hortus | Mondnacht

  • Weg in den Garten, tief wie ein langes Getränke,
    leise im weichen Gezweig ein entgehender Schwung.
    Oh und der Mond, der Mond, fast blühen die Bänke
    von seiner zögernden Näherung.
    Rainer Maria Rilke


    Siv war gut gelaunt, als sie sich spät an diesem Abend hinaus schlich in den vom Mond erhellten Garten. In der letzten Nacht hatte sie das Julfest gefeiert, und sie war erst in den frühen Morgenstunden wieder zurück gekommen. Auf sie gewartet hatte keiner, und auch den heutigen Tag über hatte sie niemand darauf angesprochen, also standen die Chancen gut, dass keiner ihre Abwesenheit gemerkt hatte. Bei den Nächten, die sie im Garten schlief, dachten die anderen Sklavinnen auch in der Regel, dass sie sie bei ihrem Herrn verbrachte, also warum hatte es gestern anders sein sollen – es sei denn Corvinus hatte tatsächlich nach ihr rufen lassen. Und da nach wie vor diese Saturnalien gefeiert wurden, hatte sie den Vormittag genutzt, Schlaf nachzuholen, bis über Mittag hinaus. Normalerweise schlief sie nie so lange, selbst wenn die Nacht lang oder anstrengend gewesen war, aber sie hatte ja ohnehin nichts zu tun – unter anderen Umständen wäre sie in den Wald gegangen und einfach herumgelaufen, oder ausgeritten, aber das kam hier kaum in Frage. Den Nachmittag hatte sie sich dann auch eher gelangweilt, hatte sich mit den anderen unterhalten, hatte, wie bereits öfter, die Münzen betrachtet, die Corvinus ihr ausgeliehen und die Brix ihr inzwischen noch einmal auf Germanisch erklärt hatte, war im Stall gewesen und hatte sich schließlich Brix geschnappt, um ihn über ein paar Worte auszuquetschen – unter anderem hatte sie ihn endlich gefragt, was Corvinus hieß. Der Gedanke daran ließ sie wieder grinsen. Kleiner Rabe. Amüsiert schüttelte sie den Kopf und breitete die Decke unter dem Baum aus, unter dem sie für gewöhnlich schlief. Den Tag über hatte sie noch etwas anderes verfolgt, ebenso wie die letzten Tage, und zum Teil hatte sie sich einfach Beschäftigungen gesucht, mochten sie noch so sinnlos sein, um sich davon abzulenken. Die Germanin setzte sich hin und zog nachdenklich das kleine Päckchen aus der Tasche, das Corvinus ihr bei der Saturnalienfeier gegeben hatte.


    Sie hatte es bisher nicht geöffnet. Die anderen während der Feier mochten gedacht haben, sie lege keinen Wert auf Geschenke der Römer, und das stimmte im Prinzip auch, aber hier lag der Fall anders. Sie war neugierig, was in dem Päckchen sein mochte. Aber… sie wollte alleine sein, wenn sie es aufmachte. Sie wusste nicht warum; sie wusste nur, dass sie nicht wollte, dass ihr andere dabei zusahen, wusste, dass sie diesen Moment für sich allein haben wollte. Gleichzeitig machte sie diese ungewohnte Gefühlsregung nervös, und obwohl sie seit der Feier oft genug an das Päckchen hatte denken müssen, das seitdem in ihrer Tasche gewesen war, hatte sie bisher doch nicht nach einer Gelegenheit gesucht, es öffnen zu können. Jetzt saß sie unter dem Baum und ließ ihre Finger darüber streichen, immer noch ohne es zu öffnen, bis eine innere Stimme sie einen Feigling schimpfte. Das gab den Ausschlag. Behutsam schlug sie das rote Papier zurück. Als sie den Inhalt im Licht des Mondes sah, der heute besonders hell zu sein schien, war sie sprachlos. Ihre Finger glitten über den kostbaren Anhänger; wer auch immer ihn angefertigt hatte, musste ihn in mühevoller Feinstarbeit geformt haben. Siv hatte keine Ahnung davon, dass das Pferd aus Silber war, und wie viel es allein deswegen wert war. Aber sie konnte die Mühe einschätzen, die nötig gewesen war, es zu fertigen. Jede Einzelheit schien zu stimmen, und wenn sie genau hinsah und den Anhänger leicht hin und her bewegte, bildete sie sich sogar ein, die feinen Muskelstränge sich bewegen zu sehen. Das Pferd wirkte so lebendig, als wolle es im nächsten Moment losgaloppieren.


    Hatte er geraten? Hatte er blind getippt, was ihr gefallen könnte, oder einfach irgendetwas gekauft? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gesehen, was er Cadhla und den anderen geschenkt hatte – jeder hatte von ihm etwas anderes bekommen, und es schien, als ob er sich bei jedem Gedanken gemacht hätte. Aber woher sollte er wissen, was ihr gefiel? Bisher hatte sie ihm gegenüber noch nicht erwähnt, wie sehr sie Pferde liebte, und sie glaubte nicht, dass er mitbekommen hatte, dass sie sich zu den Stallungen schlich, wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, seit sie erfahren hatte, dass es sie gab. Sie war vorsichtig dabei, übervorsichtig, wollte sie doch nicht das Risiko eingehen, dass es irgendjemand bemerkte – und ihr womöglich verbot, als Strafe für irgendetwas oder, noch schlimmer, generell. Also, woher wusste er davon? Und warum… hatte er ihr diesen Anhänger geschenkt? Die anderen hatten Dinge bekommen, die zwar schön waren, die sie aber auch gebrauchen konnten… Das hier war nur schön, hatte keinen anderen Nutzen als den, schön zu sein. Zu gefallen. Siv war verwirrt, und das nicht nur, weil das Geschenk von einem Römer kam. Sie hatte bisher selten etwas bekommen, was keinem Zweck diente außer einfach nur eine Freude zu machen. Die meisten Geschenke, ihres Vaters, ihrer Brüder und sogar Ragins, hatten immer auch einen Nutzen, was nicht hieß, dass Siv sich weniger gefreut hätte. Und jetzt saß sie da und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, dass Corvinus ihr etwas derartiges geschenkt hatte, und nicht auch etwas was sie irgendwie gebrauchen konnte und möglicherweise sogar ihm Nutzen brachte, so wie Caelyns Geschenk… Siv hätte beinahe laut angefangen zu lachen, als die andere Sklavin ihr erzählt hatte, was auf der Schriftrolle stand, aber sie hatte sich noch rechtzeitig zusammengerissen, und so war aus dem Lachen ein Prusten geworden, was auch nicht viel besser gewesen war. Aber nein, er hatte ihr einen Pferdeanhänger geschenkt. Und sie freute sich darüber und war gleichzeitig verwirrt, über das Geschenk, über den von dem es kam, und über ihre eigene Reaktion.



    Sim-Off:

    reserviert :)

  • In den Nächten nach Helenas Tat fand ich selten erholsamen Schlaf. Vielmehr war das Nächtigen eine skurrile Mischung aus wiederkehrenden Alpträumen, stundenlangem Nachdenken, nagend aufkommenden Schuldgefühlen und erfolglosen Versuchen, doch endlich einschlafen zu können. Morgens war ich dann jedes Mal froh - und gerädert -, wenn ich dem Bett entfliehen konnte. Doch bis zum Morgen war es noch weit hin - bedauerlicherweise Weise galt es zuvor, erneut die Nacht zu überstehen.


    Ich rückte den wollenen Überwurf etwas zurecht, begrüßte im Großen und Ganzen jedoch die Kälte, denn sie ließ mich fühlen, dass ich noch existierte, irgendwie. So glänzend, wie die Aussicht auf meine Karriere meinen Neidern schien, so trostlos erschien mir mein Leben als solches. Zu vieles hatte ich in den Sand gesetzt, falsch oder auch gar nicht erst angepackt. Und die Schicksalsweberinnen schienen mir im Privaten einfach nicht gewogen. Doch Melancholie war es nicht, wonach ich suchte, also riss ich mich zusammen, verdrängte die Gedanken und streifte weiter durch den Garten, auf einem imaginären Weg durch meine exotische Pflanzensammlung hindurch. Erfreut stellte ich fest, dass jene inzwischen recht gut gedieh. Scheinends hatte der Gärtner endlich den Dreh herausbekommen. Es wäre vermutlich kein schlechter Schachzug, wenn ich ihn darauf ansprechen und ihm meine Freude darüber mitteilen würde. Nun mit einem angedeuteten Lächeln im Gesicht, strebte ich auf einen jungen Affenbrotbaum zu und strich mit meinen Fingerspitzen an dem noch dünnen Stämmchen entlang - als ich ein Rascheln hörte, welches sich wie Papier anhörte. Neugierig geworden, spähte ich um den Baum herum in den hinteren Teil des Gartens, in welchem größtenteils alte und dementsprechend hohe Bäume wuchsen. Dort war es dunkler, zumal auch einige Zypressen und nordische Tannen den Garten am Rand einrahmten. Meine Augen indes hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und so gewahrte ich eine Gestalt samt Decke, als ich weiterging und nach der Quelle des Geräusches suchte.


    Hinter dem Stamm einer Platane verhielt ich im Schritt und beobachtete forschend, was sich unter der alten Eiche abspielte. Das helle Haar und ihre Statur offenbarten Siv gleich auf den ersten Blick, und sie drehte etwas Kleines, Dunkles in den Händen. Die Dunkelheit verschluckte die Farben und dämpfte die Geräusche. Nachts waren eben alle Katzen grau. Ich dachte an den gestrigen Abend zurück, an welchen Matho mich aufgesucht und gewettert hatte, er wisse nicht, wo sich die 'Germanenbraut' schon wieder herumtreibe, und dass er sich denken könne, dass sie nur der Arbeit entfliehen und faul sein wollte. Die für mich wichtigste Information in dieser Schimpftirade war gewesen, dass Siv sich außer Haus befand, ohne jemandem Bescheid gegeben zu haben. Alles andere war eher weniger von Belang, da wir noch die Saturnalien feierten und ohnehin die Arbeiten stillstanden. Jetzt aber saß sie dort unter dem Baum und sah auf ihre Hände - oder etwas in ihrer Hand - herunter und schien sich zu freuen. Ich verlagerte mein Gewicht um eine Wenigkeit - und ein trockener Ast zerbrach knackend unter meinen Füßen. Da ich nun ohnehin meine Anwesenheit und auch die Position verraten hatte, trat ich hervor und ging auf Siv zu. "Was machst du denn hier draußen?" fragte ich bewusst verwundert, während ich näher kam und schließlich zwei Schritt vor ihrer Decke stehen blieb, um auf sie hinunter zu sehen.

