iter postremum - von der Villa Flavia zur Gräberstraße

  • Am Abend, wenn die Klänge mit conclamatio den Namen läuten,
    Folg ich am Schicksalshimmel der Vögel wundervollen Flügen,
    Die lang geschart, gleich frommen lemurenzügen,
    Entschwinden in die fälligen und jenseitigen Weiten.
    O Claudia, hinwandelnd durch den dämmervollen Garten,
    träum ich von der göttlichen Antonias letzten Fahrten.
    Ruhend auf der großen Totenbarke magst du liegen,
    mögest du in der Unterwelt den Frieden finden.
    Gratias ago.


    Groß und ernst sahen die Augen des Knaben zu seinem älteren Bruder. Er war ein Erwachsener, hatte die bulla bereits abgelegt und damit aller Welt bezeugt, dass er in den Kreis jener aufgenommen waren, die weit mehr als ein Kind sehen konnte. Dennoch sah Titus für einen Moment den Jungen, der wahrlich nicht wie ein vom Leben gezeichneter Mann wirkte. Das Reich der Unterwelt ist eine Schattenwelt. In ihr jagen die meisten Verstorbenen einem traurigen Dasein nach. Nur wenigen gelingt es, die elysischen Felder zu erreichen. Titus hatte seinen makedonischen Lehrer nicht verstanden. Er tat es auch heute nicht, gleichwohl der Schrecken des Todes manifest vor ihm auf der Barke der Verstorbenen lag. Dennoch grauste es den Jungen als er an die Sätze dachte. „Über dich.“, antwortete Titus leise und nickte ernsthaft. Minor. Er war von je her der Liebling ihrer beider Mutter gewesen. Kälte hatte er in den Augen von Antonia erblicken können, wenn diese über den jüngeren Knaben, Titus, hin weg streiften. Er hatte sich oft nach Begegnungen mit Antonia in die Arme der Sklavin, die ihn schon gesäugt hatte, geflüchtigt. Antonia würde über Minor wachen, aber nicht über ihn: Titus. Er war alleine.
    Stumm senkte der Junge den Kopf und starrte auf den Boden vor sich. Zwischen den Steinen huschte ein Käfer entlang. Unbeeindruckt davon, dass die Flammen nun gesät wurden. Dass Feuer das Holz hinauf leckte und sich bis zu dem Stoffe fraß, der den Körper der einst so schönen Claudia Antonia umhüllte; Titus hob sein Angesicht nicht einen Momente lang. Er wollte nicht sehen, wie seine Mutter von dem gierigen Lodern aufgezehrt wurde. Wollte nicht wahr haben, dass seine göttergleiche Mutter doch nur eine Sterbliche aus Fleisch und Blut war. Wie eine gewöhnliche Sklavin gar. Eine, die dem Leben erlegen war. Die dem Tode geopfert wurde. Erst als Aschewolken wie zarte Schneewehen an seinen Füßen vorbei strichen, hob sich sein Kinn an und seine Augen ruhten auf dem schrecklichen Bild eines zerfressenen Körpers, der immer noch in einer Corona des gelben und roten Lichtes stand. In seinen Ohren klangen mit einem Mal laut die neniae als Echo ihres Klagens von zuvor. Sein Herz schlug langsam, dann mal schneller, dann schien es sich gar nicht mehr zu rühren.
    Unfähig sich zu rühren spürte er auch nicht die rituelle Reinigung. Er merkte gar nicht, dass seine Füße widerwillig und stolpernd gehorchten, als eine Sklavin sanft seine Hand nahm. Als es hieß, die Stätte des Todes zu verlassen und mit der Familie wieder zurück zu schreiten. Keine Träne rann seine Wange herunter. Dennoch war Titus verstört. Eine Göttin starb nicht. Das war nicht möglich.

