Wie ein Schleier feiner Regentropfen hing weißfarbener Nebel über dem Tiber, zog sich wie eine gewaltige, schimmernde Schlange durch die Stadt, zwischen den Hügeln hindurch. Rotfarben brach sich die untergehende, spätabendliche Sonne in diesem unscheinbaren Nass, leckte zaghaft über die Dächer der Häuser und bedeckte sie mit der letzten, sanften Wärme ihrer Strahlen. Karg und leer lag bereits die Straße vor dem Anwesen der Villa Flavia, kaum fuhren des Nachts Karren in dieser Gegend, kaum eilten Händler spätabends auf diesen Wegen aus der Stadt und längst hatten sich mit Anbruch der Nacht jegliche Schatten vorüberziehender Passanten verflüchtigt. Einzig ein merkwürdiger Tross störte das friedliche Bildnis der allabendlichen Ruhe, welcher sich soeben durch das Tor vor der Villa schob - eine Bahre, getragen von vier Männern, zwei dahinter in kapuzengekrönte, dunkle Mäntel gehüllt, geleitet von zwei Sklaven mit Fackeln in Händen, nicht nur, um die aufziehende Düsternis zu vertreiben. Trügerisch eingenäht in weißfarbenes Leinen schien der Körper auf der Bahre derjenige eines Toten zu sein, selbst das Gesicht bedeckt durch undurchsichtiges Tuch, und einzig die nicht ganz perfekt anatomischen Proportionen, einzig winzige Halme, welche sich verräterisch in den Stoff drückten, mochten einen sehr achtsamen Beobachter darauf aufmerksam machen, dass auf dieser Totenbahre nicht der Körper eines Verstorbenen ruhte. Doch kein Mensch in Rom, welcher bei Sinnen war, betrachtete den alltäglichen Tod, kein Mensch wendete forschend seinen Blick des Abends auf eine verhüllte Leiche, wollte doch niemand sehen, was verborgen lag, denn nur der Tod konnte dort zu erblicken sein. Manches mal jedoch gab es tatsächlich nichts zu sehen, dann, wenn nichts Stoffliches war geblieben, dessen begaffen sich würde lohnen, und abgesehen davon, dass Gracchus nicht wollte, dass irgendwer den zu Bestattenden würde erkennen, so war dies einer jener Fälle, da es nichts zu Sehen und nichts zu Erkennen gab. Nichts war geblieben von Quintus Flavius Gracchus oder auch Quintus Tullius, nichts außer bloßer Erinnerung im Kopfe des Mannes, welcher ihm so similär war gewesen und doch so disparat. Und dennoch machte gerade diese Erinnerung, mochte sie noch so gering sein, gepaart mit irrationaler Furcht ob rastloser Seelen, die Bestattung des Mannes notwendig, welcher einst Gracchus' Zwilling gewesen war und welchen dieser nun neben seiner Base ertrunken am Grunde des Meeres glaubte. Dennoch war Quintus nicht nur Gracchus' Bruder gewesen, sondern gleichsam ein Schatten auf der Ehre der Familie, eine Person wohl, ob welcher er durfte Trauer tragen in seinem Herzen, ob deren Existenz jedoch kein Wort durfte bekannt sein und werden. Einzig Aquilius begleitete ihn darum an diesem düsteren Tage zur Bestattung, selbst auf die Klageweiber hatte er verzichtet, waren diese doch ohnehin nur Mittel und Zweck, die Trauer der Frauen zu verbergen, was in diesem Falle jedoch entbehrlich war. Schweigend verließen die Männer mit der aufgebahrten Leiche aus Stroh den Hof der Villa Flavia und schlugen den kürzesten Weg ein aus der Stadt hinaus und zur Straße der Gräber hin. Obgleich er sich nicht konnte erinnern, so wusste Gracchus, dass er diesen Gang schon einmal hatte angetreten, seinen Bruder zu Grabe zu tragen, und schon damals war es ein falscher Leichnam gewesen, ein Gedanke der tatsächlich hätte amüsant sein können, wäre nicht die Gesamtsituation so unglaublich deplorabel gewesen.
iter postremum - von der Villa Flavia zur Gräberstraße
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Kaum einen Menschen trafen sie an, bis sie zum Verbrennungsplatz gelangten, vielleicht nahm auch nur Gracchus kaum einen Menschen wahr, welchem sie begegneten. Er war gefangen in seinen Gedanken, welche wirr und gleichsam leer waren, gefüllt von devastativer Ödnis, vom unverständigen Verlangen Ordnung zu schaffen. Ein Scheiterhaufen war bereits errichtet worden, bedeckt mit den dunklen Blättern eines Nussbaumes, auf welchem der stroherne Körper nun wurde gebettet. Die Trägersklaven traten zur Seite, jene mit den Fackeln hielten diese bereit. Da aufgrund des fehlenden Leichnams auch ein Finger fehlte, den in der Erde zu begraben wäre möglich gewesen, um den Platz der Verbrennung rituell zu reinigen, da aufgrund des fehlenden Leichnams auch kein alternativer Teil davon konnte in der Erde begraben werden, kniete sich Gracchus nieder und hob mit seinen Händen eine kleine Kuhle aus, um darin einen Teil von sich selbst zu begraben, da er seinem Bruder im Körper doch so unglaublich ähnlich war, dass zumindest dies er würde für ihn tun können. Er zog eine kleine Schere aus einer Falte seines Gewandes und begann, seine Fingernägel damit zu kürzen. Erst als zehn schmale, halbmondförmige Nagelfragmente in der Kuhle lagen, steckte er die Schere fort, schob die ausgehobene Erde darüber und weihte die Erde.
"Dii inferiores, die Ihr auf diesen Orte Ansprüche erhebt, gebt diesen Boden frei für die Tat, welche folgen muss, wie es Sitte ist, wie es Pflicht ist, wie es dem Toten gebührt. Unterirdische, nehmt Euren Anteil, der Euch gegeben, wie es Euch gebührt, und gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss."
Langsam erhob sich Gracchus, ein wenig Erde in der Hand, trat an den Scheiterhaufen heran, an das in Stoffe gehüllte Stroh, welches stellvertretend für seinen Bruder lag, und streute die Erde auf die symbolische Stirn. In einem feinen Kreis drückte sich der Abdruck einer Münze durch den Stoff, welche zwischen das Stroh war geschoben, auf dass der Tote würden den Fährzoll entrichten können. Es brauchte nicht viel für Gracchus, um sich vorzustellen, dass dort ein Körper lag, welcher ihm selbst so ähnlich, dass unter dem weißfarbenen Leinen ein Gesicht war verborgen, das kaum von dem seinen zu unterscheiden war.
"Nichts kann ich dir mitgeben, was dein Eigen war. Nichts kann ich dir mitgeben, was von dir geblieben ist. Im Leben blieb es dir verwehrt, im Tode wird es dir nichts nützen und doch will ich dir geben, was dir zusteht, was dein Erbe ist."
In einer andächtigen, fließenden Bewegung zog Gracchus einen Ring von seinem Finger, einen goldenen Ring mit dem Siegel der Flavia, und legte ihn dem stellvertretenden Leichnam auf die Brust. Sodann drehte er sich um und winkte den Sklaven mit der Fackel heran, um sie entgegen zu nehmen. Ein kurzes Zögern nur war in ihm, dann wandte er sein Gesicht ab und hielt die Flammen an den Scheiterhaufen, bis dass dieser Feuer fing.
"Leb wohl, Quintus. Eines Tages werden wir uns wieder sehen und dann werden wir all das können teilen, was uns in diesem Leben nicht möglich war."
Knisternd verbreiteten sich die züngelnden Flammen durch das Holz, griffen auf Stroh und Leinen über und verschlangen Ast um Ast, straften den Leichnam Lügen mit dem angenehmen Odeur nach abgestorbenem Fleisch der Bäume. Erst als die Hitze zu groß wurde trat Gracchus einen Schritt zurück, doch selbst die Hitze des Feuers hatte die Tränen nicht verdampfen lassen können, welche sich aus seinen Augen hatten gestohlen, kleine, transluzent glitzernde Perlen, welcher er sich nicht einmal bewusst war, geschweige denn, welche er hätte können erklären. -
Wenig verband mich mit dem Verstorbenen, und wäre es nicht der ausdrückliche Wunsch meines Vetters gewesen, hätte ich mich nicht hierher begeben und mir diesen Trauerzug angetan. Meine Ansicht über den Zwilling meines Vetters hatte sich nicht verändert, ein Mann, der in letzter Konsequenz nur die angenehme Seite des patrizischen Lebens genießen wollte, ohne sich der unangenehmen zu stellen, konnte meinen Respekt nicht finden. Dennoch, ich war hier, um ihm eine Stütze zu sein, denn Manius schien aufrichtig um diesen verlorenen Teil seiner Selbst zu trauern. Vielleicht würde er immer um diesen wertlosen Kerl trauern, weil sie in Banden aneinander geknüpft waren, die von den Göttern so bestimmt worden waren, nicht von Menschen, und darob unlösbar bis in die Ewigkeit existierten. Wer konnte schon ahnen, was im Kopf eines Menschen vor sich ging, der genauso aussah wie man selbst, mit denselben Gaben geboren, und doch wie ein einfacher Mann aufgezogen, ohne Pflicht und Glanz gleichermaßen?