  • Sivs Finger fuhren nach wie vor beinahe zärtlich über den Anhänger, während ihre Gedanken weiter herumschweiften. Ihre Freude überwog die Verwirrung letztlich bei weitem, und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Erst als sie auf einmal ein Knacken hörte, wie ein Ast der zerbrach, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Der Kopf der Germanin fuhr mit einem Ruck hoch. Sie runzelte die Stirn und sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, um zu erkennen, wer es versucht haben mochte, als eine Gestalt hinter einer Platane hervor und ins Mondlicht trat. Corvinus. Im ersten Moment war sie so verblüfft, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Sie hatte nicht erwartet, dass überhaupt jemand kam, aber mit ihm hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Zuerst starrte sie ihn nur an, während er auf sie zukam und schließlich kurz vor ihr stehen blieb. Dann wurde ihr auf einmal klar, wer vor ihr stand, und sie sprang hoch. Das Papier fiel dabei unbeachtet zu Boden, während der Anhänger in ihrer Hand baumelte. "Ich… ich…" Diesmal stotterte sie tatsächlich, weil sie überrascht und verlegen war, und nicht weil sie nicht die richtigen Worte wusste. "Ich… bin gern… draußen. Im Garten." Sie machte eine Handbewegung, die ihre Umgebung einschloss. "Und du?" Gegenangriff war immer gut, wenn man selbst nicht weiter wusste.


    Siv verschwieg, dass sie auch in den Garten gegangen war, um allein zu sein – aber dieser Gedanke erinnerte sie wieder daran, weswegen sie ausgerechnet heute hier war. Der Anhänger. Den Corvinus ihr geschenkt hatte. Den sie immer noch in ihrer Hand hielt, die Finger verschlungen um das Band, an dem er befestigt war, während das kleine Pferd knapp darunter baumelte. Siv wurde rot, als ihr die Situation bewusst wurde, und sie konnte nur hoffen, dass er das im Mondlicht nicht sah. Aber sie war in den Garten gekommen, nicht nur um hier zu schlafen, sondern auch um endlich das Päckchen öffnen zu können, alleine, ohne beobachtet zu werden… Und dann kam ausgerechnet Corvinus heraus. Sie war verwirrt, wusste nicht, was sie von dem Geschenk halten sollte, und sie wollte nicht dass er das bemerkte. Und sie freute sich über das Geschenk – und dass er das sah, wollte sie ebenfalls nicht, jedenfalls nicht wie sehr. Er war ein Römer… Ihre Finger schlossen sich um den Anhänger, um ihn ganz in der Hand zu verbergen – das hieß, sie versuchten es, aber ihre Hand zitterte leicht, und das einzige was sie erreichte war, dass sich das Band von ihren Fingern löste und mitsamt dem Anhänger fiel. Ihre andere Hand versuchte noch, die Kette aufzufangen, aber sie kam zu spät, und das Pferd landete vor Corvinus’ Füßen auf dem Boden.

  • Meine Augen folgten dem so achtlos davonrutschenden Papier, welches ich nicht wiedererkannte, was an der Tatsache lag, dass ich das Geschenk natürlich nicht selbst eingepackt hatte. Siv schien sich ertappt zu fühlen, was mir wiederum Sicherheit verlieh und mich belustigte. Immerhin war es mein Garten, in dem sie...nun ja, was eigentlich? Picknickte? Mit den Augen suchte ich die Decke zu meinen Füßen ab. Nichts zu essen da. Also fiel diese Idee wohl aus. Forschend taxierte ich die hellhäutige Sklavin, die hitzig stammelte und mir dann eine Antwort präsentierte, die mich breit grinsen ließ. "Nun", entgegnete ich langgezogen auf den forschen Gegenangriff, hob eine Hand und legte sie in den Nacken. "Dies ist mein Garten, weißt du? Ich bin auch gern hier." Nur mühsam konnte ich die zuckenden Mundwinkel unter Kontrolle halten.


    Ich legte den Kopf schief und ließ die Hand wieder sinken. "Allerdings ist es um einiges schöner hier, wenn man auch etwas sehen kann", bemerkte ich und spielte damit auf die Zeit an. Dass ich mich vor dem Schlaf fürchtete und den Träumen, die er brachte, erzählte ich vorerst nicht. Versonnen sank mein Blick auf den filigranen gegenstand, den Siv in der Hand hielt, und den erkannte ich wieder. Ich kniff kurz die Augen zusammen, sah zurück zu dem unscheinbaren Papier und dann in Sivs Gesicht, dass eine Schattierung dunkler geworden zu sein schien. Sie wirkte verlegen, ein Umstand, der mich ehrlich verwunderte. Doch war ich niemand, der für andere peinliche Situationen schamlos ausnutzte, also verzog sich mein Mund zu einer Art aufmunterndem Grinsen. Siv wollte ihre kleine Kostbarkeit wohl vor mir Verbergen, weswegen sie damit herumfuchtelte - bis das kleine silberne Pferdchen schließlich im schwarz anmutenden Gras zu unseren Füßen lag und sie fassungslos darauf herunter starrte.


    Es war mehr eine instinktive Regung als eine willkürlich beabsichtigte Bewegung, dass ich mich bückte und das Silberpferd an seinem Lederband aufnahm, um es ein zweites Mal eingehend zu beobachten. Der Mensch, der es gefertigt hatte, hatte zweifelsohne große Fingerfertigkeit bewiesen. Als mir bewusst wurde, dass ich das kleine Metalltier immer noch in der Hand hielt, sah ich kurz auf. "Nana, gehst du mit Geschenken immer so um?" fragte ich sie ruhig und mit einer Spur des Lächelns. Ich knüpfte den doppelten Knoten auf und legte die geringe Entfernung zu Siv in zwei Schritten zurück. "Soetwas gehört nicht auf den Boden", sagte ich und legte ihr die schlichte Kette um, "sondern-" Auf das Dekolletée einer schönen Frau? Mach dich nicht lächerlich! "-um deinen Hals", endete ich und verschloss den Lederkreis mit einem neuen Doppelknoten. Dann trat ich einen Schritt zurück und besah mir das Ergebnis. "Perfekt", sagte ich und zwinkerte Siv zu. Ein Wildfang, und doch gezähmt.

  • Siv hätte beinahe mit den Zähnen geknirscht bei seiner Antwort. Natürlich. Sein Garten. Wie hatte sie das nur vergessen können. Einmal mehr wünschte sie sich, ihr Latein wäre besser, gut genug, um ihm die ironischen Worte um die Ohren zu schlagen, die ihr auf der Zunge lagen. So waren es nur ein paar germanische Sätze, die sie vor sich hinmurmelte. "Ja, Herr und Meister. Dein Garten. Sicher. Wie konnte ich das nur übersehen und so frech sein zu fragen." Etwas lauter und in seiner Sprache sagte sie: "Garten ist auch schön wenn Nacht." Und sie war auch nicht hier um etwas zu sehen, aber das verschwieg sie. Bisher war er offenbar noch nicht darauf gekommen, dass sie vorhatte hier zu schlafen, trotz der recht dicken Decke, die sie mitgenommen hatte, um sich vor der kühlen Nachtluft zu schützen. Und es war ihr lieber, wenn es dabei blieb, weil sie keine Ahnung hatte, wie er reagieren würde. Sie hatte nicht umsonst keinem erzählt, dass sie gelegentlich draußen schlief, nicht einmal Cadhla, und ihr hatte sie sogar Bescheid gesagt wegen des Julfestes gestern.


    Als das Silberpferd zu Boden fiel, rührte Siv sich erst mal gar nicht, sondern starrte nur hinunter – und bevor sie reagieren konnte, hatte Corvinus sich schon gebückt und den Anhänger aufgehoben. Die Germanin wurde noch eine Spur röter, als er zunächst die Kette, dann sie betrachtete und schließlich zu ihr trat, um sie ihr um den Hals zu legen. Siv bewegte kaum einen Muskel, als er ihre Haare zur Seite strich, um das Band in ihrem Nacken zu verknüpfen, und starrte auf seine Brust. Erst als er einen Schritt zurück trat, sah sie wieder auf, seufzte leise und musterte ihn. Sie wurde aus ihm einfach nicht schlau. Mal war er freundlich und zugänglich, und sie konnte sich mit ihm unterhalten und sogar lachen – zum Beispiel wenn sie gelegentlich abends beisammen saßen und sie versuchte, ihm Germanisch beizubringen. Und wenn sie mit ihm das Bett teilte, hatte sie nie das Gefühl, sie wäre eine Sklavin und würde nur benutzt werden, einfach weil es, aus seiner Sicht, ihre Pflicht war für ihn da zu sein. Er zwang sie nie zu etwas, er bereitete ihr ebenso viel Lust wie sie offensichtlich ihm, und obwohl sie noch nicht allzu lange hier war, war schon ein oder zweimal sie diejenige gewesen, die den ersten Schritt gemacht hatte. Aber dann wieder gab es Momente, in denen er einfach nur ein Römer war, arrogant und herablassend – genau so, wie sie dieses gesamte Volk einschätzte.


    Ihre Hand wanderte indessen zu dem kleinen Pferd an ihrem Hals und tastete kurz darüber, während sie Momente lang einfach nur schwieg, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Und irgendwie schienen Worte auch fehl am Platz zu sein, in dieser Atmosphäre, die im nächtlichen Garten herrschte – die Gewächse, die in der Nacht zu etwas anderem zu werden schienen, die Schatten, die auf die verschlungenen Pfade geworfen wurden, das silbrige Mondlicht, in das alles getaucht war, was einigermaßen frei oder weit genug oben lag, der Teich, der nicht weit entfernt in eben diesem Licht schimmerte. Siv senkte schließlich kurz den Blick, sah zum Wasser hinüber und dann wieder Corvinus an. "Danke", meinte sie, eher unbewusst leise, und der Klang ihrer Stimme fügte sich in die Stimmung ein anstatt sie zu stören. Ihren folgenden Worten war anzuhören, dass sie ehrlich gemeint waren. "Das… Schön. Schön Geschenk ist. Ich… freue mich." Obwohl ihr die ganze Zeit, seit sie das Geschenk geöffnet hatte, die Frage nach dem Warum auf der Zunge gebrannt hatte, stellte sie sie nicht, nun da sie die Gelegenheit dazu hatte. Sie konnte nicht einmal sagen warum nicht – möglicherweise, weil sie bisher von Corvinus selten eine wirklich zufriedenstellende Antwort bekommen hatte, wenn sie fragte, warum er sie behandelte wie er es nun einmal tat. Warum er mit ihr Germanisch lernte, warum er ihr Münzen auslieh, warum er sich mit ihr manchmal so zwanglos unterhielt… Es war immer dasselbe, er wich aus oder antwortete allgemein, und ihr Latein war bei weitem nicht gut genug, um ihn auf eine konkrete Antwort festzunageln. Und eine solche Unterhaltung wollte sie jetzt nicht. Also ließ sie es einfach.

