzen. Dunkelheit, die vieles in sich bergen konnte. Waren sie noch hier?


    Genau in der Mitte des Hofes blieb er wieder stehen und lauschte, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Der Wind heulte, Äste schlugen gegeneinander, der Regen rauschte...
    Und wieder stiegen die Bilder vor ihm auf, meinte er, das düstere Glimmen des Altares zu sehen, Arrecinas hilflosen Blick, die zaubermächtige Stimme des Goden zu hören, wie er das Grauen auf ihn hinabrief. Und Blut - Blut das weiße Federn tränkt.
    Der Germane erschauderte. Griff sich an die Stirn, wo der Schnitt über der Braue, diese winzige Verletzung, die doch verheerender als mancher Schwerthieb gewesen war, eine ganz unscheinbare kleine Narbe hinterlassen hatte.
    Ja... sie waren noch hier. Er konnte sie raunen hören, und hungrig in den Schatten kriechen. Doch sie kamen nicht, wenn er wachsam war. Trotzen musste er ihnen. Beständig lauerten sie auf ihn. Die Stirn musste er ihnen bieten! Er hob das Kinn und verharrte mit angespannten Sinnen inmitten des Hofes. So still als wäre er auch eine Statue geworden. Reglos im Regen.


    Dann spürte er: da war noch wer. Er war nicht mehr allein. Langsam, ganz langsam, wandte er den Kopf, blickte über seine Schulter zurück... Seine Augen weiteten sich. Der Gode...!
    Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Ganz ohne sein Zutun formten seine Hände das Zeichen des Mjöllnir.