Schweigend hatte ich den Marsch mit verfolgt, war an Manius' Seite gegangen, und meine Gedanken verloren sich in die Zeit, in der ich meinen Eltern auf diese Weise gefolgt war. Wenig war mir von meiner Familie geblieben, und zumindest darin konnte ich Manius' Gefühle nachempfinden, dem das Schicksal den Bruder genommen hatte, den er nicht einmal wirklich kennenlernen konnte. Und letztendlich ... dieser Schatten meines Manius war ein Flavier gewesen, keiner, der mir sympathisch geworden wäre, dessen war ich mir sicher, aber doch ein Flavier. Es war die Pflicht unserer Familie, diesen letzten Gang würdevoll zu gestalten und das zu tun, was er im Leben nicht bekommen hatte - ihm einen Platz in unserer Mitte zu geben, wie es ihm zustand. So sagte ich auch nichts, als Gracchus seinen Siegelring löste und ihm dem vorgetäuschten Leichnahm mitgab.
Ich gab ihm nichts mit ausser einem stummen Wunsch - dass er dort, wo er jetzt war, einen besseren Ort finden würde, als er ihn wohl im Leben gehabt hatte, dann wartete ich ab, bis die Flammen begannen, sich zu nähren, emporschlugen und der beißende Qualm in den Himmel hinaufstieg, von der Verbrennung kündend. Schweigend legte ich meine Hand auf Gracchus' Schulter, und so verharrten wir eine ganze Weile ohne ein weiteres Wort, jeder für sich in seinen Gedanken versunken.
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Von sanft schmeichelndem Wind wurde der graufarbene Rauch empor getragen, legte sich über die nahende Dämmerung und bedeckte das Land um das Feuer herum mit einer hauchzarten Patina aus Asche. Stumm stand der kleine, fast gänzlich unpersönliche flavische Tross um die tanzenden, sich windenden Flammen, durchbrach mit keinem Laut das Knistern der rotfarbenen Glut, das Knacken der sich verzehrenden Äste oder das ferne Geflüster des Windes. Fernes Geflüster, des Odems rastloser Seelen gleich, anklagende Worte im sanft über die Gräser dahin streichenden Hauch, eine zarte Berührung im Nacken, ein leises Wispern nur in Gracchus' Ohr, das kalte Metall einer Klinge an seiner Kehle, gleichsam die warme, zärtliche Berührung der Hand auf seiner Schulter. Länger und länger zogen sich die Schatten der Bäume als die zum Horizont eilende Sonne sich anschickte, den Tag zu verlassen, als der Tag sich anschickte der Nacht zu weichen, als mit einem erlösenden Seufzen Gracchus schlussendlich die Glut aus einer Amphore Wein heraus losch. Ungeachtet des schlammigen Grundes sank er erneut hinab auf die Knie, schob die fahlfarbene Asche, die letztlich gebliebenen Reste zusammen und schöpfte sie mit bloßen Händen in die prächtige Urne, welche Sciurus ihm geöffnet hielt.
"Unwirklichkeit"
, murmelte Gracchus leise, in tonloser Couleur.
"Ein Bruder aus Stroh, ein Bruder aus unzureichender Erinnerung. Der zweite, wie auch der Rest der Familie. Nebulöse Fetzen, fahle Fragmente sind alles, was von meiner Familie bleibt, nicht einmal Erinnerung."
Aufgeschreckt durch einen klandestin die Stille durchklingenden Ton, verursacht durch das Schließen der Urne, erhob sich Gracchus und nahm das Gefäß an sich.
"Ein Bruder, geformt aus einem Häufchen Asche."
Stille legte sich erneut um die Szenerie, der Weg zum flavischen Familiengrab war nicht weit, doch war er zu Gehen. Ein Schlüssel aus Silber öffnete die Gruft, ein Odeur nach Ewigkeit schlug daraus entgegen, nicht nach Tod und Vergehen, doch nach Vergessen. Da Gracchus nicht länger wollte verweilen, als die Notwendigkeit dies gebot, suchte er nicht nach jener kleinen Urne, welche bereits schon einmal den Körper seines Bruders hatte beherbergt, und welche ob dessen unrechtmäßig hatte in diese Gefilde Einzug gehalten, denn da sie so lange ihre Pflicht hatte getan, mochte er nicht sie nun aus dem sakralen Raume entwenden, ohnehin nicht wissend, was damit hernach zu tun sei. Nach der Urne, welche noch immer nicht den richtigen Körper barg, doch für das Labsal des Geistes würde Sorge tragen, fanden Gaben für ein weiteres Leben ihren Weg in die Kruft, all dies, was ein vergangener Mensch mochte im Elysium benötigen, sodann schloss das kleine Mausoleum seine Pforte, wurde verriegelt für viel zu kurze Zeit, da doch Leontiens Körper würde bald ihrem unbekannten Vetter müssen folgen. Hastig, doch sorgsam wurde die rituelle Reinigung zelebriert, dass nichts an ihnen bliebe haften von diesem defätistischen Ort.
"Unwirklichkeit"
, flüsterte leise noch einmal Gracchus und wand sich sodann, um mit Aquilius, gesäumt und gefolgt von den Sklaven, den Weg zurück zur flavischen Villa hin anzutreten. Kein Leichenmahl würde dort folgen, und doch würde die Existenz Quintus' Tullius' auf dieser Welt damit endgültig ihr Ende finden.~~~ finis ~~~
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Einer dunklen, graufarbenen Masse gleich hingen die abendlichen Wolken über der Stadt der sieben Hügel, ließen die prächtigen Gebäude matt schimmern in trister Seelenlosigkeit, verschluckten das Glitzern des Tibers, welcher auf seinem fahlen Wasser neben der fastidösen Marmorierung des Himmels nur graufarbene Mauern spiegelte, graufarbenen Stein und graufarbene Menschen in sich verschluckte. Mit einem Krächzen erhob sich ein schwarzfarbener Rabe vor der Porta Appia, verlor durch den herannahenden Trauerzug in seinem Mahle gestört die Beute aus dem Schnabel, so dass der Körper der halb zerfressenen, pelzigen Maus achtlos neben dem steinernen Pflaster der Straße liegen blieb. Der Wagen, auf welchem der stroherne Leichnam aufgebettet lag, hatte gerade erst das Tor der Stadtmauer passiert, als die Wolken in einem tonlosen Ächzen unter ihrer Last barsten und ihren seit Beginn des Tages aufgestauten, nasskalten Inhalt auf die Erde hinab entließen. Dicke, runde Regentropfen platschten auf die Instrumente der Musikanten, klatschten auf die schwarzfarbenen Kutten der Klageweiber, prasselten hinab auf die Mimen, bedeckten für einige Herzschläge lang den weißen Stoff um den Leichnam mit dunkelfarbenen Punkten, bis dass das gesamte Tuch war durchtränkt. Unbarmherzig bedachte der Regen die flavische Familie, eilig wurden Kapuzen über Köpfe gezogen, denn obgleich nach einigen Schritten der Regenguss in seiner Härte nachließ, so schien ein beständiger, feuchter Schleier doch den gesamten Abend überziehen zu wollen. Starr blickte Gracchus auf die Pech getränkten, im Wetter flackernden Fackeln, welche vor der Stadtmauer waren entzündet worden. Die Kapuze seines Mantels lag über seine Schultern, unberührt, sein Haar hing in feuchten Strähnen ihm in die Stirne, Tropfen perlten von seiner Haut - seit der Barmherzigkeit Iuppiter Pluvius' längst nicht mehr nur extrinsische. Es war nicht weit genug bis zum Familiengrab der Flavia, der Verbrennungsplatz seitlich davon war bereits gerichtet, so dass der Leichnam, welcher keine Leiche enthielt, von dem Wagen direkt konnte auf den Scheiterhaufen gebettet werden, der im Hinblick auf die Wetterlage bereits beim Errichten mit Pech und Öl war durchtränkt worden, so dass auch bei Nässe die Zweige würden Feuer fangen. Dunkle, braunfarbene Blätter bedeckten das Holzgebilde, kein einziges von ihnen war welk, frisch von den Bäumen waren sie gepflückt worden, trotz der Jahreszeit. Nachdem die Trauergäste sich hatten um den Scheiterhaufen versammelt - die flavische Familie zuvorderst, Klientel dahinter - trat Salambó, die einstige Leibsklavin der Leontia zu Gracchus heran und überreichte ihm einen kleinen Beutel. Da kein Anteil des Körpers konnte von der zu Bestattenden Leiche genommen werden, um den Platz der Verbrennung zu weihen, so mussten bereits vor längerer Zeit verlorene Anteile des Wesens dies Aufgabe erfüllen. Diffizil war es gewesen, eine Spur Leontias im Hause zu finden, doch letztlich hatten sich die Leibsklavin daran erinnert, dass ihre Herrin noch immer ihre Milchzähne aufbewahrt hatte in einem hölzernen Kästchen mit goldenen Verschlägen, zusammen mit einem getrockneten Blumenstäußlein, einer alten Kinderpuppe, Muscheln, einem getrockneten Seestern und einer bunten Haarschleife. Den Beuteln mit Leontias kindlichen Zähnen in Händen kniete sich Gracchus auf die Erde nieder, beachtete nicht den aufgeweichten Zustand des braunfarbenen, seit Jahrhunderten mit Asche gedüngten Erdbodens, welcher sich in wenig klandestiner Weise in den Stoff seines Mantels drückte. Tief sog er die feuchte Luft um sich herum in seine Lungen, versuchte seine Stimme zu klären für jene Tat, welche folgen musste.