  • Fragend blickte ich sie an. Zwar hatte ich in den vergangenen Tagen so einige Worte gelernt, aber was genau sie erwiderte, verstand ich nicht. Dafür war mein Wissen zu rudimentär. Indes, Ja, Herr, Garten und fragen verstand ich durchaus. Ich verkniff mir eine entsprechende Frage und entgegnete stattdessen beipflichtend: "Natürlich." Dann jedoch stutzte ich. "Bist du denn öfters nachts hier?" fragte ich. Einerseits konnte ich dies nicht recht glauben, andererseits hätte es zu Siv gepasst, so viel zeit wie nur möglich draußen zu verbringen. Aber nachts? Ich runzelte nachdenklich die Stirn. Italias Nächte waren im Winter nicht gerade angenehm, wenngleich die Sommernächte durchaus geeignet waren zum Schlafen im Freien. In Griechenland, erinnerte ich mich, hatten wir so einige Nächte unter sternenklarmen Himmel verbracht und die Sternbilder betrachtet. Unweigerlich trat ein vages Lächeln auf meine Lippen und ich sah hinauf zum Himmel. Auch hier sah man Sterne leuchten, wie ich zufrieden feststellte. Und der Mond schien hell und überzog Blatt und Geäst mit seinem silbrigen Licht.


    Verlegenheit überzog Sivs Gesicht, als ich sie hernach leicht belustigt musterte. Ihr Blick irrte auf der Suche nach einem Fixpunkt herum und blieb schlussendlich doch an mir hängen. Sie bedankte sich, und das trieb mir Runzeln auf die Stirn. Dafür, dass ich aufgehoben hatte, was ihren Fingern entglitten war? Forschend taxierte ich die hellen Gesichtszüge der jungen Germanin. Erstaunt weiteten sich dann meine Augen, als sie sich zu dem Geschenk äußerte, das sie augenscheinlich erst jetzt ausgepackt hatte, was das Papier bewies. Allmählich bildete sich ein breites Schmunzeln auf meinem Gesicht. Ich neigte den Kopf ein wenig zur Seite. "Es freut mich, wenn es dir gefällt", sagte ich, ehe eine Windbö meinen Mantel aufbauschte.


    "Darf ich?" fragte ich hernach und deutete auf die Decke hinter Siv, trat jedoch den Schritt an ihr vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten. Zum einen erwartete ich ohnehin kein Nein, zum anderen würde ich ein Nein nicht gelten lassen. So setzte ich mich auf die Decke am Boden, und wieder fühlte ich mich den - eindeutig laueren - Nächten in Achaia wieder ein Stückchen näher. Ich stellte die Füße auf und legte die Unterarme auf meine Knie. Dann sah ich zu Siv hinauf. Eine Frage brannte mir auf der Zunge, seitdem ich Brix die für dieses Geschenk wichtige Information abgerungen hatte, und jetzt schien der passende Augenblick für die Frage gekommen. "Weiß du, was ich mich die ganze Zeit schon frage? Warum magst du ausgerechnet Pferde?" Tiere, denen ich persönlich rein gar nichts abgewinnen konnte.

  • Ob sie öfter nachts hier war? Siv öffnete den Mund um zu antworten, klappte ihn aber dann, gerade noch rechtzeitig, wieder zu. Sie tat sich schwer damit jemanden anzulügen, selbst hier, selbst Römer – auch wenn sie sich sagte dass das Blödsinn war, jedenfalls wenn es um Römer ging, aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Und sie war ihr Leben lang ehrlich gewesen, abgesehen von kleineren Flunkereien. Meistens kam es ihr nicht mal in den Sinn, die Unwahrheit zu sagen. Aber jetzt? Sollte sie ihm sagen, dass sie vergleichsweise häufig hier draußen schlief? Eigentlich wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab und die Nächte mild genug waren? "Mmh. Garten ist schön. Auch wenn Nacht", wiederholte sie. "Ich mögen hier sein, ja." Wirklich beantwortet hatte sie seine Frage damit nicht, aber sie hatte auch nicht gerade heraus gelogen. Und vielleicht glaubte er ja, sie hätte ihn einfach nur nicht ganz verstanden und nicht, dass sie ihm ausweichen wollte, und beließ es dabei.


    Anschließend kräuselte sie, etwas trotzig, die Nase, als sie seine Reaktion auf ihren Dank hörte. Die Germanin wollte nicht, dass ihr sein Geschenk gefiel, und sie wollte nicht, dass ihn freute, dass es ihr gefiel. Aber es war so, und sie konnte es nicht ändern. Nur fragte sie sich im Nachhinein, warum sie sich bedankt hatte. Warum sie nicht einmal bei Römern in der Lage war, sich zu verstellen. Sie beschloss, gar nicht weiter darauf einzugehen, und er erwartete offenbar auch nichts mehr, denn im nächsten Moment fragte er, ob er sich setzen dürfe – nur um sich gleich darauf auf der Decke niederzulassen. Für einen Augenblick starrte sie ihn sprachlos an. "Ja, klar. Wozu fragen? Ist ja deine Decke. Genauso wie der Garten…" So typisch. Typisch für ihn, typisch für Römer. Wäre ihre Position eine andere gewesen, hätte sie ihn nun schon aus Prinzip verjagt. Am liebsten hätte sie das jetzt auch getan, aber sie wusste, dass es zu nichts führen würde, außer dass sie sich schlimmstenfalls Strafarbeiten eintrug, vorerst nicht mehr in den Garten durfte und darüber hinaus einen bisher eigentlich recht schönen Abend zerstörte. Unschlüssig stand sie da, wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie wollte noch nicht hinein gehen, auch wenn sich das im Garten schlafen nun wohl erledigt hatte. Zumindest für heute, denn wenn sie überhaupt noch verhindern wollte, dass er es herausfand – und ihr möglicherweise verbieten würde –, dann würde sie wohl oder übel hinein gehen müssen, entweder jetzt oder spätestens dann, wenn er auch ging. Sie wollte noch nicht zurück ins Haus, in den Schlafraum, wo sie nach wie vor das Gefühl hatte, dass die Wände sie erdrückten. Ihr Schlaf war tief und erholsam, wenn sie draußen war – oder bei Corvinus –, aber sonst eher unruhig und häufig von wirren Träumen geprägt, an die sie sich zwar nicht immer erinnern konnte, die einen wirklich guten Schlaf aber selten zuließen.


    Seine Frage gab schließlich den Ausschlag. Siv zögerte nur noch einen winzigen Moment, dann ließ sie sich neben ihm auf der Decke nieder, griff nach dem Papier und begann damit zu spielen. "Warum? Na ja, weil… Pferde… sind schön. Schön Tiere. Lieb. Einfühlsam. Und… ich möge reiten. … Ich fühl mich einfach frei, und unabhängig, wenn ich auf einem Pferd sitze und es losrennt, und der Wind mir ins Gesicht schlägt und… Wenn, wenn ich… reiten, wenn Pferd… laufen, schnell laufen, dann alles weg. Ich… bin frei, dann. Von alles. Von, von Pflicht, und… und Erwartungen und Sorgen und allem anderen halt, was so zusammenkommt." Wie viel gäbe sie dafür, mal wieder reiten zu können, die Geschwindigkeit zu erleben, den Wind im Gesicht, in den Haaren zu spüren… Reiten war für sie immer eine Möglichkeit gewesen, allem zu entfliehen, wenn auch nur vorübergehend. Und egal wie es ihr vorher gegangen war, danach hatte sie sich besser gefühlt. Aber im Vergleich dazu, was sie in den letzten Monaten erlebt hatte, was sie jetzt war, erschienen ihr ihre früheren Sorgen und Probleme nichtig. Wie viel mehr würde sie das Gefühl der Freiheit schätzen können, das sie auf einem Pferderücken empfand, jetzt, wo sie Sklavin war… und zum ersten Mal wusste, was es hieß, unfrei zu sein. "Fühlen, sein frei, auf Pferd."

  • Dass sie meine Frage nicht verstanden hatte, glaubte ich eher weniger. Immerhin hatte ich inzwischen einen recht guten Überblick darüber, welchen Umfang ihr Wortschatz besaß. Das Wörtchen "öfter" zählte definitiv dazu, und die anderen Worte der Frage durfte sie ebenfalls verstanden habem. Doch ich hakte vorerst nicht weiter nach, sondern sah mich im Garten um. Was sie behauptet hatte, stimmte. Im Unterholz und zwischen den Büschen knisterte es leise, der Wind ließ gelegentlich das Blattwerk rascheln und der Mond tauchte dies alles in eine mystische Atmosphäre. Fast wünschte ich mir den feuchten Glanz von Regen auf die dunklen Blätter, damit sie das Licht des Mondes zurückwerfen konnten.


    Die kraus gezogene Nase entging mir ob meiner Beobachtungen bedauerlicherweise. Diese Eigenschaft Sivs war eine, die mich amüsierte und zugleich faszinierte, zeigte sich doch in der daraus resultierenden Grimasse eine Spur Kindlichkeit, welche ihr eine ganz eigene Ausstrahlung verlieh. Ob ihrer Worte runzelte ich kurz fragend die Stirn, klamüserte mir hinter der Stirn jedoch den Sinn des germanischen Satzes zusammen und grinste schließlich. "Ist...nah - wahr?" gab ich zurück und versuchte, mich an den richtigen Klang des germanischen Wortes zu erinnern. Unsinnig oder sinnig, die bisherigen, gemeinsamen Germanischstunden waren sowohl abwechslungsreich als auch ablenkend gewesen. Zwei Faktoren, die schlichtweg gut waren, denn ob des Lernens vergaß ich für eine Stunde all das, was ich sonst mit mir herum schleppte. Zudem bot es einen Vorteil, wenn ich des germanischen mächtig war - ich würde die Sklaven verstehen, wenn sie sich unterhielten. Ob das Wissen um eine barbarische Sprache nun verpönt war oder nicht, war mir dabei herzlich egal, solange es nicht untersagt war uns Spaß machte. Mein Grinsen schwächte sich zu einem Schmunzeln ab, als Siv sich neben mich setzte und mir eine Antwort auf die Pferdefrage gab. Diesmal verstand ich kaum etwas, als sie in ihre Heimatsprache wechselte. Mit konzentriert gerunzelter Stirn wiederholte ich ihre für mich unsinnigen Worte. "Du fühlst dich...wie, wenn dich ein Pferd schlägt? ....tritt meinst du?" Dann jedoch trat die Erleuchtung auf mein Gesicht, und ich nickte verstehend. "Ah, so... Hm. So habe ich das noch nie gesehen. Ich kann auch nicht sonderlich gut reiten. Nun ja, eigentlich kann ich es gar nicht, was für einen Patrizier schon ausgenommen peinlich ist. Allerdings bin ich bisher recht gut drumherum gekommen. Das war in Germanien zwar etwas schwierig, hat aber geklappt. Hmm", machte ich und runzelte nachdenklich die Stirn. "Ich frage mich, ob du wohl gern mitkommen würdest. Caius und ich werden demnächst einen Ausflug machen - mit Pferden. Da könnte ich unter Umständen ein wenig Hilfe gebrauchen. Mitnehmen wollte ich dich ohnehin", fuhr ich fort und sah sie von der Seite her an. Dass sie von meiner Aversion Pferden gegenüber bereits von den anderen Sklaven wusste, stand außer Frage. Nur ob sie wusste, weshalb ich Pferde nicht mochte? Prüfend musterte ich sie einen Moment. Dann entschloss ich mich, es ihr anzuvertrauen. Ich vertraute darauf, dass Siv nicht damit hausieren gehen würde. Immerhin war sie in beinahe jeder Hinsicht anders als die Sklavinnen, die ich bisher nahe an mich herangelassen hatte. Sie war weniger kämpferisch als Cadhla - oder zumindest auf eine andere Art kämpferisch, sie war bei weitem nicht so fixiert wie Camryn und keinesfalls so rebellisch, wie es Merit-Amun gewesen war. Siv war einfach...Siv. "Pferde sind zwar nett anzuschauen, aber sie sind unberechenbar. Sie sind groß, sie sind schnell, und sie sind mir unheimlich", gab ich preis und zog eine Grimasse.