  • Langsam kroch die Kälte über Gracchus' Fußsohlen seine Waden hinauf und es schauderte ihn ob dessen, doch hielt es ihn nicht ab, hinaus aus dem Gebäude zu treten in die stürmische Nacht. Tief hingen die mit silberfarbenen Tropfen vollgesogenen Regenwolken über dem graufarbenen Land, warteten in ihrem beständigen Strom ungeduldig darauf, dass endlich auch der erste zuckende Blitzschlag mit ihnen hinaus aus den himmlischen Gefängnissen in die Nacht würde brechen, dass das tosende Donnerkrachen sie würde hinab zur Erde geleiten gleich kolossalem Schlachtengetrommel. Fetzen hellgraufarbenen Himmels kündeten von der bleichen, rundgesichtigen Luna, welche hinter den Wolken ihrem Tanz über den Himmel folgte, die Erde in dieser Nacht jedoch kaum nur konnte erreichen. Die feuchte Luft tief in seine Lungen ziehend, spazierte Gracchus langsam durch den Regen, blickte verzückt in das himmlische Gewölk über sich. Da endlich stöhnten die Wolken auf, barsten in lautem Krachen und hinterlegten für Herzschläge den Vorhang aus Regentropfen mit glimmendem Schein. Einzelne, grelle Blitze zuckten über die Hauptstadt des Imperium hinweg, zogen Gracchus gänzlich in seinen Bann, welcher in das vom Himmel herab prasselnden Nass stierte, die Tropfen aus seinen Augen blinzelte und sich am Anblick des Unwetters ergötzte. Gleichsam wie die kühlen Tropfen seine Kleidung durchdrangen, ihn von oben bis unten überzogen mit einem schimmernden Glanz aus Feuchtigkeit, war der Gedanke an Näses und Kälte nur mehr Nebensächlichkeit. Mit lautem Platschen ergoss sich der Regen in den Brunnen des Hortus, zerbarst in kleinen Explosionen auf allem Grund, welchen er erreichte, und versank lautlos im Tags zuvor noch trockenen Erdreich. Die Luft war erfüllt vom schweren Hall einer klingenden Melodie wie nur die Gewalten des Wetters sie konnten spielen - laut und tosend im einen Moment, dann wieder leise und sanft - die Welt ertrank im Odeuer der Harmonie des Spätsommers und all jenes wurde von ihrem Antlitz gespült, welches nicht von Dauer war. Das Leben reinigte sich selbst, befreite sich vom Schmutz der Tage, und erneuerte sich gleichsam im reißenden Strom des beständigen Wassers. Als hätte er nie etwas Schöneres gesehen, erlebt, gespürt, gerochen und vernommen, hing Gracchus mit all seinen Sinnen in jedem Blitzschlag an den glänzenden Tropfen fest, schwebte mit ihnen vom Himmel herab und durchlebte den Augenblick, ohne die Kälte zu bemerken, welche seinen Körper langsam durchzog. Seit langem nicht mehr hatte er diese Ruhe vernommen, hatte in solcher Harmonie getanzt und jene Art von Erhabenheit der Wirklichkeit in sich verspürt, welche die Nacht suggerierte und das Reich der düsteren Träume fern scheinen ließ wie die Länder am Ende der Welt. Nichts, kein Gedanke, kein Wort, keine Tat konnte ihn nun noch aus seinem inneren Frieden heraus reißen. Endlos - es schien Gracchus gar wie ein ganzes Leben - wandelte er vergessen im Dunkel durch den Regen, vom Zucken der Blitze und dem Trommeln des Donners begleitet, bis urplötzlich wie aus den Wolken geschüttet eine Gestalt vor ihm sich aus der nächtlich schummrigen Finsternis schälte. Erschrocken erstarrte Gracchus, als er des dunklen Umrisses wurde gewahr, doch nichts konnte ihn auf den Augenblick vorbereiten, als die Gestalt sich umdrehte, ihr bleiches Gesicht vom fernen Flackern der Lampen im Haus, dem blassen Schimmer der Nacht und einem gleißenden Blitz wurde erhellt, wie in einem weiteren Albtraum in dieser Nacht, welcher nun sein Ungeheuer entließ. Da stand er vor ihm, der Sklave, welcher hatte Arrecina entführt - nein, nicht der sie entführt hatte, sondern welchem sie verfallen war und welcher sie hatte zu ihrem wahnwitzigen Abenteuer angetrieben. In einem tiefen Winkel seines Selbst wurde Gracchus sich dessen gewahr, dass er noch immer musste Träumen, denn was er sah, dies konnte nicht sein, doch ebenso wie ein jeder Traum aufs Neue wie Realität erschien und wie Gracchus sich kaum jemals im Traume des Träumens bewusst war, so dachte er auch in diesem Moment nicht daran, und nahm die Realität als dies, was sie war, die tatsächliche Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit jedoch konnte der Sklave Rutger längst nicht mehr sein. Er hatte Arrecina geraubt, hatte damit nicht nur sie selbst, sondern gleichsam deren Vater Aristides und seinen Vetter Aquilius in Gefahr gebracht, er hatte sie verflucht und ihre Erinnerung genommen, oder er hatte dies nicht getan, doch gleichsam eine Aufhebung des Bannes gefordert - ob vorhanden oder nicht - und damit die Unterirdischen herausgefordert und dazu beigetragen, die Pforten zu ihren Reichen zu öffnen - kurzum, er hatte das gesamte Leben der Flavia in Aufruhr gebracht, und nichts anderes hatte er darob verdient als den Tod, jenen Tod, welchen Aquilius ihm schlussendlich hatte angedeihen lassen. Sciurus hatte seinem Herrn von der Kreuzigung des Germanen Rutger berichtet - obgleich Gracchus kaum Einzelheiten wollte hören, hatte er doch eher die Verschwendung des einst äußerst ansehnlichen Gesichtes bedauert - doch hatte er nicht dabei von der Geburt des Severus gesprochen, vielleicht aus Vergessenheit, doch viel eher aus Unkenntnis oder womöglich Berechnung. So wusste denn Gracchus einzig, dass der störrische Sklave den Tod hatte gefunden, so dass jener, welcher im Unwetter vor ihm stand, kein geringerer als der rastlose Geist des Rutger musste sein, sein unversöhnlicher larva, ein rachsüchtiger Unterirdischer, einer von jenen, welche Gracchus seit langem verfolgten, doch nie zuvor in derart stofflicher Art und Weise. Vor ihm stand ein Geist, ein Toter, ein Unding im fahlen Licht, ein diabolisches Flackern in den Augen, Blutgier ohne Zweifel, und Gracchus glaubte sehen zu können wie sukzessive Rutgers Muskeln sich anspannten und jeden Moment das Ungeheuer seine Finger nach seinem Halse musste ausstrecken, um an ihm Rache zu nehmen. Es geschah darob, was zumeist geschah in solcherlei Träumen, obgleich dies kein solcher war, Gracchus starrte mit weit aufgerissenen Augen das Furchterregende an, öffnete seinen Mund und entließ einen angstdurchdrungenen Schrei daraus.
    "Aaah
    hhhhhhhh!"