"Dii inferiores, die Ihr auf diesen Orte Anspruch erhebt, gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss, wie es Sitte ist, wie es Pflicht ist, wie es der Toten gebührt. Unterirdische, nehmt Euren Anteil, der Euch gegeben, wie es Euch gebührt, und gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss."
Mit bloßen Händen hob Gracchus eine Kuhle im Grund aus, legte den Beutel hinein und bedeckte ihn wiederum mit feuchter Erde, bevor er seine Hand noch einmal im Erdreich versenkte, mit einer Hand voll dessen sich erhob und die braunfarbene, matschige Masse behutsam auf die symbolische Stirn des Leichnames gab, beinah mit der Farbe der Erde darauf malte. Als er sich umwandte, trat sein Sklave Sciurus zu ihm hin, reichte ihm ein Tuch, um seine Hände zu säubern, und schlug aus einem gewachsten Leinenstoff eine lederne Transportrolle für Schriftstücke. Aus hellem Hirschleder war sie gefertigt, edel, mit geprägten, goldfarben gemalten Verzierungen, kleine Szenerien aus dem Leben der griechischen Musen, eigens für diesen Augenblick angefertigt, eigens dazu geschaffen, im Feuer der Bestattung zu vergehen. Ohne das Innere zu enthüllen, legte Gracchus das Behältnis neben den symbolischen Leichnam und trat zurück, um den übrigen Trauernden Gelegenheit zu lassen, ihre Gaben der Verstorbenen mitzugeben. -
Aus der Stadt gekommen, schlug uns das Wetter mit aller Macht den Regen ins Gesicht. Das peitschende Wasser, das Heulen des Windes. Jene Götter meinten es nicht gut mit diesem Leichenzug. Viele hoben ihre Kappen auf den Kopf. Schützten so das Haar. Doch ich empfand dabei kein Leid und ließ den Regen gewähren. Nur kurz war mein Blick noch frei, bald schon glasig von den Regenperlen. Welch Macht vollführten die Götter zu unser Angesicht. Welch grausame Wahrheit lag noch im Verborgenen, das sie ihre Instrumentalien schickten, um unsere Anteilnahme zu stören. Ich stapfte vorwärts, hielt das kleine Beigabensäckchen vor dem Bauch und hoffte es würde Leontia an ihre Familie erinnern, wenn sie in den Strahlen der Monde und Sterne saß, um hinab zu sehen und die weiten himmlichen Gefilde genoss. Die Grabstätte der Gens war erreicht. Gracchus war es, der den Anfang machte. Als sein Bruder folgte ich ihm und öffnete nur noch einmal kurz das Ziegenledersäckchen. Ein Blick auf die beiden kleinen Holzfigürchen. Die kleinen detailiert gearbeiteten Brüder aus Elfenbein. Ich schob sie zurück in die sichere Höhle aus Ziegenleder und schnürte den Eingang zu. Mein vertränter Blick glitt über die Replikation... ein kurzes kaum hörbares "warum." krächtzte es wie eine Krähe aus meinem Mund. Ich trat beiseite, die Augen unvermindert auf die Strohpuppe gerichtet. Den Körper geschützt unter einen Schatten geschoben. Kein Grund gab es dafür sich zu verstellen, doch die Tränen hatten das Regenwasser in meinem Gesicht abgelöst. Hemmungslos rannen sie hinunter und ich tat nichts dagegen... warum auch?
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Wieder waren wir hier, und wieder war es ein Anlass, der die Herzen traurig werden ließ - nur, dass es diesmal nicht ein ausgestoßener und vergessener Nachkomme der gens Flavia war, der zu Grabe getragen wurde, sondern eine strahlende junge Frau, deren Leib auf See verschollen war. Jener Frau, die Gracchus allen anderen voraus fast vergöttert hatte, und auch ich hatte ihren Reiz auf jener Feier gespürt, bei der sich Aristides mit Claudia Epicharis verlobt hatte. Nun war Leontia tot, und würde nie wieder in Ohnmacht - und damit meine Arme - fallen. Es war ein so endgültiger Weg, und ich wollte weder sprechen noch etwas singen, nur mit meinen Gedanken allein sein. Auch ich hatte eine Gabe für sie mitgebracht, die sie eine Liebhaberin der schönen Künste gewesen war, eine Abschrift der 'Metamorphosen' Ovids mochte sie in die Ewigkeit geleiten, um sie dort zu erfreuen, wohin wir nicht gelangen konnten.
Und was für ein Werk, um einen Wandel, eine Veränderung mitzutragen! Manchmal konnte man sich nur wundern, wie aktuell bisweilen solcherlei Dinge waren und wieviel man doch daraus schöpfen konnte. Der Regen klatschte auf mein Haupt, und ich fühlte, wie die Nässe durch meine Kleidung drang, aber es war mir gleich, ob ich frieren würde, denn mein Herz war lägst kalt geworden an diesem Tag. Nach Lucullus legte ich meine Gabe nieder und verabschiedete mich stumm von jener Frau, die ich niemals wirklich hatte kennenlernen können. Mochten die Ewigen ihr Strahlen nun genießen, ich war mir fast sicher, dass sie Leontia deswegen der Welt genommen hatten. Still trat ich an Gracchus' Seite und blieb dort stehen, auch wenn wir uns nicht berührten, er sollte wissen, dass er hier nicht alleine war und nicht alleine sein würde.
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Mit jeder Gabe lösten sich mehr und mehr Tropfen aus Gracchus' Augenwinkeln, mehr noch, als der Regen auf seiner Haut hinterließ. Ein Zittern hielt seinen Körper umfasst, die starre Kälte und die bedrückende Anwesenheit der Unterirdischen, die er glaubte in jedem Schatten, jedem Lumineszieren am Horizont und jedem Windhauch zwischen den Zweigen des Scheiterhaufens zu erkennen. Viel zu lange dauerte es, bis endlich alle Gaben waren abgelegt, doch hätte nicht lange genug es können andauern, da unweigerlich das Ende dessen nur zum Fortgang des Zeremoniells und dem devinitv Unwiederbringlichen führte. Keiner der Anwesenden war Leontia in Verwandschaft nah oder fern, doch niemand hatte Gracchus' Anspruch auf die Fackel in Frage gestellt, so dass nun von einem Sklaven er jene entgegen nahm, die ob des Regens beständig leises Zischen von sich gab, und erneut vor trat zum Scheiterhaufen hin. Er hoffte so sehr, dass der Geist seiner Base mit der Befreiung der Stofflichkeit des stellvertretenden Leichnams würde der Welt sich entziehen können, der entrichtete Tribut dem Fährmann würde gereichen, sie in das Reich der Toten überzusetzen, auf dass sie die Ruhe würde finden können, welche ihr zustand. In klandestiner Weise schniefte Gracchus und sog einen Atemzug lang tief die feuchte, kalte Luft in seine Lungen, um seine Stimme für die Totenrede von der Larmoyanz seines Wesens zu befreien. Keine großen politischen Taten wollten gerühmt werden, keine militärischen Erfolge, keine juristischen Schachzüge, nicht einmal die Perfektion einer Ehe - nur ein Mensch, ein Kleinod, wie die Welt es nicht wieder würde finden. Und doch war so viel mehr sie für Gracchus in ihrer Existenz gewesen - ein Muse, seine Muse - und ihr ganz allein galten die einzigen Worte seines Schaffens, welche je er hatte zu einem Ende geführt. Sie mochten nicht besonders sein, nicht exzeptionell, doch sie gehört ihr allein, mit ihr würden sie verbrennen, in tief schwarzer Tinte auf edelstes Pergament gebannt und in der ledernen Rolle verborgen, ein einziges Mal nur in die Welt entlassen, für die Unendlichkeit, für den Augenblick, für sie allein, um hernach in ewiges Schweigen sich zu ergeben.