  • Siv war sich nicht ganz sicher, ob er ihr tatsächlich abnahm, dass sie ihn falsch verstanden hatte, aber eigentlich war es ihr egal, aus welchen Gründen er das Thema Wie oft bist du nachts hier draußen und was machst du hier? ruhen ließ, solange es dabei blieb. Genauso wie sie, mit einiger Erleichterung, still für sich feststellte, dass er offenbar nicht wusste, dass sie die gestrige Nacht fast komplett nicht hier gewesen war. Sonst wäre er inzwischen darauf zu sprechen gekommen, jedenfalls ging sie davon aus – er kam ihr nach wie vor noch manchmal unberechenbar vor, handelte oft anders als sie es erwartet hätte, aber sie bevorzugte im Moment einfach, den für sie günstigsten Fall anzunehmen – nämlich dass er nichts wusste, weil er sonst schon längst etwas gesagt hätte.


    Etwas verwirrt runzelte sie anschließend die Stirn, als Corvinus versuchte, ihr auf Germanisch zu antworten. "Ist nah wahr? Was? Warum nah? Es ist wahr dass das alles dir gehört, ja…" Aber sie musste ebenfalls grinsen. Der Unterricht machte ihr Spaß, und obwohl sie in diesem Fall ihm etwas beibrachte, lernte sie selbst auch viel dabei. Er wollte nicht nur Wörter und Sätze lernen, er wollte wissen, wie ihre Sprache funktionierte – worüber sich die Germanin bisher kaum Gedanken gemacht hatte. Es war ihre Muttersprache, sie sprach sie einfach, und fertig. Ihm zu erklären, warum etwas so und nicht anders gesagt wurde, über Regeln und Gesetzmäßigkeiten nachzudenken, die sie so bisher nicht wirklich bewusst erkannt hatte, die ihm aber das Lernen erleichterten, faszinierte sie, und es verhalf ihr nicht nur zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Sprache, sondern für Sprachen allgemein – und damit auch Latein. Mit nach wie vor gemischten Gefühlen, aber doch wesentlich ruhiger ließ sie sich neben ihm nieder. Ein Schmunzeln breitete sich aus, als er versuchte, in ihrem Germanisch einen Sinn zu finden. Es freute sie, dass er sich Mühe gab.


    Unbewusst glitten ihre Finger wieder zu dem Anhänger und spielten damit, während sie ihm zuhörte. Dass er mit Pferden nicht viel anfangen konnte, davon wusste Siv, aber sie hatte sich nicht an dem Gerede mancher Sklaven beteiligt und gab nicht viel auf die Mutmaßungen, die im Haus über die Gründe kursierten. Sie konnte nicht ganz nachvollziehen, wie man Pferde nicht mögen konnte, aber letztlich war das sein Problem, nicht ihres. Als Corvinus dann aber von einem Ausflug sprach, sah sie überrascht hoch, unsicher, ob sie ihn wirklich verstanden hatte. "Ausflug? Du, du meinen, meinst… Wegreiten? Von Stadt weg? Und ich kann mit?" Ein vorsichtiges Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. "Ich mitkomme gern. Ich würd gern mal wieder reiten, egal wohin… Aber wie… wie ich helfen kann? Für reiten, bei dir? Das wird kaum gehen, es sei denn du setzt dich hinter mich…" Das Lächeln wurde breiter, als sie sich vorstellte, wie er hinter ihr saß, in vollem Galopp. Wie schlecht war er denn tatsächlich? Etwas verblüfft zog sie die Augenbrauen hoch bei seinem ‚Geständnis’."Unheimlich? Pferde sind doch nicht… Pferde sind groß, sind schnell, sind stark – und das, das… das ist toll. Für mich. Ich mag das." Siv musterte ihn. "Warum? Warum Pferde sind, sind… unheimlich für dich? Ich, ich meine, Pferde können sein… gefährlich. Weil groß und stark. Aber unheimlich?"

  • Irritiert blinzelte ich Siv an, als sie mich wiederholte und die Wörte noch einmal differenzierter betonte. Ein Grinsen war die einzige Reaktion, die ich zeigte, auf die Worte selbst ging ich nicht noch einmal ein. Sie hatte mich schließlich verstanden, was angesichts der bisherigen Unterstunden auch anzunehmen gewesen war. Zwar konnte ich mich nicht gerade als besonders guten Schüler bezeichnen, doch gab ich mir Mühe und fragte Siv bei so mancher Sitzung Löcher in den Bauch. Ab und an gestaltete sich die Kommunikation schwierig, da sie einen Sachverhalt nicht auf Latein zu erklären vermochte und ich ihr Germanisch nicht hinlänglich verstand, doch mit Achen und Krachen und Händen wie Füßen gelang es uns doch zumeist.


    "Ja, und zwar für einige Tage. Caius und ich haben schon früher solche Unternehmungen gemacht. Ich denke, es wird dir gut tun, für ein paar Tage aus der Stadt zu kommen. Derzeit bin ich noch am Überlegen, wen ich außerdem mitnehmen werde. Vielleicht Sertorio und Hektor. Wie geht es eigentlich Tilla, ich hörte, sie sei krank?" Genaugenommen war Tilla mir seit einer geraumen Weile nicht mehr über den Weg gelaufen, doch Matho hatte mich nicht darüber informiert, dass ein medicus gerufen worden war. Also konnte es nichts Schlimmes sein. Sivs angestoßenes Bild gereichte mir wieder zu einem Schmunzeln. "Nein, das wird nicht nötig sein. Aber es wäre von Vorteil, jemanden dabei zu haben, der sich mit Pferden auskennt." Zwar bezweifelte ich, dass Aquilius niemanden dabei haben würde, bei dem dies ebenfalls der Fall war, doch sicher war sicher. "Oder der mich wieder hinaufscheucht, wenn ich am Boden liege", fuhr ich fort und verpasste Siv einen scherzhaften Ellbogenstoß, begleitet von einem leisen Lachen. Anschließend zuckte ich mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich mag sie einfach nicht. Bestimmt gibt es auch etwas, das du nicht magst. Hunde, Katzen - Wildschweine? Es gibt doch etwas, das du nicht magst, oder?" fragte ich sie und richtete hernach den Blick auf den mondbeschienenen Anhänger an ihrem Hals. Resümierend betrachtete ich das kleine Pferd einen Moment. "Außer uns Römern, meine ich", sagte ich leise.

  • Aufmerksam lauschte Siv seinen Worten, als er von dem geplanten Ausflug erzählte. Mehrere Tage, weg von Rom, von der Stadt, den Straßen, diesem Haus? Es klang fast zu schön um wahr zu sein – Siv hatte das Gefühl, auf einmal ein bisschen freier atmen zu können als bisher. Dass sie, wäre sie keine Sklavin, es gar nicht nötig gehabt hätte sich derart über einen simplen Ausflug zu Pferd zu freuen, der Gedanke kam ihr gar nicht. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre das das erste gewesen, was ihr in den Sinn gekommen wäre. Aber jetzt… wäre es ihr bewusst gewesen, hätte sie nicht sagen können woran es lag – daran, dass sie, trotz aller inneren Gegenwehr, zumindest begann sich an ihr neues Leben zu gewöhnen und sich, wenn schon nicht damit abzufinden, so doch damit zu arrangieren; oder ob es vielleicht daran lag, dass sie inzwischen so viel Zeit in steinernen Wänden verbracht hatte, dass die Freude über Gelegenheit herauszukommen den Trotz überwog; oder ob es die Tatsache war, einen Ausflug mit Menschen machen zu können, die sie in den letzten Wochen lieb gewonnen hatte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem – in jedem Fall freute sie sich, als sie realisierte, dass Corvinus es wirklich ernst meinte, und auf ihrem vom Mond beschienenem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. "Tilla krank, ja. Ist krank… gesein. Gesein?" Siv runzelte flüchtig die Stirn. Es klang falsch, aber im Moment fiel ihr nicht ein warum. Sie benutzte noch recht selten andere Zeitformen als die Gegenwart, einfach weil es ihr gegen den Strich ging etwas falsch zu sagen – aber sie wollte auch zeigen, dass sie nicht gar nichts gelernt hatte in den letzten Wochen. "Sie, sie ist… nicht gesund, noch nicht. Nicht, nicht… nicht ganz… Halb. Sie halb gesund ist. Sie braucht noch Ruhe, aber wir passen auf, dass sie nichts zu schweres macht und Zeit hat zum Ausruhen. Sie ist jung, sie… Fieber, sie hat Fieber. Normal, ich denke. Nicht, nicht schön, aber normal, im Winter, bei jung."


