„Kinderspiele sind es, die wir da spielen. An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. Aber wir verschwenden ja, wie alle unsere übrigen Güter an überflüssigen Luxus, so unser höchstes Gut, die Philosophie, an überflüssige Fragen. Wie an der unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch nach Gelehrsamkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“
"Non vitae, sed scholae discimus..." murmelte Prisca gedankenverloren und lies ihren Blick auf dem letzten Satz aus Senecas epistulae morales ad Lucilium ruhen, mit dem Seneca ganz offen Kritik an den Philosophenschulen seiner Zeit geübt hatte. Auch wenn Seneca zu Lebzeiten mit seiner Meinung von Frauen eher abwertend gewesen war, mochte sie diesen Philosophen doch sehr. Vor allem wegen seinen ambivalenten Züge, seiner Dramen und kritischen Denkweisen schätzte sie ihn und zog seine Schriften gerne zu Rat, wenn sie über eine Entscheidung nach zu denken hatte. Heute war so ein Tag, und Prisca hatte sich deshalb schon früh in ihr cubiculum zurück gezogen, um es sich mit etwas Obst und einer Erfrischung auf einer Liege bequem zu machen. "...so so, für die Schule lernen wir also und nicht für das Leben ..." resümierte sie laut für sich, legte die Schriftrolle zur Seite und griff stattdessen nach einer der Weintrauben, um diese genüsslich zwischen ihren Lippen verschwinden zu lassen. Seneca mochte damit die Schulen an sich kritisiert haben, doch auf das Wissen selbst konnte dies auf keinen zu treffen."Non scholae, sed vitae discimus..."* korrigierte Prisca diesbezüglich Senecas Ansicht, denn Wissen bedeutete Macht. Und Macht war etwas was Prisca ebenso gefiel ,wie der Luxus mit dem sie sich täglich so gerne umgab.
Seltsamerweise musste Prisca bei dem Stichwort Macht aber noch an ein weiteres ihrer Lieblingsthemen denken und ungewollt schweifte Prisca zunächst einmal ganz von den ursprünglichen Gedanken über Seneca und seinen Ansichten zur Schule und Bildung ab. Langsam drehte Prisca sich auf den Rücken und ein wissendes Lächeln huschte dabei über ihre Lippen. Ja, genau das eine Thema beschäftigte sie von Tag zu Tag immer mehr. ... ob da ein direkter Zusammenhang bestand, oder war es eher Zufall, dass sie Macht und Liebe unbewusst so miteinander verband? Wer außer Prisca selbst hätte diese Frage beantworten können und wer wusste schon, welche Gedanken und Bilder in solchen Momenten in ihrem Kopf herum huschten, während sie alles um sich herum vergaß. Eine zeitlang blieb sie so auf dem Rücken liegen, hielt die Augen geschlossen und entspannte sich ganz. Nur ihre rechte Hand bewegte sich wie von alleine und umspielte sanft ihre Brüste, die nur durch eine dünne weisse Seidenstola verhüllt waren, während Prisca alleine für sich zu träumen begann ...
*) [SIZE=6]und war mit diesem Ausspruch wohl allen Lehrern um Jahrhunderte voraus, die heutzutage diese Version des Satzes nicht nur im Lateinunterricht so gerne verwenden.[/SIZE]