    Da die Welt sich jedoch dadurch nicht löste, die Stofflichkeit nicht an Wirklichkeit verlor, der Sklave Rutger gleich des über ihm tosenden Gewitters beständig blieb, blieb schließlich zum Entkommen aus dem vermeintlichen Traume nur, in eine andere Wirklichkeit zu flüchten, was in diesem Falle der dumpfen Besinnungslosigkeit gleich kam. Gracchus' Pupillen drehten sich hinauf zum Himmel hin als wolle er den Regen damit auffangen, sein Geist verabschiedete sich bereits vollends, während sein Körper noch zurück kippte, und schließlich erstarb auf halbem Wege, welchen der Kopf benötigte, um von erhobener Position bis zum steinernen Weg unter ihm hin aufzuschlagen, auch der Schrei. Mit einem dumpfen Laut kam Gracchus' Körper auf dem Grund zu liegen, sein Geist fern der Realität in Bewusstlosigkeit versunken. Ein Blitz durchzuckte die Nacht und ließ die Regentropfen aufleuchten, welche sich tanzend auf seinem Körper niederließen.

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  • Macht. Die Luft war erfüllt von Macht, um den Goden herum, der da lautlos aus dem Unwetter getreten war. Bösartig, schon mit Händen greifbar waberte sie um ihn herum. Ein Nachtreiter, fuhr es dem Germanen durch den Kopf, er ist gewiss ein Nachtreiter, der auf dem Gewittersturm herbeikam...
    Das fahle Zucken eines Blitzes erleuchtete jäh die Züge des Hexenmeisters. Er öffnete den Mund, zweifelsohne um eine Verwünschung auszusprechen, einen Fluch über ihn zu schleudern, der das Werk der Vernichtung vollenden würde, dass er einst begonnen.
    Ziu! Wodan! Donar steh mir bei! In stummem Entsetzen rief der Germane zu den Göttern, die ihn doch schon längst hatten fallen gelassen. Wie gelähmt vor Schrecken stand er wie angewurzelt. Seine Muskeln spannten sich an, er wollte fliehen und konnte doch keinen Schritt von der Stelle tun, nur die Hände streckte er aus, dem Goden entgegen um hastig das Ansuz in die Luft zu zeichnen, und die Thursen-Rune, auf dass sie ihn - hoffentlich! - schirmen würden, und die üble Zaubermacht ihn nicht mit all ihrer verheerenden Kraft treffen würde. Doch wirklich glaubte er nicht, dass sein laienhafter Schutz bestehen könnte, gegen den grauenvollen Zauber des Goden Flavius Gracchus, und er erwartete das schlimmste...