    Siv grinste, nun übermütig, als sie sein Schmunzeln sah. "Oh, du musst wissen was nötig ist… Mit Pferden kenne ich mich jedenfalls aus. " Sie stimmte in sein Lachen mit ein, als sie seinen Ellenbogen in ihrer Seite spürte und den dazugehörigen Kommentar hörte. "Wenn du das wollen, das willst – gerne. Ich, ich… scheuche? scheuche dich auf Pferd, wenn du Boden. Wie Matho scheucht uns, wenn du wollen. Aber dann du mehr gut… du besser nicht fallst." Sie lächelte ihn, diesmal etwas zaghafter, von der Seite her an. "Vielleicht ich kann dir, dir… Tipps geben." Im nächsten Moment wurde sie rot. Was für Tipps sollte sie ihm schon geben können? In der Theorie wusste er wahrscheinlich sogar mehr über Pferde und Reiten als sie – sie hatte es ja nur durch immer wieder ausprobieren gelernt, und handelte bis heute mehr nach Gefühl als nach Verstand, wenn sie mit Tieren umging. Sie lag damit in der Regel richtig, aber sie konnte nicht sagen warum, geschweige denn jemand anderem etwas zeigen. Und wenn er Pferde einfach nicht mochte, hatte er wohl kaum Chancen, ein wirklich guter Reiter zu werden. Gerade wollte sie, halb im Spaß, sagen, es hätte ja sein können, dass er einmal von einem Pferd getreten worden oder etwas ähnliches passiert war und sie deshalb nicht mochte – unter diesen Umständen wäre ihre Frage nach dem Warum durchaus berechtigt gewesen. Bevor sie aber dazu kam, stellte Corvinus ihr die Gegenfrage, und fügte noch etwas hinzu, was sie im ersten Moment irritiert und im nächsten betroffen werden ließ. Außer uns Römern… Sein Tonfall war leise gewesen, und irgendwie seltsam – Siv hätte beinahe schwören können, dass es ihm etwas ausmachte. Und dabei stimmte es so gar nicht, nicht mehr jedenfalls… Nicht, wenn sie wirklich ehrlich war. Siv wurde nachdenklich. "Ich… Römer nicht alle gleich sein. Ich weiß das. Jetzt. Sein hier, leben hier, zeigen das." Sie zögerte einen Moment, bevor sie schließlich langsam hinzufügte: "Du zeigst das."

  • Der Mond leuchtete vor dem sternenklaren Himmel, einem bleichen Käselaib gleich. Lauer Wind strich durch die Blätter der silbrig glimmenden Zweige - und Siv strahlte, was ich erfreut zur Kenntnis nahm. Ein paar Momente lang saß ich einfach nur da, den Kopf nach rechts gewandt, und beobachtete das hellhäutige Gesicht, welches halb in den Schatten verborgen lag. Die Welt war ein Hort voller dunkler Farbnuancen hier draußen, und ob des Strahlens in ihren sonst blauen Augen zeigte sich je ein winziger Lichtreflex auf den Pupillen.


    "War", sagte ich automatisch, als Siv Schwierigkeiten mit dem Lateinischen hatte. "Oder 'ist krank gewesen'. Ah, sehr gut. Es freut mich, wenn es nichts Ernstes ist. Sie soll sich ruhig noch etwas schonen", fuhr ich fort. "Verschleppte Krankheiten sind nicht gut." Matho hatte ohnehin die Anweisung, bei Krankheitsfällen - wenn nötig - die anfallenden Arbeiten zugunsten des Kranken zu verteilen. Allerdings hatte die junge Tilla im Vergleich zu den anderen Sklaven ohnehin nur wenige und zudem leichte Aufgaben. Ich zog einen Mundwinkel nach oben und schüttelte den Kopf, als Siv mich erneut mit so vielen germanischen Wörten überrollte, die mir größtenteils noch nicht bekannt waren. "Ja, scheuchen", bestätigte ich und machte mit beiden Händen eine entsprechende Geste von mir fort. "Aber das hat schon mal jemand versucht und ist daran gescheitert. Als ich in Germanien war, hat ein Klient von mir versucht, mich das Reiten zu lehren. Du dürftest es also mit einem besonders schwierigen Fall zu tun haben, Siv. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht lernen will. Vielmehr...stehe ich mir selbst im Weg. Meine Hände werden feucht und ich habe einen Kloß im Hals, wenn ich weiß, dass ich reiten muss." Keiner meiner Sklaven wusste dies von mir. Nicht einmal Deandra gegenüber hatte ich diese widernatürliche Angst derart detailliert zugegeben. Ich hob die Hand, strich mir übers Gesicht und seufzte. In das zwanglose Gespräch war der Ernst gekrochen.


    Ruhig sah ich Siv an, nun wieder beide Hände hinter mich gestreckt und mich so auf der Decke abstützend und einigermaßen aufrecht haltend. Sie wirkte nun ebenfalls ernst, was gewiss nicht zuletzt von meiner Frage herrührte. Ihr Zögern bei der Antwort war mir nicht entgangen. "Ich bin auch nur ein Römer", erwiderte ich und betrachtete sie aufmerksam. Durchaus darüber im Klaren, dass ich ihr damit allmählich die Fluchtwege nahm, blickte ich sie unverwandt an und harrte ihrer Antwort oder einer Reaktion.

  • "War – ist gewesen," wiederholte Siv. "Tilla… ist krank gewesen." Seltsamerweise machte es ihr bei Corvinus nicht so viel, Fehler zu machen, nicht mehr jedenfalls – vielleicht, weil er mit ihr Germanisch lernte und in ihrer Muttersprache noch mehr Fehler machte als sie in seiner, da sie einfach weiter war. Seine Verbesserungen akzeptierte sie einfach und bemühte sich, sie zu merken. Sie nickte, als er über Tilla sprach, auch wenn sie wieder ein paar Worte nicht verstand – verschleppt zum Beispiel. Aber sie fragte nicht nach. Sie verstand auch so, was er sagen wollte, und sie fand es hätte die Stimmung zerstört, die momentan herrschte, wenn sie ihn nun mit Fragen löcherte. "Ja, Tilla ausruht. Wir, wir, wir sorgen schon dafür. Arbeit von Tilla, das wir machen. Und sie hat Ruhe." Siv musste ein Kopfschütteln unterdrücken, als sie an den Vorfall von vor ein paar Tagen zurückdachte. Da hatte Tilla noch Fieber gehabt, und Matho hatte sich eingebildet, sie wäre wieder gesund… Aber gut, gelöst hatten sie das auch irgendwie. Und die Panik, die dann von den Männern verbreitet worden war, von Hektor und Alexandros – als würden die Sklavinnen noch gesund herumlaufen, wenn Tilla wirklich etwas Ansteckendes hätte, schliefen sie doch im selben Raum, selbst die, die sich nicht direkt um das kranke Mädchen kümmerten.


    Hernach legte sie den Kopf leicht auf die Seite, wieder bemüht, so viel wie möglich von dem zu verstehen, was er von sich gab. Sie war ein wenig erstaunt, als sie begriff, wie groß seine Angst vor dem Reiten offenbar wirklich war, und sie nickte langsam. "So ich sein… sein gewesen, Anfang, in Stadt, in Haus." Die Germanin wich seinem Blick aus und musterte ihre Hände, als sie dieses Geständnis machte – es fiel ihr nicht leicht, einzugestehen, dass es etwas gab vor dem sie Angst hatte. "Hände feucht, und Herz, Herz… klopft, schnell, und Gedanken… viele Gedanken, und sind auch schnell." Dann sah sie auf, und ein Lächeln flog über ihr Gesicht. "Aber… man gewöhnt sich dran. Man, ich, kenne jetzt. Ich… ge, ge… gewonnen? Gewohnen? Gewöhnen! Ich gewöhne daran. Und jetzt, ich merke wenig, bei Arbeit jedenfalls. Nur wenn schlafen, wenn Ruhe, dann ich mag sein… draußen lieber. Sonst träume schlecht oft." Dass sie sich damit im Grunde selbst verraten hatte, fiel ihr in diesem Moment gar nicht auf. Zu sehr beschäftigte sie gerade der Gedanke, dass sie, wenn sie bei ihm die Nacht verbrachte, selten schlecht träumte, was sie aber geflissentlich nicht erwähnte. Stattdessen stieß sie diesmal ihm einen Ellenbogen leicht in die Seite und grinste übermütig. "Du vielleicht, vielleicht doch reiten… bei mir. Mit mir, auf Pferd. Dann egal wenn Hände feucht. Du einfach nur, nur… sitzen und… genießen. Freuen. An Pferd, an, an… an schnell sein, und Bewegung."


    Siv zog die Knie an und schlang die Arme darum, als das Gespräch sich Römern zuwandte. Ihr gefiel das Thema nicht wirklich – aus dem einfachen Grund, weil Corvinus sie immer mehr in eine bestimmte Ecke drängte. Selbst wenn sie sich weigerte zu antworten, oder wütend wurde, zwang er sie dazu, nachzudenken. Und so stur sie manchmal sein konnte, so ehrlich war sie auch. Sie konnte nicht mehr so einfach behaupten, dass sie Römer an sich hasste. Sie wollte es nicht zurücknehmen, wollte es nicht richtig stellen, aber sie konnte es einfach nicht so stehen lassen, wenn er sie so darauf ansprach. Siv kaute auf ihrer Unterlippe, wich erneut seinem Blick aus und schwieg erst mal. Ich bin auch nur ein Römer… Sie wusste das, eigentlich. Aber wie oft war es ihr schon passiert war, dass sie das einfach vergessen hatte? Und was bedeutete das? Hieß das nicht letztlich, dass die Tatsache, dass er Römer war, weniger zählte als die Tatsache, was für ein Mensch er war? Siv kämpfte mit sich, heute nicht zum ersten und auch sicher nicht zum letzten Mal, und dieser Kampf wurde manchmal sehr erbittert geführt. Sie war noch nicht soweit, fühlte sich noch nicht soweit, ihre Vorurteile gegenüber den Römern als Volk aufzugeben. Dass sie ihm inzwischen zugestand, anders zu sein, es auch noch laut sagte, war schon ein großer Schritt gewesen, aber durch seinen Hinweis, dass er nach wie vor Römer war, zwang er sie dazu, auch den nächsten zu tun, und daran hatte Siv zu knabbern. Schließlich holte sie Luft und sah auf, sah ihn an. "Ich weiß. Ich weiß, dass du Römer bist." Sie ließ bewusst das 'nur' weg, das er noch erwähnt hatte. "Ich… Römer sind… Römer…" Siv holte erneut Luft, etwas zittrig diesmal. "Ich so lange denke, dass Römer schlecht… So lange… haben Zorn, und Hass, als, als… Halt. Ich zornig weil, weil… … weil sie töten, meine Volk. Weil sie kommen und, und erobern, und denken sie haben das Recht dazu, und uns nicht einfach in Frieden leben lassen können. Aber…" Was jetzt kam, war wirklich schwer, und das sah man ihr an. Wieder senkte sie ihren Blick. Aber sie hatte einmal damit angefangen, und jetzt kam für sie nicht mehr in Frage, aufzuhören. Es wäre feige gewesen, und das war etwas, was sie unter keinen Umständen auf sich sitzen ließ, nicht einmal wenn dieser Vorwurf nur von ihr selbst kam. Das war auch der Grund, warum sie bewusst vermied, Germanisch zu reden. Sie hoffte nur, dass er sie auch weiterhin nicht unterbrechen, sondern einfach reden lassen würde. "Aber das nur manches, manches Römer, manches in, an Rom. Nicht alles. Lange nicht alles. Ich, ich… nie sehe, gesehen Unterschied, bis, bis hier sein. Nie haben gesehen wollen. Ich nur gesehen Römer, nicht, nicht Mensch. Aber hier… Ich vergesse, dass du Römer. Ich… denke… Ist das, heißt das, dass Mensch wichtig, mehr wichtig, wie sein Römer? Ich, ich weiß es nicht!" Ihr Tonfall wurde kurzfristig etwas heftiger, beruhigte sich aber sofort wieder. "Ich… weiß aber, dass du bist Römer. Und trotzdem… ich… mag dich. Ich kann lachen, und reden, mit dir. Ich…" Sie wagte es immer noch nicht, ihn anzusehen, aber ihre Stimme offenbarte die Hilflosigkeit, die sie empfand, und der Kampf, der in ihr tobte, genauso wie ihr Gesicht, vor allem ihre Augen. "Ich… weiß nicht. Es sein so schwierig, weil Halt fehlt, weil Zorn fehlt. Aber ich nicht haben kann Zorn, wenn ich weiß, dass nicht Recht. Und bei dir… Ich weiß nicht. Ich fühle… hilflos. Manchmal. Aber dann, wenn mit dir, fühle… ich gut. Ich… ich weiß nicht."