  • Als der Haufen endlich entflammt, auf welchem seine Mutter symbolisch vom Leben geschieden und ihre Aufnahme in himmlische Gefilde vollzogen wurde, wandte Manius Minor seinen Blick von seinem Bruder ab und hin zu dem Geschehen. Rasch erklommen die Feuerzungen das hölzerne Gebilde, umschlangen Holzscheit um Holzscheit bis hinauf zum Feretrum, welches doch nun nicht nur für den jungen Flavius zu einem Schemen verschwamm, da es doch hinter einem Vorhang der Flammen verhüllt wurde. Genau dort verharrte der Blick des Knaben, verfolgte, wie ein dem Augenschein nach der Pyra inhärenter Wind die Stola erfasste und aufblähte, ehe sie selbst in Flammen aufging und samt dem durch sie verhüllten Leib verzehrt wurde. Der Duft gebratenen Fleisches mischte sich in den Rauch, was in Manius Minor zwar keineswegs Hungergefühle erweckte, derer er ohnehin seit der Nachricht vom Dahinscheiden seiner geliebten Mutter entbehrte, in ihm aber doch Remineszenzen an das Auftragen seiner liebsten Köstlichkeiten zum Gastmahl im heimischen Triclinium erweckte, was wiederum, als er sich dessen gewahr wurde, ihn schamvoll zu Boden blicken ließ. Er ein sanftes Stoßen vonseiten Patrokolos' erweckte ihn aus dieser Lethargie und erinnerte ihn, ein winziges Gefäß entgegenzunehmen, welches mit dem liebsten Parfum seiner Mutter gefüllt war und dessen wohlig vertrauter Duft die Gedanken einer Konjunktion von Fleischspeisen und Leichnam hinfortwischte, um dieses sogleich in einem infantil ineffektiven Wurf in Richtung des Scheiterhaufens zu werfen. Mit einem Zischen zerscholl die Phiole auf den glühenden Kohlen, als mit einem Satz die gesamte Pyra in sich zusammenstürzte und eine glühende Wolke voller Funken freisetzte.


    Doch verharrte der Knabe ungerührt weiter, ungeachtet der Ermattung, welche seine Beine ihm nach geraumer Zeit meldeten, starr dahinblickend und, obschon seine Augen hierfür nicht die beste Eignung boten, in den Trümmern nach der nun zweifelsohne bereits verkohlten Hülle der Claudia forschend, bis das Feuer kleiner wurde und schlussendlich durch Wein und Wasser gelöscht wurde.


    Was dann Manius Maior aus der Asche sammelte, erschien Manius Minor geradezu grotesk, da doch die Hitze nicht nur das Fleisch von den Knochen gebrannt hatte, sondern diese auch in ihre Größe verringert hatte, womit es dem Knaben gänzlich unwirklich schien, dass eben dies die Überreste seiner Mutter, jener stattlichen und wohlansehnlichen Dame, sein sollten. Dennoch transportierte sein Vater diese in den finsteren Schlund des Mausoleums und für einen Augenblick keimte in dem jungen Flavius der Wunsch auf, dass nicht jener, sondern seine Mutter durch die Pforte in die Welt zurückkehren würden und damit gleichsam Pluto ein Tausch würde vollziehen. Doch blieb diese Hoffnung ebenso unerfüllt wie jene an Apoll, sein Augenlicht wieder zur Gänze herzustellen, sodass er endlich ohne weitere Äußerungen oder Regungen sich mit Feuer und Wasser entsühnen und zur Villa Flavia Felix zurück eskortieren ließ, um das Leichenmahl einzunehmen.

  • Bestimmt umklammerte Manius Minor die Karaffe mit Milch, während Manius Maior noch in einem knappen Gebet das Öl den Divi Parentes weihte. Mit besonderer Begierde hatte der junge Flavius die Tage der Parentalia erwartet, in welchen eine sonderliche Nähe zwischen den toten und lebenden Verwandten herrschte. Seit seiner maternalen Vision hatte der Jüngling sämtlichen Hoffnungen zum Trotze keinerlei Botschaften der Jenseitigen mehr erhalten, obschon er sie in diversen Opfern geehrt und ihnen artig seinen Dank hatte erwiesen. Dabei torquierte ihn in wachsendem Maße die Furcht, noch immer der Rache der Götter verfallen zu sein, da er sein Schicksal refutiert und seinen Obliegenheiten den Übersinnlichen gegenüber sträflich hatte vernachlässigt. Innig ersehnte er ein divines Zeichen des Verzeihens, ein neuerliches Rendez-vous mit den Manen der Claudia Antonia oder auch lediglich eine lakonische Botschaft des Götterboten, welche ihn informierte, ob seine Mühen ihn zu salvieren imstande waren.