    Kein Fluch schmetterte auf ihn herab. Kein Riss ging durch die Welten. Keine Ungeheuer entsprangen der Finsternis. Der Gode - schrie? Starrte entsetzt, schrie und fiel zu Boden.
    Perplex blieb der Germane einen Augenblick lang einfach so stehen, die Hände, die die Runen formten noch in der Luft erhoben. Dann stieg eine schlimme Befürchtung in ihm auf. Hastig wirbelte er herum und sah hinter sich, starrte angespannt in die Nacht und das Unwetter. Aber da war nichts. Nichts das den Goden so hätte erschrecken können... Hmm. Er kratzte sich am Kopf. Oder jedenfalls: er konnte da nichts sehen! Aber das wollte ja nichts heißen. Eines war sicher: hier ging etwas um.


    Rasch trat er zu dem Goden, blickte von oben auf ihn hinab. So sah er eigentlich gar nicht gefährlich aus. Nur nass und bewusstlos. Aber der Germane wusste es besser. Ein äußerst naheliegender Gedanke keimte da in ihm auf. Dieser Mann hatte das dunkle Zauberwerk gesponnen. Diesen Mann zu töten würde es zerfetzen, ganz zunichte machen. Endlich würde er wieder ruhig schlafen können. Und zugleich wäre es eine Rache, zwar nur eine sehr kurze, doch trotzdem wärmte der Gedanke sein Herz.
    Schnell musste er sein. Wenn er auch glaubte, dass der Schrei im Getöse des Unwetters untergegangen war - es konnte immer noch jemand hier auftauchen. Er sah sich um. Nur Regen und Dunkelheit. Kurzentschlossen kniete er sich hin, beugte sich über den zu Boden gesunkenen. Erwürgen? Den Schädel einschlagen mit einem Stein? Nein, es war wohl am besten, wenn es so aussah, als wäre er ausgerutscht und beim Fallen unglücklich aufgeschlagen. Schon streckte der Germane die Hand aus, schon berührten seine Finger das nasse Haar des Flavius Gracchus, in der Absicht sich da hineinzugraben, es fest zu packen, den Kopf anzuheben - mit der anderen Hand würde er ihm den Mund verschließen - dann würde er den Kopf einfach ein paarmal heftig auf die Kante des des steingepflasterten Weges schmettern, auf den der Gode gefallen war. Bis der Knochen eben barst. Soweit war dem Germanen das alles ganz klar.


    Es war eine andere Erwägung, die ihm da plötzlich durch den Kopf schoss, die ihn stocken ließ. Zögernd schwebte seine Hand über dem Gesicht des Bewußtlosen, warf einen scharfen Schatten darauf, als wieder fahl die Blitze zuckten. Verdammt! Er war doch jetzt Gefolgsmann des Aquilius! Da durfte er nicht jemanden aus dessen Sippe töten! Mochte es auch noch verlockend, naheliegend, eigentlich unausweichlich sein wie jetzt.
    Bei Fenris' Fängen! Die Sache war leider klar, da gab es nichts daran zu rütteln. Der Germane zog die Hand wieder zurück, und blickte mit einem Ausdruck von Vorwurf auf die in Ohnmacht erschlafften Züge des Mannes vor ihm. Garms Grimm!


    Und jetzt? Ihn hier liegen zu lassen, war dann auch verkehrt, hier draussen, wo noch immer die Nachtmahre herumstrichen. Oder die Gefahr bestand, dass er sich verkühlte und an Husten krepierte. Er rüttelte ihn ein bisschen, doch der Flavier schien noch nicht aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen zu wollen.
    Tja. Seufzend ob des Widersinnes packte er den Goden bei den Schultern, richtete sich auf und wuchtete ihn hoch. Dass so einem - wie der Germane fand - schmächtigen Mann eine solche Zaubermacht innewohnen konnte, das war schon erstaunlich.
    So dachte er, während er ihn in aus dem Peristyl heraus in das Innere der Villa trug, und ihn im nächstbesten Raum - es war der Oecus - auf eine prunkvolle Speiseliege legte. Düster blickte er auf ihn hinab. Nachdem er nun die Angst des Goden vor dem was da umging, gesehen hatte, fand er ihn weitaus weniger furchterregend.
    "Wach auf, Flavius Gracchus.", sprach er eindringlich. "Du hast sie gerufen. Die Unterirdischen, das Chaos, das Vergehen. Es gab keinen Fluch. Irrig riefst Du sie herbei. Du erst hast den Fluch geschaffen. Wach auf. Du musst sie zurückschicken. In die Tiefen, aus denen Du sie hergeholt hast. Dorthin musst du sie verdammt noch mal zurückschicken."