"Lebewohl geliebte Leontia, mögest du ewig in meinem Herzen leben,
Denn du warst die Kraft, welche zusammen hielt, was zerrissen wurde,
Dein Flüstern war wie der zarte Hauch der Sonne über dem Land.
Nun gehörst du dem Elysium und die Sterne rufen deinen Namen.Es scheint, als lebtest du dein Leben wie eine Flamme im Wind,
Niemals verschwandest du mit dem Sonnenuntergang,
Nicht wenn der Regen die Welt benetzte.
Ewiglich werden deine Spuren hier verharren,
Entlang der Wege dieses Lebens,
Deine Flamme erlosch, doch die Erinnerung bleibt.Dein entzückender Esprit ging verloren,
Leer sind die Tage ohne dein warmes Lächeln,
Das güldene Strahlen deiner Augen
Und den sanften Druck deiner Berührung.
Selbst wenn ich versuche meinen Blick zu verschließen,
Die Wahrheit bringt Tränen in meine Augen
Und all diese Tränen können nicht ersetzen
All die Freude, welche du in deinen Jahren gabst.Lebewohl geliebte Leontia, mögest du ewig in meinem Herzen leben,
Du warst die Kraft, welche zusammen hielt, was zerrissen wurde,
Dein Flüstern war wie der zarte Hauch der Sonne über dem Land.
Nun gehörst du dem Elysium und die Sterne rufen deinen Namen.Lebewohl, geliebte Leontia,
Von dem Geist, welcher verloren ist ohne deine Seele,
Welcher die Flügel deines Geistes vermissen wird,
Mehr als du je wissen wirst.*"
Mit zitternder Hand hob Gracchus die Fackel an den Scheiterhaufen, wandte den Blick ab. Zäh nur wollten die Zweige im Nieselregen sich entflammen - als wollten sie protestieren gegen der Base Tod - erst als er halb schielend eine Stelle fand, an welcher Pech und Öl dem Brand nach halfen, glitten langsam die Flammen auf den Haufen und schließlich auf den Leichnam über, stets jedoch begleitet von zischendem Prasseln und beißendem, graufarbenen Qualm. Die rund um den Verbrennungsplatz stehende Menge teilte sich, um dem Rauch auszuweichen, quälend langsam nur verzehrten die Flammen das Holz, während stetig das kühle Nass die Umstehenden durchnässte, und einzig vorteilhaft war, dass das auf den Haufen geworfene Parfüm nicht musste den beißenden Geruch von schwelendem Fleische überdecken. Als der Scheiterhaufen endlich so weit war herunter gebrannt, dass man mit Wein ihn konnte ablöschen, hatte längst Unruhe in die Trauerschar überkommen, manch einer trat von einem Bein aufs andere, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben, manch einer rieb fortwährend seine Hände und manch einer mochte gar bereits leise mit den Zähnen klappern. Nichts davon hatte von Gracchus Besitz ergreifen können, welcher die Kälte in sich einziehen ließ, ihr Platz schuf, dass nichts je wieder sie ihn würde vergessen machen - nur das beständige Zittern seines Leibes wies auf diese Kälte, als er sich vor der Asche niederkniete, mit seinen Händen sie in die Urne aus grünfarbenem Marmor schöpfte. Nicht weit entfernt wurde alsbald das flavische Familiengrab geöffnet, ein silberner Schlüssel ließ ein in die Gruft, welche ihren gierigen Schlund preis gab, ein weiteres Mitglied der flavischen Familie zu empfangen. Verschiedene Grabbeigaben fanden neben der Urne ihren Weg in das Grabmal hinein, komplettierten die Ausstattungen, welche dort für längst Verstorbene bereits vor Jahren waren hinterlegt worden, so dass auch Leontia im jenseitigen Leben bestens würde versorgt sein. Um das schlussendlich wieder geschlossene Grab herum nahmen die Trauernden ein letztes Mal Aufstellung, auf dass sie die rituelle Reinigung konnten empfangen, obgleich die wenigen Tropfen, welche von dem in der Abenddämmerung fahlfarbenen Olivenzweig auf ihre Leiber gelangten, kaum noch konnten durch die Nässe des Regens dringen.
"Ilicet!" fuhr scharf das Wort einer der sizilianischen Klageweiber durch die windige Dämmerung, doch kaum einer der Gäste wagte seine Stimme für ein lautes Vale zu erheben, als sie mit leisem Gruß sich vom Grabmal entfernten. Als einer der letzten verließ Gracchus den Ort, an welchem nichts als der Tod seiner Familie beständig war, sein Abschied nur ein Hauch im Wind.
"Vale, geliebte Base."~~~ finis ~~~
*Gut geklaut ist halb gedichtet.
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Schritt um Schritt näherten Lucanus und Gracchus an den parentalia nach dem Opfer der Virgo Vestalis Maxima sich dem Familiengrab der Flavier, ließen die Mauern der Stadt hinter sich und folgten andächtig den pilgernden Menschen, welche gleich ihnen zu den Gräbern ihrer Anverwandten sich begaben. Schwarzfarbene Krähen saßen am Rande der gepflasterten Straße in den noch immer winterlich kahlen Bäumen, krächzten ihr klangloses Lied in die milde Luft hinaus und zogen in Schwärmen über das Land. Am Abend, wenn die frommen Römer längst zuhause in ihren warmen Casae und Villen würden soupieren, würden auch sie ihren Teil am Festmahl auf den Gräbern erhalten.
"Obgleich die göttlichen Flavier bei weitem prestigeträchtiger sind, so ist es mir an den parentalia stets ein stärkeres Bedürfnis, nicht am Tempel in der Stadt Gaben zu hinterlegen, sondern hier vor den Mauern Roms, dort, wo unser Ursprung ist."
Dort wo die Asche seiner Eltern aufbewahrt war, ebenso wie auch jene der stellvertretend für seinen Bruder und seine Base verbrannten Körper, und auch Platz zum Gedenken an seine Schwester war.
"Manches mal nimmt das Leben äußerst sonderbare Wendungen."
Mehr zu sich selbst denn zu seinem Neffen sprach er und blickte zum hügeligen Horizont, dorthin, wo es stets schien, als könne ein Mann auf der Erde stehen und den Himmel berühren. Einst hatte er davon geträumt, jener Mann zu sein, doch je älter er geworden war, desto deutlicher hatte sich ihm offenbart, dass er nicht einmal seine Welt hinter sich konnte lassen, um jenen Punkt zu erreichen. Nun träumte er davon, dass Quintus den Himmel berührte und kantige Schatten darauf verteilte, dass Leontia mit feinem Pinselschwung flaumige Wolkentupfen dorthin malte, und manches mal gar träumte er, dass er endlich auszog, es ihnen gleich zu tun. -
Also ehrlich: ganz wohl ist mir nicht. Nein, meine Vitalfunktionen sind völlig im rechten Bereich, alles fröhlich, wie man so sagt. Obwohl wirklich fröhlich ist mir nicht zumute. Ich sehe schon einen endslangweiligen Nachmittag an mir zähflüssig vorüberhatschen, Stunde um Stunde an dieser, dann an jener Grabinschrift verbringend. Ein Hund ist er schon, mein Onkel Gracchus, aber ich weiß nicht genau, welche Rasse. Molosser können wir streichen, Basset*) kommt in die Endausscheidung.
Schweigend in seinen Monolog vertieft, gehen wir - ich mit hinterm Rücken gekreuzten Händen, um meine Haltung und damit meine Aufmerksamheit zu verbesser, nicht, daß er och beiläufig eine Frage einflicht, die Gräberstraße entlang. Hie und da nicke ich, mein Kopf wackelt alleine schon deshalb, weil ich versuche, nicht auf die Rillen der Pflastersteine zu treten und dadurch ständig um Gleichgewichtsausgleich bestrebt bin.