  • Die Leichtigkeit, mit der die germanische Sklavin meine Sprache assimilierte, gereichte mir stets von Neuem zum Staunen. Sie hatte meiner Ansicht nach ein Sprachgefühl sondergleichen, was in Verbindung mit der ihr eigenen schnellen Auffassungsgabe dazu führte, dass sie recht schnell ins Lateinische fand und täglich besser wurde. Was man von mir nicht behaupten konnte, denn mein Germanisch war bisher kaum zu verstehen. Ich jonglierte wild umher mit Konjugationen, Verben, Deklinationen und Vokabeln, so wild, dass es manchmal ein Wunder war, dass Siv überhaupt etwas verstand, von der miserablen Aussprache einmal abgesehen. Zahlen waren da viel eher mein Metier.


    Interessiert ruhte mein Blick auf Sivs Gesicht. Sie konnte also nachempfinden, wie ich mich fühlte, wenn ich reiten musste. Ich musterte den silbernen Anhänger an dem ledernen Band und erwiderte leicht ihr Lächeln, als sie wieder aufsah. Andeutungsweise runzelte ich dann die Stirn und hob den Kopf ein wenig an - ich wurde nicht schlau aus ihr. Schlief sie wirklich draußen? Hier? Ich sah auf die Decke hinab und mir wurde klar, dass es kein Scherz gewesen war. Verblüfft lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder Siv zu, den geschwungenen Lippen, welche gegenwärtig so munter drauflos plapperten. Kurz darauf hatte ich ihren Ellbogen zwischen meinen Rippen und schwankte leicht zur Seite, grinsend, doch nicht lachend - ich war so gut wie nicht kitzelig. Der Ausdruck verwandelte sich in ein hinterlistiges breites Grinsen, als Siv vom Reiten sprach. Ich fing ihre Hand ein und erwiderte: "Es klingt in der Tat reizvoll, sich mit dir zusammen an schnellen Bewegungen zu erfreuen." Ich ließ den Satz kurz wirken und fügte hinzu: "Beim Reiten, versteht sich." Dann ließ ich ihre Hand los und zwinkerte ihr zu. Mir stand der Sinn gegenwärtig nicht nach körperlichem Vergnügen, vielmehr fand ich das Gesprächsthema interessant.


    Dass es ihr nicht behagte, war ihr nur zu deutlich anzusehen. Siv wich meinem Blick aus, sie grübelte und fühlte sich sichtlich unwohl. Doch da musste sie nun durch. Aufmerksam verfolgte ich, wie sie sich durch die Worte quälte. Diesmal half ich ihr nicht, sondern ließ sie einfach reden, selbst darum bemüht, keine Regung preiszugeben, bis sie geendet hatte. Auch danach sah sie mich nicht an, sondern hielt den Blick gesenkt. Ich betrachtete ihr von silbriggoldenem Haar eingerahmtes Gesicht einige Momente lang, dann verriet ein leises Rascheln von Kleidung, dass ich den Arm ausstreckte und ihr zwei Finger unter das Kinn legte, um es sanft nach oben zu heben, damit sie mich ansehen musste. Wieder wartete ich einen Augenblick, dann lehnte ich mich vor, stützte mich mit der freien hand auf dem Boden ab - und küsste ein einziges Mal ihre Lippen. Eigentlich hatte ich etwas sagen wollen, doch der Moment war zu verlockend gewesen. Er ging vorüber, und als ich mich neben ihr sitzend und ihr ein wenig mehr zugewandt wiederfand, umspielte ein marginales Lächeln meine Mundwinkel. "Wir alle haben ein uns eigenes Wesen, Siv. Manches Potential geht verloren, weil die Möglichkeit fehlt, es zu entfalten, manches bleibt unentdeckt und manches wird unterdrückt. Letztendlich sollen wir alle die Menschen sein, die unsere Mitmenschen in uns sehen, und doch gleichen wir uns nicht, auch wenn es so scheint. Sieh dir Eier an, jedes ist anders, von Gleichheit kann nur oberflächlich die Rede sein", erwiderte ich leise und zog einen Mundwinkel nach oben. Hernach hob ich erneut die Hand, unschlüssig, ob ich erneut von ihr kosten sollte oder nicht, strich ihr dann aber doch nur über die Wange. "Es tut uns beiden gut, Ruhe zu finden", sagte ich vor mich hin und meinte es doch ehrlich. "Zorn ist vielschichtig, er kann Antrieb sein, aber auch zermürben und schwächen. Und ich fühle mich zermübt und hilflos, Siv, und zwar eindeutig zu oft in der letzten Zeit."

  • Siv bemerkte seine kurze Verwirrung nicht, als sie nun doch gesagt hatte, dass sie draußen schlief, und er ging nicht weiter darauf ein. So merkte sie gar nicht, dass sie gerade zugegeben hatte, was sie eigentlich hatte verschweigen wollen. Sie sprach einfach weiter und hielt erst dann verblüfft inne, als er nach ihrer Hand griff und sie angrinste. Auf seinen Kommentar hin machte ihr Herz einen kleinen Sprung und klopfte dann schneller, und auch auf ihren Lippen breitete sich ein Grinsen aus. So hatte sie nicht gemeint, was sie gesagt hatte, aber korrigieren würde sie ihn nicht. Stattdessen setzte sie zu einer frechen Antwort an, als er schon weitersprach und mit seinen nächsten Worten bewies, dass er sie durchaus richtig verstanden hatte. Siv wusste im ersten Moment nicht, ob sie peinlich berührt sein sollte oder nicht, aber sie entschied sich für letzteres und lachte leise. "Ja. Reiten kann sein schön. Du nur musst… haben… richtig, richtig Lage. Richtig Situation." Sie schmunzelte, als er ihr zuzwinkerte.


    Über das Thema Römer zu reden, und noch dazu mit ihm, fiel ihr wirklich nicht leicht. Immer noch war da so viel in ihr, was gegen ihre gegenwärtige Situation rebellieren wollte, was sie dazu anstacheln wollte, nichts anzunehmen, was in irgendeiner Form dazu führen könnte, dass sie es angenehmer fand. Aber faktisch war sie schon längst dabei. Sie war auch nur ein Mensch, sie musste irgendetwas haben, woran sie Freude fand – andernfalls würde sie verbittern oder daran zugrunde gehen. Cadhla hatte ihr das klar gemacht, hatte Worte gefunden, die sogar deutlich genug für sie waren. Und da sie eigentlich recht fröhlich war, arrangierte sie sich nicht nur, sondern versuchte das Beste aus ihrer Situation zu machen. Nur hatte sie ihren inneren Zwiespalt noch lange nicht überwunden. Für einen Teil von ihr waren die Römer nach wie vor das so verhasste Volk, dem sie nur Verachtung entgegenbrachte, entgegenbringen wollte. Zu merken, dass sie das nicht mehr konnte, wühlte sie manches Mal mehr auf, als gut war, was dann wieder in Zornausbrüchen resultierte. Diesmal aber blieb sie ruhig. Es stimmte, was sie gesagt hatte – sie mochte Corvinus tatsächlich, ob Römer oder nicht. Und sie wollte, dass er verstand, was in ihr vorging, wie sie sich fühlte, ohne überhaupt zu wissen, warum sie das wollte. Sie hatte einfach das Bedürfnis, es ihm zu erklären. Und er nahm ihre Worte einfach hin, ohne großartig etwas dazu zu sagen, wofür sie dankbar war.


    Nachdem sie geendet hatte, schwieg die Germanin eine Weile und starrte weiter vor sich hin, weigerte sich, ihn anzusehen. Sie gestand sich nicht ein, dass sie Angst hatte, seine Reaktion könnte – in ihren Augen – typisch römisch ausfallen. Dann, auf einmal, hörte sie ein leises Geräusch, und nur einen Wimpernschlag später legten sich kühle Finger unter ihr Kinn und zwangen es sanft nach oben. Langsam folgte sie dem Druck und hob ihren Kopf, bis sie ihm schließlich in die Augen sah. Sie erwiderte seinen Blick und wartete einfach ab, aber was dann kam, erstaunte sie zutiefst. Corvinus beugte sich vor und küsste sie. Ein einziges Mal, bevor er sich wieder zurückzog. Siv blinzelte, verwirrt ob dieser zärtlichen Geste. So simpel. Die Geste war so simpel, und fast schon beiläufig ausgeführt. Und überraschte sie gerade deswegen so sehr. Sprachlos starrte sie ihn einfach an, und einen Moment später ergriff er das Wort und antwortete doch noch, aber nicht direkt auf ihre Worte, wie es schien. Dass er verstanden hatte, was sie sagte, daran hatte sie nach dem Kuss keinen Zweifel. Aufmerksam hörte sie ihm zu – das Thema war ihr wichtig, sie wollte wissen was er zu sagen hatte, aber wie immer gab es Worte, die sie einfach nicht verstand, Kombinationen, die fremd waren, Satzstrukturen, die ihr unbekannt vorkamen. Dennoch verstand sie ihn im Wesentlichen, meinte sie zumindest, von den Worten her – aber der Inhalt ließ sie dann doch wieder grübeln, was er sagen wollte.