    "Divi Parentes der Gens Flavia, wie dies Euer Recht ist an diesen Tagen, nehmt unsere Gaben, die wir Euch offerieren an diesen Tagen da wir Euch nicht vergessen haben, zum Eurem Wohle, wie Euch dies zusteht, die Ihr mit Eurer Gunst all jene beschenkt, die nach Euch gekommen, Divi Parentes, gütige Vorväter der flavischen Familien, zu Eurem Wohle unsere Gaben."
    , replizierte er das Gebet seines Vaters und trat ihm folgend vor, um das Löchlein am Portal des Mausoleums, welches soeben das geopferte Öl seines Vaters hatte aufgesogen, auch mit Milch zu tränken. Tastend trat er, eskortiert von Patrokolos, auf die Stufen zum Eingang und kniff konzentriert die Augen zusammen, um inmitten jenes dunklen Fleckes, welchen das Öl auf dem Stein hatte produziert, die Öffnung zu identifizieren. Angestrengt neigte er sein Haupt, wobei beinahe ihm die Toga vom Haupte wäre geglitten und beschied endlich, direkt ins Zentrum zu zielen.
    Die Milch spritzte ein wenig, als sie den öligen Boden touchierte und sogleich flüsterte sein Diener:
    "Etwas weiter nach links!"
    Rasch korrigierte der junge Flavius seinen Opferstrom, bis endlich das Geräusch des auftreffende Liquidums sich wandelte und somit auf eine differierende Oberfläche schließen ließ.
    "Gut so!"
    , konfirmierte Patrokolos und der Jüngling ergoss hastig den Rest seiner Gabe in die Öffnung, von wo aus sie gemeinsam mit dem Öl ins Erdreich und damit an ihre jenseitigen Adressaten würden fließen.


    Umsichtig trat Manius Minor zurück, um Manius Maior Raum zu gewähren, das Totenmahl zu präparieren, welches sie nun würden einnehmen. Er war gekommen, die Gebote der Maiores zu erfüllen und sich ganz im Sinne des ehrwürdigen do ut des eine jenseitige Replik zu erhoffen, doch beschämte ihn nunmehr lediglich jene Inkapabilität, welche soeben aufs Neue war zutage getreten. Wie sollte er seiner Bestimmung als Flavius nachkommen, da er ob seiner Fehlsicht Opfergaben verschüttete wie eine törichte Sklavin den Wein bei Tisch?
    Seine geliebte Mutter hatte ihm gesagt, es bestünde Hoffnung. Doch worin mochte diese Hoffnung bestehen? Wie sollte er reüssieren, da schon heute ihn gleich einem Greisen sein Augenlicht verließ? Wie sollte er die Geschicke des Staates lenken, da er noch nicht einmal imstande war, einen einfachen Brief ohne fremde Assistenz zu entschlüsseln? Wie das Spiel der Sellae Curules spielen, da ihm jede Miene seiner Opponenten verschlossen blieb? Wie sollte er den Cultus Deorum pflegen, da er so unermesslich weit entfernt war von jener Makellosigkeit, die die Unsterblichen selbst von den Opfertieren forderten?
    "Divi Parentes, gebt mir ein Zeichen!"
    , murmelte er flehentlich und senkte das Haupt. Diese Tage waren intendiert, den Ahnen und verstorbenen Anverwandten seinen Dank zu erweisen und niemand mochte bessere Gründe zu haben, ihnen seine Erkenntlichkeit zu entbieten, da sie ihn aus höchster Todesnot hatten errettet!

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