  • Noch bevor er die Augen öffnete, wusste Gracchus, dass etwas nicht stimmte. In seinem Hinterkopf pochte es dumpf, als würden dort die versammelten salii einen ihrer Stampftänze aufführen, zudem war er umhüllt von nassen Stoffschichten, seine Knochen drückten sich auf ungewohnten Grund, so dass es unmöglich sein Bett konnte sein, auf welchem er in der Waagerechten zu Liegen gekommen war. Etwas stimmte nicht, dessen war er sich sicher. Er versuchte sich daran zu erinnern, was das letzte war, an das er sich erinnerte, doch es trieben nur verworrene, nebulöse Fetzen durch seinen Geist, Traumreminiszenzen eilten wie kleine schattige Silhouetten durch sein Gedankengebäude und verschwanden hinter Türen und Ecken, sobald er sie glaubte erreicht zu haben. Eine Stimme hallte in seinen Ohren, zu wirklich ihr Klang, um sie zu ignorieren, doch zu irreal ihr Sinn - von einem Traum in den nächsten, Albengefilden ohne Ende, ohne Erlösung mit Vergehen der Nacht. Wach auf. Der Schlafende muss erwachen. Blinzelnd, mit einem leisen Aufstöhnen ob des Pochens in seinem Kopfe, öffnete Gracchus die Augen, versuchte sich dessen gewahr zu werden, wo er war, wer war und was war. Er wachte auf, doch der Traum ging weiter. Wie einer der Blitze draußen vor dem Fenster die Nacht, so durchzuckte Gracchus die Erkenntnis dessen, was vor ihm, über ihm schwebte, und nicht das noch so schärfste Schwerte an noch so filigranem Faden über des Damokles' Kopfe konnte annähernd so furchterregend sein wie der larva Rutger Thidriksons. In panischer Furcht, einen neuerlichen Aufschrei unterdrückend und einzig ein furchtvolles Keuchen echappieren lassend, rückte Gracchus auf der Kline zurück, seine Glieder noch kaum unter Kontrolle, seinen gesamten Körper noch kaum unter Kontrolle, kaum noch seinen Geist, weg von der unterirdischen Macht. Abwehrend hob er seine Hände vor sich, zitternd bebte seine Stimme, die Worte hasteten aus seinem Munde als würden sie dazu gereichen, eine Mauer zu bilden zwischen ihm und dem untoten Germanen.
    "Dii inferiores, nehmt zurück was aus Eurem Reiche entkommen! Diese Tage sind nicht Euer, noch diese Nächte! Dis Pater, halte im Zaum die Deinen, wie es Deine Pflicht ist! Dius Marmar, kehre den Fluch und dränge das unterirdische Gezücht zurück in seine Bahnen! Weiche, larva, weiche zurück in die Gefilde, welchen du entstiegen bist!"
    Übermächtig wurde das Pochen in seinem Schädel, als wolle es ihn an Vergangenes, Versäumtes erinnern. Ohne den Sklaven aus den Augen zu lassen, zog Gracchus eine Hand zurück, um nach seinem schmerzenden Hinterkopf zu tasten, schließlich spürte er dort eine merkwürdig geleeartige Paste zwischen den Haaren, von welcher er sich gänzlich sicher war, dass sie dort nicht hin gehörte, obgleich er zugeben musste, dass er selten seinen Hinterkopf betrachtete oder befühlte. Langsam und zitternd zog er die Hand zurück, schob sie in das Blickfeld zwischen Rutger und sich selbst, und betrachtete irritiert die blutbeschmierten Fingerkuppen der Hand vor sich. Es war seine Hand. Seine Hand, welche eben noch an seinem Hinterkopf getastet hatte. Seinem Hinterkopf. Blut an seiner Hand. Blut an seinem Kopf. Sein Blut. Blut. Rotfarbenes Blut. Sein Blut. Ehe noch Gracchus überhaupt wieder völlig zu Sinnen gekommen war - ein ohnehin äußerst diffiziles Ansinnen in dieser Nacht ob all der natürlichen und erschaffenen Widrigkeiten, verabschiedete sich sein Geist erneut aus der Wirklichkeit ob dieser Tatsache, denn konnten ihn selbst Sturzbäche von Opferblut nicht im Geringsten berühren, so gereichte schon eine geringe Menge menschlichen Blutes seit jeher dazu, ihn aus der Realität zu katapultieren. Gracchus' Pupillen drehten sich der Schädeldecke zu, sein Kopf sank zurück auf die Kline und seine Hände fielen abrupt auf seine Brust, wie die einer Marionette, welcher man die Fäden hatte gekappt.