    "Aber… es, es… es ist schade, wenn Mensch nicht kann sein… nicht sein kann, wie, wie er ist. Ich nicht finde dass Mensch soll sein, wie… wie andere Menschen ihn sehen. Soll sein, was selbst sehen. Weil andere Menschen… Nur als Bespiel, wenn du, wenn du sein wie ich dich sehen, bei Anfang, wir nicht sitzen hier und reden." Siv schüttelte leicht den Kopf, nicht ganz sicher, ob sie ihn wirklich richtig verstanden hatte. "Und sein müssen vier, fünf, sechs und, und mehr Menschen, weil wenn sein wie andere Mensch denkt. Aber das… das nicht gehen. Und gleich nicht sein. Wir nicht gleich. Andere nicht gleich." Siv musterte Corvinus, während dieser seine Hand hob, kurz zögerte und dann sacht über ihre Wange strich. Wieder sagte er etwas, was sie betroffen werden ließ. "Du hilflos?" Sie hatte inzwischen mitbekommen, dass für ihn, oder die anderen reichen Römer, lange nicht alles so einfach war, dass ihnen lange nicht alles in den Schoß fiel, oder zumindest nicht jedem von ihnen. "Zorn macht stark. Aber auch macht schwach. Ich weiß das. Und ich…" Diesmal war sie es, die sanft über seine Wange strich. "Hilflos sein nicht schön. Aber du, du… können was tun. Müssen was tun. Gegen hilflos sein." Mit einem Seufzen schloss Siv die Augen und lehnte sich, ohne bewusst darüber nachzudenken was sie gerade tat, an ihn. Ihr Oberkörper schmiegte sich etwas an seinen, während ihr Kopf an seiner Schulter lag. "Ruhe gut, ja. Ich, ich… sehne Ruhe. Für, für… nach Ruhe. So viel zu denken. So viel, so viel… Arbeit, in Kopf und Herz." Wie schon einmal stellte sie fest, dass sie sich – so unterschiedlich sowohl ihre Herkunft als auch ihre momentanen Lebensumstände auch sein mochten – in manchen Dingen ähnelten, in jedem Fall aber offenbar in der Tatsache, dass sie beide auf die ein oder andere Art mit sich selbst zu kämpfen hatten. "Was dich macht haben Zorn? Und fühlen hilflos und… zer-, zer-… zermürbt?"

  • Die richtige Lage und die richtige Situation waren in vielerlei Hinsicht essentiell, nicht nur das Reiten betreffend. Eine meiner Brauen wölbte sich vielsagend in Verbindung mit einem Schmunzeln, doch weiter ging ich auf das Thema nicht ein, sondern beließ es dabei.


    Versunken in meine eigenen Gedanken, dachte ich nicht mehr daran, dass Sivs Verständnis von meiner Sprache ihr Schwierigkeiten bereiten würde, wenn ich mir keine Mühe gab, nur leicht verständliches Vokabular zu nutzen. Ich ordnete ihren erstaunten Gesichtsausdruck daher der falschen Ursache zu, und glaubte, sie sei erstaunt über meine geäußerten Ansichten bezüglich der Menschen. Stumm saß ich auf der grobwollenen Decke am Fuße des Baumes und betrachtete das silbrigmatte Antlitz der Germanin. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und wachsamen Augen manifestierte sich allmählich ein schwaches Lächeln auf meinen Zügen. "Es sollte so sein, ja. Es ist aber nicht so. Von dir hat man erwartet, dass du Ragin eine gute Ehefrau wirst, obgleich du es nicht wolltest", gab ich zu bedenken. "Ein jeder muss sich anpassen, Siv. Manchen fällt es leichter als anderen, und wieder andere scheitern gänzlich." Ich zuckte mit den Schultern und brachte beide Hände hinter meinen Oberkörper, um mich abzustützen, derweil ich Sivs Worten mit verengten Augen zu folgen suchte. Wie ungläubig sie mich fragte, ob ich hilflos sei... Es klang so verständnislos, und doch überraschte mich diese Reaktion in keinster Weise. Auf fremde Völker mussten wir Römer unfehlbar wirken. Wir nahmen ihre Ressourcen, ihre Söhne und Töchter, ihr Land und ihre Freiheit. War es da nicht purer Hohn, von Hilflosigkeit zu sprechen? Seit unser Sklavenstand größtenteils aus entwurzelten Angehörigen fremder Völker bestand, bekam ich ein Gefühl für solcherlei Ansichten, was gewiss nicht hieß, dass ich sie teilte. Doch wenn man tagtäglich indirekt oder auch direkt mit den Unterschieden und Gefühlen von Menschen fremder Völker konfrontiert wurde, gewann man einen weitaus besseren Einblick als durch das bloße Studieren von Schriftstücken zu diesem Thema.


    Mit keiner Wimper zuckte ich, als sie mir über die Wange strich, welche bereits wieder zu kratzen begann. Es war einen Schererei mit dem Bart. Und nun war es erneut Siv, ob derer ich die Brauen leicht hob, als ich spürte, wie sie sich an mich lehnte. Ihr delektabler Duft stieg mir nur wenig später in die Nase, und ich richtete den Blick hinauf in den Himmel, um die helle Mondscheibe auf samtenem Grund zu betrachten. Ich hatte den Wunsch, Siv einen Arm um die Schultern zu legen, mochte mich aber nicht recht entscheiden, ob das wirklich sinnvoll war. Ganz gleich, was die Situationen zwischen uns mir auch vorgaukeln mochten, dies hier war nicht, wie es schien. Sie war eine Sklavin, ich hatte sie gekauft. Damit war sie mein Besitztum, nicht mehr und nicht weniger. Sie besaß zwar eine ganze Reihe an Vorzügen, aber was würden sie wert sein, wenn es darauf ankam? Und doch... Was war so falsch daran, sich einer Illusion hinzugeben, einer privaten Inszenierung, persönlich und exklusiv? Langsam wandte ich den Kopf und sah von schräg oben zu Sivs Kopf an meiner Schulter herunter. Solange ich darauf achtete, sie weder bevorzugt den anderen gegenüber noch ungebührlich ob ihres Standes als Leibsklavin zu behandeln, barg ein solches Spiel keine Gefahr. Ich wandte mich kurz um, blickte hinter mich und rutschte dann ein Stückchen zurück, um mich gegen den kühlen, knorrigen Stamm des Baumes zu lehnen. Die Beine winkelte ich an, die Füße stellte ich auf und Siv zog ich zu mir heran, sodass sie vor mir saß und sich anlehnen konnte, geborgen zwischen den Knien des Römers, dem sie gehörte. Nachdenklich lehnte ich auch den Kopf an die zerfurchte Rinde, den Himmel nach bekannten Sternbildern abtastend. Es verging eine geraume Weile, in der ich nichts weiter tat als so zu sitzen und in den Himmel hinaufzuschauen.


    "Meine Mutter war krank. Als sie starb, ist mein Vater ihr aus freien Stücken gefolgt. Zu diesem Zeitpunkt war ich in Germanien stationiert, bei der legio secunda. Ich habe es durch einen Brief erfahren, den mein Vater selbst geschrieben hatte, ehe er Mutter ins elysium folgte", sagte ich schließlich mit belegter Stimme. "Seit dem Tod meines Vaters bin ich für die Familie verantwortlich, Siv. Mir obliegt es, sie zusammenzuhalten, sie zu stützen und zu lenken. Aber es läuft alles aus dem Ruder. Titus...hasst mich, ich weiß nicht weshalb. Camilla und ihre Söhne zogen nach Mantua. Meine Verlobung endete in einem Fiasko. Und Helena... Nun, du weißt, was sie getan hat, und das war meine Schuld. Ich frage mich, warum ich versage, Siv. Immer und immer wieder. Titus wirft mir vor, die Zügel zu fest zu halten. Er begreift nicht, dass ich nicht auch ihn noch auf diesen Weg lenken will. Helena wird mich nun gewiss hassen. Es ist nicht gerecht. Aber das Leben ist wohl nie gerecht." Versonnen starrte ich das Coma Berenices an, das Haar der Berenike, dessen nur verhalten glühende Sterne ich neben dem Bären entdeckt hatte. "Einst opferte die Königin Berenike ihr rabenschwarzes Haar der Aphrodite, da ihr König, Ptolemaios, den Sieg gegen die Seleukiden errungen hatte. Am Morgen nach dem Opfer war ihr Haar nirgends mehr aufzufinden, und die Priester erklärten, dass der Göttin diese Gabe so sehr gefallen hatte, dass sie sie auf ewig am Himmel sichtbar gemacht hatte. Selbst Catull hat darüber geschrieben", sinnierte ich leise vor mich hin, den Blick versunken im dunklen, mit Lichtpunkten gespickten Nachhimmel. "Manche behaupten allerdings, es sein nicht das Haar der Berenike, das dort prangt, sondern lediglich die Schwanzquaste des benachbarten Löwen..." Verwundert war der Tonfall, mehr geistesabwesend denn bei Sinnen, und als ich den Blick schließlich wieder senkte und Siv erneut gewahrte, lächelte ich milde. "Erzählst du mir, was dich bewegt? Warum Kopf und Herz nicht ruhen können?" fragte ich sie.

  • Siv biss sich kurz auf die Lippe, als Corvinus Ragin ansprach. Für den Bruchteil eines Moments musste sie gegen das Gefühl ankämpfen, dass er – ein Römer – nicht das Recht hatte, von Ragin zu sprechen, und auch nicht ihre Situation beurteilen konnte. Aber sie gewann den Kampf, auch wenn sie Corvinus nicht ansah, als sie antwortete. "Ja. Menschen erwarten. Aber, was ich tun … das, das nicht immer dann, was Menschen erwarten. Ich nicht können tun, was Menschen erwarten, nicht von alle. Weil alle erwarten anders. Ich nicht, nicht… können sein, auf fünf Art verschieden." Sie spielte mit einer Strähne ihres Haars. "Anpassen… ja. Aber wie sehr ist gut. Wie sehr… anpassen. Und noch bleiben selbst." Nachdenklich hing sie für Augenblicke ihren eigenen Gedanken nach, während sie sich an ihn lehnte, und wurde daraus gerissen, als er sich kurze Zeit später bewegte und ein Stück von ihr fortrückte. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte, und ihr Gesicht überzog sich erneut mit einer leichten Röte. Gleichzeitig fragte sie sich, was sie dazu gebracht hatte, diese vertrauliche Haltung zu suchen. Er war und blieb ein Römer, und sie war seine Sklavin, wie sonst sollte er darauf reagieren? Wahrscheinlich fragte er sich gerade, was sie sich dabei gedacht hatte – das fragte sie sich ja selbst. Die simple Wahrheit war: nichts. Sie hatte einfach agiert, ohne nachzudenken.