"Tatsächlich, Onkel. Das Leben nimmt manchmal äußerst sonderbare Wendungen", ich denke, Flavius Gracchus ohne mich in Gefahr zu begeben, in dieser Weltsicht unterstützen zu können. Dagegen ist schließlich absolut nichts einzuwenden. Diese "sonderbaren Wendungen" kenne ich selbst. Auch wenn ich "sonderbar" eher für eine Begegnung mit Untoten, von Geisterhand bewegte Silberkannen, meinen Kontostand reservieren würde. Aber, warum nicht auch für das Leben im allgemeinen?
*) Zwar eine alte, ehrwürdige Hunderasse, aber trotzdem erst seit der Neuzeit.
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Wie Mahnmale der Vergänglichkeit schoben sich die Gräber alter Adelsfamilien an ihnen vorbei, bis schlussendlich auch jenes der flavischen Familie in Sichtweite kam, nicht übermächtig, nicht protzig, elegant und bescheiden, gleichsam von exzeptioneller Qualität. Man wusste, woher man kam, und die Welt wusste ebenso darob, man musste ihr dies nicht gleich eines Scheunentores vor den Kopfe schlagen. Je näher sie kamen, desto mehr schien Gracchus als hätte die Sonne beschlossen, sich für diesen Tage ungeachtet der frühen Stunde bereits vom Himmel hinfort zu schleichen, einer trüben Düsternis die Bahn zu bereiten, welche weit adäquater für solcherlei Stunden war. War es feiner Nebel, welcher sich um die Steine legte, die Bäume zu schwarzfarbenen Konturen verkommen ließ, oder war dies bereits ein Schleier aus gräulichfarbenem Nieselregen? Wie ihm zum Abschied winkende Freunde schwankten die Schatten der Gräser im trüben Licht, eisig und schneidend umwehte der kalte Hauch des Windes seinen Nacken, kroch seine Glieder entlang bis in sein Herz, welches mit fester Hand er umfasste.
'Du', säuselte er. 'Du wagst es dieser Tage hier zu erscheinen! Dies sind meine Tage, meine Freiheit, doch du forderst sie ein für dein Gewissen! Mir hast du mein Leben geraubt, willst du nun auch noch meinen Tod?'
'Manius, theuerster Manius, wieso hast du mich hinfort gesandt?' säuselte sie. 'Es ist so kalt hier, so feucht und einsam. Theuerster Manius, wieso?'
'Wo ist das Festmahl?' säuselte er. 'Ist das alles? Ist das deine Pflichterfüllung? Eine Schande bist du für die gesamte Familie, vom Anfang bis zum Ende, und jedes Jahr erneut!'
'Ich habe dich geliebt, Manius,' säuselte sie. 'Doch du wolltest mir nie verzeihen. Nun ist es zu spät, zu spät auf immer und ewig.'
'Mein Blut für dein Leben,' säuselte er. 'Sieh, was daraus geworden ist. Vergeudet mein Blut für dies nichtige Leben.'
Schattige Hände griffen nach seinem Herzen und drückten sukzessive es zusammen, bis dass er glaubte, es müsse zerspringen. Die Luft in seinen Lungen wollte nicht in seinen Körper über gehen, in seinem Kopf begann ein dröhnendes Pochen und seinen Leib drängte danach zu zerfließen, sich aufzulösen in die einzelnen Partikel seiner Bestandteile. Er schloss die Augen ehedem ihm blümerant konnte werden, sog die warme Luft durch seine Nase ein und versuchte sich selbst in seinem Inneren zu finden. Als die Augen er wieder öffnete umschmeichelten die Strahlen der Sonne die Szenerie, der leichte Windhauch trieb zarte, milchfarbene Wolken über den blassblaufarbenen Himmel und ein Spatz tanzte fröhlich auf dem Gemäuer des flavischen Grabmals. Nur ein einziger Geist der Flavia war übrig geblieben, doch er war kein Geist, kein Hauch im Wind der Zeit, kein Schatten in der Dimension der Vergänglichkeit, war so real wie Gracchus selbst. Derangiert blickte er Lucanus an und nur allmählich tropfte der Klang der Erkenntnis in seine Sinne, dass es einen Grund gab, weshalb er hier war, es einen Grund geben musste. Der Spatz hüpfte ein Stück auf dem graufarbenen Stein, um schlussendlich in die Luft sich zu erheben und am endlosen Himmel zu verschwinden als lebloser Punkt am Horizont. Einige gingen, andere kamen, und an Tagen wie diesen trafen sie alle aufeinander, die einen und die anderen. Dennoch fühlte Gracchus eine seltsame Leere in sich, denn es schien ihm als stünde er zwischen ihnen und doch völlig allein. Die einen hatte er bereits enttäuscht, die anderen würde er enttäuschen, und jene, welche Teil seines engeren Kreises waren, mieden ihn längst. Wie ein im Wind schaukelndes Blatt hatte Lucanus sich von ihm durch die Lüfte tragen lassen, ziellos, wahllos, mit der einen wie mit der anderen Richtung zufrieden, so dass er an diesem Platze eben so fehl und richtig war, wie an jedem anderen dieser Welt. Langsam wandte Gracchus sich um, so dass die Sklaven mit den Gaben vor traten. Milch, Öl und dazu ein Mahl, Picknick für Verstorbene. Umständlich zog Gracchus sich eine Falte der Toga über den Kopf, nahm eine Kanne entgegen und trat auf die verschlossenen Pforten der Gruft hin zu.
"Di parentes der gens Flavia, wie dies Euer Recht ist an diesen Tagen, nehmt unsere Gaben, die wir Euch offerieren an diesen Tagen da wir Euch nicht vergessen haben, zum Eurem Wohle, wie Euch dies zusteht, die Ihr mit Eurer Gunst all jene beschenkt, die nach Euch gekommen, di parentes, gütige Vorväter der flavischen Familien, zu Eurem Wohle unsere Gaben."
Umsichtig und bedächtig ließ Gracchus das schimmernde Öl - kostbares Olivenöl aus den Früchten von flavischen Plantagen - durch eine kleine Öffnung im Stein zu seinen Füßen in den Boden hinab sickern. Lucanus hatte er bereits wieder vergessen. -
Der Erfinder des Sprichwortes "Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben" ist ein guter Bekannter meines Onkel Gracchus. Was glücklich und gedeihlich begann, die samtpfötige Geborgenheit eines Glücks mit feuchter Schnauze endet nun kalt und trocken, was voll klarer Helle war, endet im zwielichtigen Trüben.
Am liebst hätte ich Manius Flavius Gracchus, meinem entferntesten Großonkel und nächsten Gönner den Korb mit den Gaben für unsere Vorfahren über den Schädel gezogen und ihn gleichzeitig umarmt und an mich gedrückt. Daß dabei das kostbare Öl über ihm ausgegossen werden würde, scheint mir kaum der Rede wert, ist Onkel Gracchus doch manchmal sowenig lebendig wie unsere Ahnen, beiden fehlt die Diesseitigkeit. 'Nicht einmal jetzt begleitet ihn meine Großtante', dämmert es mir. Liebt se ihn nicht? Oder er sie nicht? Nimmt er sie wahr? Existiert irgendwas für Flavius Gracchus außer Flavius Gracchus? Existiert Flavius Gracchus für irgendjemanden?
Wie er seinen Kopf bedeckt, das Öl vor unserem Familiengrab ausgießt, ein klarer, dunkelgrün-brauner Strahl, der gerade wie ein Stab bodenwärts fließt, ist er der letzte seiner Art, der Tote, der die Toten begräbt, das Licht löscht und die Tür der Gruft hinter sich von innen schließt? Oder löst er sich auf im nachmittäglichen Nebel, lösen sich seine Atome, die ihm alle zusammen Gestalt geben, eines nach dem anderen seine Bindung und verflüchtigen sie sich wie Wasser, das zu Dampf wird?
Er dauert mich so. Wie, um die Gracchischen Atome an ihrem Auseinanderfallen zu hindern, trete ich neben ihn, greife seine freie Hand und drücke sie liebevoll.