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  • Waren sie mit hier hineingekommen? Der Schrecken des Goden, als er erwachte, ließ jedenfalls darauf schließen. Alarmiert schweifte der Blick des Germanen durch den Raum. Und wieder ein Blitz, ein geisterhaftes Licht, das die Dinge scharf der Dunkelheit entriss, die Schatten kraus verzerrte. Noch immer konnte er nichts sehen...
    Oder - der Gedanke war absonderlich - hatte der Gode, dieser entsetzliche Hexenmeister, etwa Angst vor IHM? Fürchtete er womöglich die Rache des Verfluchten, in diesem Augenblick, da niemand um sie war, und das Tosen des Unwetters die Geräusche verschlucken musste?
    Genugtuung. Eine ungeheure Genugtuung stieg bei diesem Gedanken in ihm auf. Langsam beugte er sich vor, um dieses zu überprüfen, näherte sich unheilvoll dem Goden, der auf der Kline zurückgerutscht war, und fixierte ihn böse. Dieser Mann hatte ihm Furcht eingeflösst wie keiner zuvor, in jener mondlosen Winternacht. Nun war er selber deren Raub geworden. Noch näher beugte der Germane sich heran, und weidete sich am Aufflammen der Panik in den Augen des Goden. Herrlich. Göttlich. Dies war ein Anblick der ihn wahrhaftig für vieles entschädigte.


    Dass er allerdings zu weit gegangen sein könnte, schoss ihm durch den Kopf, als der Gode wieder die Hände hob, und zu intonieren begann. Augenblicklich wich er zurück. Es waren die gleichen Namen wie damals, die selben düsteren Götzen, zu denen der Gode rief, doch diesmal bebend, voll der Furcht, und... Ja! Er brach den Fluch! Der Gode tat genau das, was er von ihm verlangt hatte!
    Kehre den Fluch und dränge das unterirdische Gezücht zurück in seine Bahnen!
    Laut grollte der Donner, dumpf, wie ein letztes erbostes Auflehnen der Lauerer, die ihre Beute nicht preisgeben wollten. Doch der Gode sprach weiter, befahl ihnen zu weichen, drängte sie mit den Worten der Macht zurück in die dunklen Schlünde, die bodenlosen Abgründe, aus denen er sie einst hervorgerufen hatte.
    Welche Erleichterung! Kaum waren diese Worte verklungen, spürte der Germane schon die Veränderung. Die Schatten im Raum waren nicht mehr so unstet, das Heulen des Windes trug nicht mehr die Stimmen der Jäger in sich, der kalte Hauch, der durch das Fenster kam, war einfach nur noch ein kühler Luftzug - nichts weiter. Der Fluch der Unterirdischen war endlich gebrochen! Eine ungeheure Last fiel von den Schultern des Germanen. Befreit atmete er auf.


    Es musste die Macht des gewirkten Bannes sein, die dem Goden die Kräfte raubte, so dass er wiederum das Bewusstsein verlor. Dass er sich beim Hinfallen wohl ein bisschen den Kopf aufgeschlagen hatte, konnte ja so schlimm nicht sein. Auch an der Tunika des Germanen waren, wie er erst jetzt bemerkte, ein paar Blutspuren zurückgeblieben, als er ihn ins Haus hinein getragen hatte. Ob er jemandem bescheidgeben sollte? Er zögerte. - Ach nein, lieber nicht, am Ende würde man noch ihm die Schuld dafür geben, dass der Gode gestürzt war. Oder nur mal angenommen der Gode wäre jetzt im nachhinein verwirrt, oder hätte gar - konnte ja sein, man wusste ja nie, war ja wohl gar nicht so selten - erst mal sein Gedächtnis verloren?! Dann würde man ohne Zweifel ihn für die Angelegenheit verantwortlich machen, nur weil er in der Nähe gewesen war. Nein, nein, darauf konnte er gut verzichten. Der Mann würde schon von alleine wieder auf die Beine kommen, beschloss der Germane und verzog sich aus dem Oecus.


    Beschwingt überquerte er wieder den Innenhof. Keine Unterirdischen lauerten hier mehr, der Riss im Gefüge der Welten war wieder versiegelt. Der Fluch war vergangen als hätte es ihn überhaupt nie gegeben, er war den Kreaturen der Tiefe entkommen, wie er überhaupt schon so oft dem Verderben um Haaresbreite entronnen war. Trotz allem was geschehen war, war er noch immer am Leben, jetzt vom Fluch befreit, hatte seit neuestem ausserdem eine ganz wunderbare, liebliche Gefährtin...Vielleicht hatten ihn seine Fylgien doch nicht verlassen?
    Frisch fiel der Regen auf ihn hinab, rieselte angenehm durch sein Haar. Er hätte singen können vor Freude und Erleichterung. Aber etwas kalt war es dann doch da draußen, und so kehrte er in die Sklavenunterkunft zurück, um sich zu trocknen und wieder hinzulegen. Nichts und niemand würde mehr bösartig in seine Träume eindringen. In diesem Wissen schloss er beruhigt die Augen.