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Eisig hauchten die Verstorbenen ihren Atem in Gracchus' Nacken - auch larvae konnten di parentes sein und umgekehrt-, griffen mit kalter Hand nach seinem Leib und suchten durch die Öffnung im Grunde ihn zu sich hinab zu ziehen gleich der öligen Flüssigkeit. Stets hatte er ihnen wenig entgegen zu setzen denn blanke Furcht, dieser düsterer Tage noch weniger denn sonst, doch griff im Augenblicke von anderer Seite her eine diesseitige Hand ebenso nach ihm, warm und lebendig, ihn daran zu erinnern, in welcher Welt sein Wesen hatte zu verharren, ihn zu halten als Gegengewicht zur versammelten Schar dürstender Seelen. Der sanfte Druck auf seine Hand ließ eine leise Reminiszenz in ihm erklingen, eine ferne Erinnerung an seine geliebte Base Leontia, welche so oft auf gleiche Art und Weise ihm hatte zu verstehen gegeben, dass mehr in der Welt den Menschen an sein Leben konnte erinnern denn der schmerzliche Augenblick der Vergangenheit, dass stets mehr wartete auf den Menschen denn die Verzweiflung am Dasein. Auch Lucanus hatte so wenig der Last und Desperation an sich, hatte eine so bodenständige Leichtigkeit um sich, dass er Gracchus gleichsam an seinen Vetter Aristides erinnerte, welcher stets mit leichtem Herzen und ungetrübtem Geist durch das Leben voran preschte. An manchen Tagen war der Gedanke wahrlich unglaublich, dass sie alle dem gleichen Blute entsprungen sollten sein. Gracchus rang sich ein schmales Lächeln ab, überantwortete einem Sklaven die leere Kanne und reichte die nächste - jene mit Milch - an Lucanus, dass auch er Teil des Ganzen konnte sein, während er selbst die essbaren Gaben vor dem Grabmal platzierte, wortlos, in Stille, um keinen der Geister noch herauszufordern, welche beständig in seinem Hinterkopfe wisperten. Nachdem sie das Opfer hatten abgeschlossen und ihre Hände in lauwarmem Wasser gereinigt - eine rituelle Reinigung ob der Berührung mit dem Tode wegen würden erst die die Parentalia abschließenden Feralia bringen -, traten sie zurück auf den Weg, welcher aus Rom hinaus, doch gleichsam auch in die Stadt hinein führte, hinein ins Maul des Löwen.
"Die Vergangenheit wird stets ein Teil unseres Lebens sein, selbst wenn es nicht die unsrige ist,"
begann Gracchus sodann nichtssagend tiefgründig, um einen Anfang dessen zu finden, was neben all seinen persönlichen Felsbrocken seit Tagen auf seiner Schulter lastete. Jener Ort der Vergänglichkeit, der familiären Vergangenheit schien hierfür geradezu prädestiniert.
"Sicherlich machte deine Mutter dich mit deinem Erbe vertraut, doch vermutlich konnte oder wollte sie dir nicht alles mit auf den Weg geben, was dich würde in der Welt der Flavia erwarten. Wer konnte auch ahnen, dass Ulpius Iulianus nicht in dreißig Jahren noch würde das Imperium in seiner milden Güte und Weisheit regieren."
Ein Seufzen echappierte Gracchus, schneller als er es hätte verbergen können. Natürlicherweise war die potentielle Möglichkeit immer gegeben gewesen, doch hatte er kaum je ernsthaft darüber nachgedacht.
"Stets verweisen wir nicht ohne Stolz darauf, unser Blut mit den flavischen Kaisern zu teilen, doch da unweigerlich das Blute des Vespasianus auch in den Adern seines der damnatio memoriae Anheim gefallenen Sohnes fließt, so binden wir ebenso diesen an unser Geschlecht. Einst entschloss jener sich dazu, eine Frau sich zu nehmen, welche bereits an einen anderen Mann vergeben war, die mit Lucius Aelius Lamia verheiratete Domitia Longina. Natürlich gab es für den Kaiser kein Hindernis, doch Aelius ließ seine Gemahlin nicht ohne Widerwort gehen, so dass der Imperator in seinem Wahn ihn und seine gesamte Gens schlussendlich ins Exil nach Achaia verbannte.* Der Groll der Aelier ist darob noch immer nicht gänzlich versiegt und als jene, welche den flavischen Kaisern am nähsten stehen, richtet er sich insbesondere gegen die Nachkommen des Flavius Romulus."
Mit einem Male stoppte Gracchus seinen Schritt und hielt Lucanus an der Schulter, wandte ihn, so dass sie sich gegenüber standen.
"Gaius Ulpius Aelianus Valerianus, jener Mann, welcher in bälde der Kaiser dieses Reiches sein wird, welchen der Senat bereits als solchen hat anerkannt, entstammt eben diesem aelischen Geschlecht, ist der Neffe des Aelius Lamia und verbrachte selbst seine Jugend in der Schmach des Exils. Niemand weiß, welche politische Richtung er wird verfolgen, seine seltenen Auftritte im Senat waren zumeist gemäßigt, doch er ist seit langem mit den Legionen unterwegs und niemand kann sagen, wie er ohne unter dem Blicke Iulianus' sich zu wissen agieren wird. Allfällig hat er dies längst überwunden und nichts wird geschehen, doch möglicherweise wird er auch im Angesichte des Imperium seinem Zorn nachgeben, im Verborgenen oder auch in aller Öffentlichkeit - er wäre beleibe nicht der erste Imperator dieser Art. Ich möchte, dass du deine Augen und Ohren offen hältst und dass du vorsichtig bist, Lucanus, denn der Aelier auf dem kaiserliche Thron wird womöglich das schlimmste sein, was der Flavia derzeit passieren kann. So es in Rom zu gefährlich wird, werden wir uns vorläufig aus Italia zurück ziehen, ich habe Furianus bereits ob dessen benachrichtigt und es ist für alles vorgesorgt."
Obgleich Gracchus stets nur in sich selbst und aus sich selbst heraus zu existieren schien, so galten seine Gedanken mehr als allem anderen der Familie, der Gens, ihrem Wohl und ihrer Sicherheit - längstens noch vor Rom, letztlich gar vor der Wahrheit.
"Es dauert mich sehr, dass dies alles nun geschehen muss, gerade da du beginnst deine Zukunft in Rom in Angriff zu nehmen, doch deplorablerweise können wir alle nicht unsere Vergangenheit uns aussuchen, noch diejenige unserer Familie. Um so essentieller ist es, dass die Familie nun zusammen steht, und so die Götter uns gnädig sind, werden wir in einem halben Jahr etwaig bereits über dies Bangen uns amüsieren können."
All zu gerne nur hätte Gracchus diesem Bilde sich hingegeben, doch die Zukunft unter dem neuen Imperator war zu ungewiss, von tiefsten Tiefen bis höchsten Höhen war für die Flavia alles möglich, und stets rechnete Gracchus mehr mit den tiefsten Tiefen denn den höchsten Höhen.Sim-Off: * Lucius Aelius Lamia, Domitia Longina und die Verstrickung mit dem ungenannten Kaiser sind historisch begründet, die zeitlichen Unstimmigkeiten und die Verbannung der Aelia ins Exil dagegen sind Hintergrund der im IR lebenden Aelier.
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Bei uns daheim sind die Verstorbenen so genügsam wie die Lebenden.
Wenn ich irgendjemandem daheim erzählen würde, daß ich eine ganze Kanne Milch über meinen völlig unbekannten Vorfahren - und geben die Götter, daß ich sie solange ich lebe, nie kenenlerne - ausgießen würde, bekäme ich nur ungläubiges Staunen wegen dieser Verschwendung als Reaktion.
Eine ganze Kanne Milch!Milch fließt nicht so schön wie Öl, aber sie ist noch gut. Ich halte meinen kleinen Finger unter den Strahl, der aus dem Schnabel quillt und schlecke daran. Kuh.
Onkel Gracchus drapiert die Eßsachen, überpingelig wie immer, fehlt nur, daß er mit einen Holzdreieck die rechten Winkel nachprüft. Alles ist wohl nur für die Vorfahren bestimmt, kein nettes Picknick, zu dem wir unsere Toten Ur-Ur-Ur-großonkeln und -tanten laden könnten. Ob Onkel Gracchus auch Großneffe von jemandem war? Leben würden die sicherlich nicht mehr, man muß Glück haben, wenn in seinem Alter noch die Eltern leben, obwohl - bei den verqueren Verhältnissen in unserem Stammbaum! Wen Onkel Gracchus hier kannte? Ja, seine Schwester, die Vestalin. Geschwister zu verlieren, das ist sicher so, wie wenn einem der Arm abehauen wir. Die Wunde kann man zwar schließen, aber da wächst nichts mehr nach.
Ich konzentriere mich wieder auf meine Gießerei.