  • So heftig wie das Gewitter die Stadt Rom mit Lichtblitz und Donnergrollen hatte überzogen, so unspektakulär musste es letztlich doch weichen, fort getrieben vom stetigen Wind, vergehend in der Ferne der sabbatinischen Berge, wo es sich noch einmal aufbäumte zu einem letzten gewaltigen Staccato, schließlich mit Herannahen des Tages doch in sich zerfiel. Zaghaft strich die erste Helligkeit der Sonne über den Himmel, obgleich jene noch längstens nicht den Horizont hatte überschritten, wischte den feinen Schleier aus Regentropfen hinfort, welcher allmählich an Intensität hatte verloren, zu einem dunstgleichen Fetzten von Erinnerung war verkommen. Mit dem Erwachen des Tages erwachte auch die Welt in ihm zu neuerlichem, immer wiederkehrendem Leben, zartes Zwitschern der früh erwachenden Vögel durchbrach das Säuseln des abflauenden Windes, klandestin raschelten Blätter und Gräser, als Baum- und Erdenbewohner ihre Nester verließen, um die wärmenden Strahlen der Sonne zu fetieren. Mit ihnen kehrte auch Gracchus endgültig aus den Fängen der Nacht zurück, war er doch gewohnt den Tag früh zu beginnen, geweckt durch das leise Rascheln sklavischer Tätigkeit um ihn herum, eine gar ungewöhnliche Geräuschkulisse ob der sonstigen Stille seines Cubiculums, in welcher Sciurus es längst hatte perfektioniert, sich ohne einen Laut zu bewegen. Ohnehin wollte die Szenerie sich nicht dem alltäglichen Ritual des Erwachens zuordnen lassen, war gänzlich fremd und doch gleichsam seltsam vertraut. Weshalb war er hier? Dies war Gracchus' erste Frage an diesem merkwürdigen Tag, welcher auf eine gar seltsame Nacht gefolgt war, doch mitnichten lag es in seinem Ansinnen, ihn mit philosophischen Erwägungen zu beginnen und auf die allgemeine Existenz seiner Person in dieser Welt abzuzielen, sondern einzig darin, zu ergründen, was genau ihn dazu getrieben hatte, den Tag im Oecus der Villa Flavia zu beginnen, oder eher, den vorherigen Tag dort zu beenden. Nebulöser Dunst zog sich durch die Gänge seines Gedankengebäudes, doch es fehlte jener fahle, ungustiöse Belag auf Zunge und Kehle, welcher von einem weinlastigen Abend würde künden, der solcherlei Örtlichkeit zwar nicht zur Gänze erklärbar, doch immerhin plausibel erscheinen würde lassen. Vorsichtig drehte Gracchus seinen Kopf, ließ die Wirbel seines Halses leise knacken und drückte die Schultern durch, um sie zu lockern.
    "Geh und suche Sciurus!"
    herrschte er eine ältliche Sklavin an, welche es gewagt hatte ihrer Aufgabe nachzugehen und sich allzeit bereit im Oecus zu postieren, gleichsam mit der Räumlichkeit zu verschmelzen. Sie eilte hinfort. Langsam setzte sich Gracchus auf, schwang die Füße über den Rand der Kline und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. Auch sein Kopf zeigte nicht jene merkwürdige Art der Benommenheit, welche dem übermäßigen Fetieren alsbald folgen musste, obgleich ein Stück über seinem Nacken ein leises Pochen zu vernehmen war. Unsicher hob er die Hand, berührte seinen Hinterkopf und zuckte augenblicklich zurück, als er jene Stelle erreichte, welche des Nächtens den Aufprall seines Leibes auf dem steinernen Grund des Hortus hatte abgefangen. Gleichsam durchzuckte ihn mit dem Schmerz die Erinnerung, Bilder flackerten auf in seinem Geiste, wechselten Schlag auf Schlag, Leontia und Quintus, der Hortus, das Gewitter, der larva des germanischen Sklaven, die geisterhafte Fratze, der Fluch, die Unterirdischen, das Grauen der Nacht! Hatte er den Wiedergänger bannen können? Unsicher ließ Gracchus seinen Blick durch den Oecus gleiten, horchte nicht nur in den erwachenden Tag, horchte auch tief in sich hinein, ob noch jegliche Teile seines Selbst vorhanden oder womöglich ihm etwas abhanden gekommen war, und blieb schließlich mit seinen Augen an Sciurus hängen, welcher in beinah unheimlich stiller Weise den Raum hatte betreten, mit gekonnter Präzision jeglichen Anschein von Missbilligung hinter seiner maskenhaften Miene verbarg.
    "Eine düstere Nacht, nicht?"
    "Ja, Herr." Niemals wäre dem Sklaven in Sinne gekommen, seinem Herrn zu widersprechen.
    "Ein Schrecken jagte den nächsten, selbst die frische Luft konnte jene horriblen Träume nicht vertreiben, dabei schien das Grauen so furchtbar real. Wahrlich, wenn nur der Tag niemals der Dämmerung müsste weichen, welche nur mehr fähig ist düstere Schatten zu gebären."
    Er erhob sich von der Kline, schwankte einen Moment ob der Zermürbung in seinen Gliedern, welche durch die halbe Nacht auf der Kline herrührte, welche zum nächtlichen Schlaf nicht gerade kommod war, und streckte seine Zehen in die Luft.
    "Mir ist kalt."
    "Ein Bad, Herr?"
    "Hm,"
    brummte Gracchus zustimmend und schlurfte in Richtung seines Cubiclums hinfort, wo er sich noch einmal in seine warme Decke würde einrollen, bis dass das Wasser heiß war.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

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