Wir wenden uns ab, nachdem der letzte Tropfen Milch vergossen, die letzte Speise ausgerichtet ist, wir uns gereinigt haben. Es ist vorüber, bevor es richtig angefangen hat. Langsam hatschend, nein: ohne unwürdige Hast! setzt sich unser kleiner Troß wieder in Bewegung, den Blick der Stadt zugewandt, die Toten haben wieder ihre Ruhe vor uns.
Im ersten Moment freue ich mich, daß Onkel Gracchus das Wort an mich richtet. Aber nur wieder Verwandtschaftsgeschichten von Leuten, die längst ... ich finde unsere Vergangenheit ja spannend, aber nur?
Die Wendung, die die Geschichte nimmt, finde ich etwas ungracchisch: Gefahr! Spannung! Verbannung! Vielleicht sogar Mord? Ein im Morgengrauen vor den Toren der Stadt wartender Planwagen, einige in Lumpen gehüllte Gestalten aufnehmend und dann in den Horizont rumpelnd tut sich vor mir auf. 'Nimm nur das wichtigste mit!' Was würde das wichtigste sein? Mein von meiner Mutter selbstgestrickter Wams? Meine Schriftrollen? Lars? Stets unter fremdem Namen leben müssend, Clavius Funaeus hier und heute, Fulvius Cocanus dort und morgen, stets auf der Flucht vor den Häschern des Kaisers, Die Füchse haben ihren Bau, die Vögel ihre Nester, aber ich habe keinen Platz, an dem ich mich ausruhen kann ...
"Meinst Du wirklich?" frage ich vor vorfreudiger Spannung zitternd nach. "Ich habe den jungen Aelius Archias und Aelius Callidus, den rector der Schola zum Freund" wobei ich zugegebenermaßen auch den Mäuseblasen-Händer an der Via Rucola meinen Freund nenne ... "sehr blutrünstig und rachdrustig kamen die mir nie vor" frage ich dann doch zweifeln nach. Gerade Aelius Archias - ich muß lächeln, als ich an ihn denke.
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Ein marginales Zittern durchzog Lucanus' Stimme als er zu sprechen ansetzte und Gracchus konnte gut die Furcht des jungen Mannes nachvollziehen, welche nicht nur aus der drohenden Gefahr mochte erwachsen, sondern auch ob der Ungewissheit der Zukunft wegen, welche auf einmal mehr als sonst noch in Düsternis verschwand. Vor seinem inneren Auge sah Gracchus bereits die Familie in einer einfachen Holzhütte am Strande von Flaviobriga leben, Aquilius und Lucanus in einem Fischerboot auf dem Meere treibend das Abendessen einfangen, Serenus aus Sand kleine Kastelle bauend und mit angeschwemmten Muschelschalen schmückend, Celerina mit offen im Winde wehendem Haar und einer Schürze um den Leib auf den Fisch wartend, um das Abendessen zubereiten zu können, und er selbst mit einem hölzernen Eimer zum Dorfbrunnen ziehend, Frischwasser zu holen, in welches allfällig ein Tropfen Essig seinen Weg würde finden, an Feiertagen eventualiter auch ein Fingerhut voll Wein für jeden. Am Abend dann würden früh die Lampen gelöscht, um Öl zu sparen, sie alle würden sich in einem einzigen Cubiculum zusammen finden - mehr Raum bot die Hütte nicht -, um sich zur Nachtruhe zu betten, womöglich würde Gracchus eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen - ein Stück aus der Odyssee oder Aeneis, im Wechsel mit einem Dialog Platons, einem Kapitel aus Livius ab urbe condita oder Ciceros de natura deorum -, und wenn schließlich die Lider der Flavier sich würden senken, würde auch er sich zurück legen, eng an seinen Vetter Caius geschmiegt - einziger Hoffnungsschimmer in trüber Düsternis der Desperation.
"Aelius Archias ist mir kein Begriff, doch der rector Aelius Callidus stammt aus einem anderen Familienzweig denn der Caesar, so er überhaupt mit ihm verwandt ist, dann nur äußerst weitläufig, und vermutlich betraf seine Familie das Exil nicht."
Auch Gracchus hatte Callidus als äußerst umgänglichen, um nicht zu sagen zuvorkommenden Menschen erlebt, obgleich er ihm bisweilen nicht oft war begegnet, doch eben jener Tag, an welcher jener ihn über seine Erhebung in den Stand der Senatores hatte unterrichtet, war ihm als besonderes Kleinod seiner Erinnerung noch äußerst präsent. Beinahe konnte ein marginales Lächeln sich auf seine Lippen drängen, doch die Situation war zu bedrohlich, als dass jenes sich die Vorherrschaft über die von Sorge getrübte Miene Gracchus' hätte erkämpfen können.
"Was Aelianus Valerianus betrifft ... nun, wie bereits angedeutet sind seine Pläne völlig im ungewissen, so dass alles möglich ist. Die Vergangenheit sollte uns gelehrt haben, dass in jedem Lamm ein Wolf zu stecken vermag, und wehe dem, welcher dann ein Huhn ist." -
Als Huhn á la Fronto zu enden, hatte ich nun nicht wirklich geplant. "Homo homini lupus est" doziere ich also stattdessen fatalistisch, der Mensch ist nunmal des Menschen Wolf. "Aber wenn wir nicht wissen, was der neue Kaiser für Pläne hat, warum sollen wir uns dann schon vorher fürchten? Sagt nicht auch Epikur vom Tode, daß wir uns nicht vor ihm fürchten müssen, solange er nicht da ist, und wenn er da ist, dann können wir ihn nicht mehr fürchten." Oder so ähnlich. Jedenfalls finde ich den Gedanken wirklich bestrickend, warum sich vor dem Schicksal oder dem Tod fürchten, wenn wir es eh' nicht kennen und uns vielleicht völlig grundlos früchten?
"Aelius Archias ist ein bißchen älter als ich und außerdem schon nach Ägypten als stationarius gezogen. Lustiger Mensch, aber auf eine offene Art.- Meinst Du nicht, Onkel Gracchus, daß gerade Mißtrauen gegen den neuen Kaiser etwas ist, das er nicht gebrauchen und wollen kann? Wer weiß denn, ob er das Amt freudig übernimmt, oder vielleicht froh ist, alte Feindschaften zu begraben sein zu lassen, weil er sowieso als Kaiser neue haben wird?"
In meiner Vorstellung ist ein Kaiser wie der andere - nämlich weit weg. Und ich habe nicht das Gefühl, daß ich das ändern möchte. Schon Onkel Gracchus ist ziemlich von mir entfernt, was soll ich dann mit dem Kaiser zu schaffen haben? Kann man mit ihm reden? Oder nur auf Fragen antworten? Hat er schonmal ein Obstkistenrennen mitgemacht? Am Strand sich vor Glück mit Freunden im heißen Sand gewälzt? Kaiser zu sein, ist wahrscheinlich wie seine eigene Statue zu sein. Oder völlig verrückt zu werden, wie Kaiser Caius, wahrscheinlich hilft ein wenig Demenz, um ein solches Amt überhaupt ertragen zu können.
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Ein Stück weit hob sich Gracchus' linke Augenbraue, um in der Höhe sich fest zu setzen.
"Der Tod ist nichts, was überhaupt zu fürchten wäre."
Zumindest nicht in seiner eigentlichen Form, der Tod in Form Toter war hierbei eine gänzlich andere Angelegenheit.
"Zudem fürchten wir den neuen Imperator nicht. Es ist einzig und allein eine Vorsichtsmaßnahme, denn wenn die Skorpione erst vor unserer Porta auftauchen, so wird es zu spät sein, über Auswege nachzudenken. Darob treffe ich vorausschauende Vorkehrungen für diese Familie, einzig deswegen."
Gracchus' Stimme war hart geworden. Der Vorwurf der Feigheit haftete ihm seit jeher an den Fersen und obgleich dieser oftmals nicht unbegründet war, so hatte Lucanus kein Recht darauf, ihn anzusprechen, nicht einmal anzudenken. Sollte es notwendig werden, würde Gracchus dem Imperator selbst gegenüber treten, so nur die Familie in Sicherheit war. Er beugte sich ein wenig vor, brachte sein Gesicht nah an das seines Großneffen 2ten Grades.
"Was auch immer geschehen wird, ich werde nicht zulassen, dass diese Familie Schaden nimmt, so verdorben sie auch sein mag."
Abrupt wandte Gracchus sich ab und setzte den Weg zurück in die Stadt fort, ohne Acht, ob Lucanus ihm würde folgen. -
'Was hat er denn plötzlich?' frage ich mich verwirrt und schaue hinter Onkel Gracchus her, wie er mit beschleunigtem Schrtit stadteinwärts stolziert. Kann man sich nicht einmal mit ihm unterhalten, ohnedaß man sich nicht wie ein Idiot vorkommt? Hörr Gracchus hat immer Recht, Hörr Gracchus hat immer das letzte Wort, wenn er es überhaupt an einen richtet. Ziemlich wütend kicke ich einen Stein über die via, verfolge seinen Zick-Zack-Kurs kicke ihn wieder, schlendere hinter her, komme langsam auf andere Gedanken.
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Wie gut, dass Piso die Gelegenheit erhalten hatte, die alten Aufzeichnungen von Leontias Begräbnis zu studieren. Zwar regten sich in ihm Zweifel, ob ein Begräbnis wie für Leontia Vera angemessen war, entsann sich dann aber daran, dass Gracchus Leontia ungleich mehr geschätzt hatte als er. Und so verfuhr er nach diesem Plan, auch wenn es nicht notwendig war, nach Milchzähnen zu suchen, hatten sie doch die Leiche.
Eine Rede am Forum war für Vera nicht nötig, hatte diese doch nicht in der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden. Also zog der Leichenzug am siebten Tag der Aufbahrung von der Villa Flavia los. Sklaven trugen die Bahre. Piso war, als Begräbnisleiter, der Anführer der Prozession. Dahinter gingen die anderen Familienmitglieder, hinterher Klienten, Freigelassene und Sklaven. Es waren ein paar Musikanten aufgetrieben wurden, die unter Bezahlung sich bereit erklärt hatten, eine Komposition des Piso zu spielen. Der Flavier hatte sich echte Mühe gegeben, und sein Stück konnte sich sogar hören lassen – weil er infolge seiner Trauer auf seine selbst auferlegten ästhetischen Normen vergessen hatte und einfach irgendwas mit griechischen Noten auf ein Stück Papyrus aufgeschrieben hatte.
Das traurige Lied* blasend und trommelnd, zogen die Musikanten durch die Straßen Roms, was die Passanten dazu veranlasste, kurz pietätvoll stehen zu bleiben und eine Sekunde zu verharren, bevor sie weiter ihrer Wege zogen. Der Zug ging vom sommerlichen Rom, dessen schönes Wetter Pisos bewölktes Gemüt widersprach, durch die Porta Appia, hinaus zu den Gräberfeldern der Flavier, wo bereits ein Scheiterhaufen stand. Wenn Piso etwas gelernt hatte in seiner Zeit als Septemvir, dann war es, Sachen zu organisieren. Es war nicht sicher gewesen, Sklaven aufzutreiben, die bereits Erfahrung mit Leichenbegängnissen hatten. So hatten diese einen Leichenschafott aufgestapelt, ein Geflecht an Holz und trockenem Laub. Die Sklaven hieften Veras Körper hinauf und platzierten ihn dort sorgfältig. Piso breitete die Arme aus, in Betposition.
"Dii inferiores, die Ihr auf diesen Orte Anspruch erhebt, gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss, wie es Sitte ist, wie es Pflicht ist, wie es der Toten gebührt. Unterirdische, nehmt Euren Anteil, der Euch gegeben, wie es Euch gebührt, und gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss." Unmelodisch formulierte er die unflexiblen, archaischen Worte. Dann wandte er sich nach rechts. Ein Sklave händigte ihm eine Leichenmitgabe aus – es handelte sich um ein kostbares Goldamulett. Piso legte es sorgfältig neben Vera hin, bevor er sich den Trauernden zuwandte.
“Verehrte Gensmitglieder, Freunde, Klienten, Libertini, Sklaven. Heute tragen wir Flavia Vera zu Grabe. Meine Schwester stand mir so nahe wie nur wenige Personen in meinem Leben und hinterlässt eine Lücke, die sich nur schwerlichst wieder füllen lassen wird.“ Nie, machte es in Pisos Kopf. “Wir tragen eine junge Frau zu Grabe, die ein Beispiel für eine römische Schwester, Tochter, Base war. Ihre Sittsamkeit war erhaben, ihr Schönheit unirdisch, ihre Großmut Ehrfurcht gebietend, ihre Fröhlichkeit unerschütterlich, ihr Stolz ungebeugt, ihre Klugheit selten, ihre Entschlossenheit, ein erfülltes Leben zu verbingen, fest, ihre Verbundenheit mit der Familie unzerschneidbar, ihre Tugenden unaufzählbar.“ Tränen standen in seinen Augen, als er seine thetralische kleine Rede schwang. “Wir werden sie vermissen. Alle von uns.“ Er schwieg kurz, bevor er sich eine Fackel reichen ließ. “Lebe wohl, geliebte Schwester. Möge das Elysium dich mit offenen Armen aufnehmen.“ Dann schwang er seine Fackel in den Scheiterhaufen, der so urplötzlich aufflackerte, dass Piso aufgeschreckt zurückweichen musste.Sim-Off: *Purcell, Begräbnismarsch von Queen Mary II
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Ich war geflohen, hatte vor Monaten Rom hinter mir gelassen und das Ich in den ruhigen Gefilden versteckt. Dort wo ich aufgewachsen war, wollte ich leben, dort wo ich wieder lebte fühlte ich mich geborgen und sicher. Kein Tag verging an dem nicht ein weiteres Stück alter Rinde abfiel, Ich fühlte mich so als hätte ich die Dunkelheit hinter mir und strebte ins Licht. Rom war nichts für meine unbedarfte Seele. Ich fühlte mich eingezwängt und bedrängt dort. Dort oben am Lago Larius war ich frei.
Nicht viel Korrespondenz führte ich mit der Familie, allfalls das Nötigste. Wenn wieder jemand die Erde verließ, um ins Elysium zu reisen, gehörte dies dazu. So hatte ich davon erfahren, das Vera von uns gegangen war. Widerwillig trieb ich mich die nächsten Tage über das Anwesen. Drücken wollte ich mich, doch konnte ich nicht. Egal wie wenig ich Vera gekannt hatte es gehörte sich einfach dem Verwandten auf Wiedersehen zu sagen. Natürlich hatte mein bockige Art viel Zeit verstreichen lassen und man war auch nicht in einem Tag gereist. Also kam ich zu spät. Doch es war noch nicht alles verloren. Ich hatte nach dem Anbruch des Tages die Stadtmauern Roms erreicht. Es schüttelte mich, es lief mir kalt über den Rücken, ich gedachte umzukehren, aber eine zweite Stimme rief mich zur Prägnanz. So führte ich mein Pferd zur Villa Flavia. Ja selbst, denn entgegen aller Maßreglungen hatte ich mich allein auf den Weg gemacht. Trotzig und widerwillig.
Oben auf der Kuppe des Quirinal angekommen, nahm ich mir Zeit an einem Weihestein für meine geglückte Reise zu beten. Zwei Stäbchen Weihrauch mußten reichen. Vor dem Rückweg konnte ich mich deutlicher zeigen.
Die Villa schien wie ausgestorben. Nur ein Sklave hockte an der Tür. Die Worte waren unmissverständlich, aber unterwürfig. Ich wischte seine Bedenken zur Seite, schwang mich auf das Pferd und ritt mit lautem Gepolter das Pflaster der Straße hinunter. Zweimal fällte mich fast ein Hindernis, aber zweimal blieb mir das Glück und die Wachsamkeit der Götter hold. Erst kurz vor dem Tor sprang ich ab, weit genug um als per Pedes angekommen betrachtet zu werden, knapp genug, um nicht zuviel Zeit zu verlieren. Durch ging es flott, mein Stand half mir auch diesmal und so sprang ich wieder auf, ritt die Straße hinüber und folgte der Spur, die der Zug der trauernden legte.
Als ich sie sah, nahm ich einen Haken. Ritt nach links, bog dann auf dem offenen Feld aus Kollisionskurs ein und kam vielleicht hundert Meter vor der trauernden Menge zum stehen. Genau dort wo Bruder, Weib und Anhang schritt. Mein Kleid hatte ich am Morgen zum weiteren Glück schon passend gewählt. Es war etwas staubig geworden, aber wer achtete in diesem Moment schon auf Äußerlichkeiten. Noch vier Schritte, dann war ich neben ihnen...
Paula, meine Stute kannte den Geruch meines Lebens, sie würde mich wiederfinden, da war ich mir sicher. So brauchte ich mich darum nicht zu scheeren, war sie doch ein prachtvolle, ja kostbares Pferd. Gebranntmarkt mit dem Siegel der Flavier. Nein Sorge darum zu tragen, das war nicht nötig.
Mit gesenkten Kopf. Ein paar kurze Zeilen murmelnd, schloss ich mich dem Zug an. Hinein an den Platz, der mir zustand und den ich sonst doch so widerstrebe.
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