    Bevor ihr die Situation aber wirklich peinlich werden konnte, bevor sie anfangen konnte sich über sich selbst zu ärgern oder ähnliches, griff Corvinus – der sich inzwischen an den Baumstamm gesetzt und die Beine aufgestellt hatte – nach ihr und zog sie zu sich. Siv war im ersten Moment zu überrascht, um sich zu wehren oder überhaupt etwas zu tun, und so folgte sie einfach nur dem leichten Druck, den seine Hände auf sie ausübten. Erst als sie schon zwischen seinen Knien saß, fragte sie sich, was da gerade geschah. Sie hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet, und hätte sie vorher darüber nachgedacht, hätte sie sich gar nicht erst an ihn gelehnt. Aber er schien nichts dabei zu finden… Hätte Siv gewusst, was er gerade dachte, dass seine Überlegungen von Wörtern wie Illusion, Inszenierung und Spiel beherrscht wurden, wäre sie nun gegangen, wütend, aber vor allem verletzt und enttäuscht. Was auch immer zwischen ihnen sein mochte, für Siv war es authentisch. Sie hatte beileibe ihre Probleme damit, mit einem Römer, dem sie nach römischem Recht noch dazu gehörte, so vertraut umzugehen, ihn zu mögen. Aber sie fühlte sich einfach wohl in seiner Gegenwart, meistens jedenfalls, sie hatte das Gefühl, verstanden zu werden… und das war etwas, wogegen sie sich auf Dauer nicht wehren konnte. Sie konnte nicht künstlich eine Abneigung konstruieren, wo keine war, auch wenn sie es zumindest anfangs gerne getan hatte. Als sie nun also endgültig nachgab und sich an seine Brust lehnte, ihren Kopf unter seinem Kinn, fühlte sie sich tatsächlich geborgen, und ihre Hand tastete nach seiner, um etwas von diesem Gefühl zurückzugeben.


    Ihr Blick glitt wie seiner über den Himmel, wo die Sterne ausgebreitet waren wie funkelnde Steine auf schwarzem Samt. Manche Konstellationen erkannte sie wieder, und das hatte etwas Tröstliches, während die Worte, die an ihr Ohr drangen, eher dazu führten, dass sie erschauerte. Sie verstand nicht alles, aber was sie verstand, genügte. Ihre Finger verschränkten sich mit seinen und drückten sie kurz in dem Versuch, ihm Trost zu spenden, aber sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie kannte ihn oder seine Familie nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob er die Wahrheit sagte. Und sie wollte auch nicht irgendetwas Heuchlerisches von sich geben, etwas wie, dass alles schon nicht so schlimm sein würde wie er sich das gerade einrede… Sie wusste nicht, ob es so war. Nur seinem letzten Satz konnte sie voll und ganz beipflichten. "Nein. Leben nicht gerecht. Aber auch nicht immer… schlecht. Leben ist, ist… ein ständiges Auf und Ab. Oben und unten." Ebenso versonnen wie er das Sternbild anstarrte, hörte sie ihm bei dessen Beschreibung zu. Ihr war neu, dass mit Sternen Geschichten verbunden waren, und sie war fasziniert von der Geschichte. "Ich nicht kennen die Geschichte. In Germanien, Sterne sein, sind… Funken. Kleiner Feuer, sehr sehr klein. Götter nehmen kleiner Feuer, und… tun an Himmel. Am Anfang." Einen Moment schwiegen beide und sahen einfach nur das Sternbild an, dann spürte die Germanin eine Bewegung hinter sich, und seine Frage machte sie wieder nachdenklich. "Was bewegen…" Sie drehte ihren Kopf zur Seite, so dass ihre Wange nun an seiner Brust lag, ihr Ohr knapp über seinem Herzen, so dass sie es schlagen hören konnte. Seltsamerweise beruhigte sie das. "Du reden von anpassen. Anpassen… wichtig, ja. Nötig. Aber was wenn, wenn nicht wollen? Aber… einfach tun? Du ge, ge… gewöhnen an viel, ich gewöhnt an viel. Ich… Mein Leben hier so, so anders sein. Ich, ich nicht wollen… sein zufrieden hier. Nicht in Rom, nicht sein Sklave. Nicht gewollt. Aber hier Menschen sein, die ich mag. Und sein viel, viel interessant." Siv seufzte leise. Das allein war schon ein Zwiespalt, der sie stark beschäftigte – wie sollte sie ihre ablehnende Haltung aufrecht erhalten, wenn sie doch inzwischen Menschen hier hatte, die sie mochte, mit denen sie Spaß hatte? Und das war noch lange nicht alles. Wieder fiel es ihr nicht leicht, das zu sagen, aber sie hatte nun mal angefangen. "Römer immer… sein schlecht, für mich. Aber ich weiß, dass nicht so sein. Ich nie wollen sein, dass wahr, aber… Ich immer noch hassen Soldaten, die fangen. Aber nicht Rest. Nur… sein einfach, mehr einfach, wenn können hassen alle. Ich hassen Römer, früher, alle. Denken Germanen sein besser. Weil ich gewollt, dass so sein. Ich sein so stolz. Aber…" Siv schwieg erneut einen Moment. Sie hatte keine Ahnung, ob er auch nur ansatzweise verstehen würde, wie sehr sie mit sich und ihrem Stolz zu kämpfen gehabt hatte, um überhaupt an diesen Punkt zu kommen, an dem sie nun war. Überhaupt darüber nachzudenken, dass Römer nicht alle gleich waren. Und das nicht nur vor sich selbst, sondern vor einem anderen, gar einem Römer, zuzugeben – was in der Konsequenz auch bedeutete zuzugeben, dass sie im Unrecht gewesen war. Und nicht zuletzt hatte sie Probleme auszudrücken, was sie empfand, was ihr im Kopf herum ging – es wäre ihr auch in ihrer Muttersprache nicht leicht gefallen, die richtigen Worte zu finden, weil sie ja selbst noch nicht mit sich im Reinen war. Auf Latein war es ungleich schwerer. Wie sollte er da verstehen können, was es für sie bedeutete, wie schwer ihr das alles fiel? Trotzdem versuchte sie es weiter. "Wenn, wenn, wenn wir… so stark wie Römer. Wir tun gleich. Nicht ich, oder von mir Familie, aber andere. Menschen so sein. Ich nicht will, dass so sein, nie wollen… zugeben, dass… Germanen tun gleich, was Römer tun. Wenn können. Ich nicht will denken das, aber ich weiß, dass so sein. Und jetzt…"

  • "Es ist eine Gratwanderung. Ich weiß. Aber es wird dennoch erwartet, dass man nicht srürzt, da kann die Klippe noch so steil sein", erwiderte ich und wiegte sachte den Kopf hin und her. Ich fand es nicht unangemessen, dass sie sich an mich lehnte, und ich beurteilte dieses Verhalten auch nicht negativ, sondern nahm es ganz schlicht als gegeben hin. Als ihre Hand allerdings meine fand, sah ich ein wenig überrascht darauf hinab, weiter reagierte ich indes nicht, sondern lehnte nur das Kinn ein wenig mehr an den hellblonden Haaransatz.


    "Kleine Lichter, die die Götter an den Himmel tun? Tatsächlich?" murmelte ich erstaunt. Mir waren schon eine Menge Geschichten untergekommen, zumal ich mich mit der Materie gern beschäftigte, da sie ungemein faszinierend war, doch dass germanische Götter die Sterne an den Himmel gesteckt hatten, war mir neu. "Siehst du das dort, rechts? Das ist das Equuleus. Es ist ganz klein, aber man kann dennoch einen Pferdekopf erkennen, wenn man genau hinsieht. Du kennst doch den Pegasos? Der Geflügelte hatte einen Bruder, sein Name war Celeris. Der Götterbote Hermes schenkte Kastor dieses Pferd, der seinerseits der Bruder des Polydeukes war." Kastor und Pollux, das unzertrennliche Brüderpaar... Siv musste doch schon von ihnen gehört haben? Mir fielen auf einmal so viele Geschichten ein. Sagen, die ich Sisenna erzählt hatte, Märchen, die Mutter oder die Amme damals uns Kindern erzählt hatte. Ich lächelte milde vor mich hin und seufzte. Das Gespräch wandte sich ernsteren Themen zu.


    "Du lernst gern", stellte ich fest. "Ich habe schon davon gehört, und ich finde es gut. Man lernt sein ganzes Leben lang, zumindest sollte man das, wenn der Geist nicht erlahmen soll. Du bist noch nicht so lange hier wie andere, Siv, aber es ist nicht unentdeckt an mir vorbeigezogen, dass dein Stolz von bemerkenswerter Intensität ist." Ich schmunzelte. "Manchmal ist es gut, wenn man Urteile neu überdenken muss. Auch, wenn das schwieriger ist, als pauschal alles und jeden zu hassen." Und gerade für Siv würde es noch viel schwerer sein, bei ihrer Halsstarrigkeit und ihrem Stolz, überlegte ich. Allmählich wurde mir kalt. Es war eben doch noch nicht so warm wie in den lauen Sommernächten, die in Italien gang und gäbe waren. In ein paar Wochen wäre es wohl soweit, dass man bis zum Zubettgehen draußen sitzen konnte.


    "Genauso wie wir niemals zugeben würden, dass ihr unsere Expansionsabsichten teilweise ganz schön gefährdet", entgegnete ich und lachte leise. "Und jetzt? Jetzt sitzt du vor einem langweiligen Römer auf dem Boden und musst dir Sternbilder anschauen und dazu Kindergeschichten anhören", spottete ich über mich selbst. "Ja, doch, das ist schon ein Abstieg, würde ich sagen."

  • Siv schloss die Augen und schob jeden Gedanken darüber, was es wohl bedeuten mochte, dass Corvinus sie in diese zärtliche, fast schon schützende Umarmung genommen hatte, beiseite und genoss einfach nur das warme Gefühl der Geborgenheit, dass sich in ihr ausbreitete. "Ja. Funken. Kleine Lichter. Kleiner, sehr sehr kleiner Feuer." Sie folgte seinen Weisungen mit ihren Blicken und betrachtete die Sterne, Augenbrauen zusammengezogen, und nach ein paar Augenblicken konzentrierten Hinsehens meinte sie tatsächlich den Kopf eines Fohlens zu erkennen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie lehnte sich wieder zurück, die Arme auf den Knien des Römers, während sie gleichzeitig fasziniert der Geschichte lauschte, die er erzählte. "Pegasos? Das Pferd mit, mit Fliegen, ja? Mit Flügeln?" Von den griechischen Sagen hatte sie schon ein paar gehört – sie war neugierig auf alles Neue, was sie lernen konnte, und sie liebte diese Geschichten. Wann immer sie mit den anderen Sklaven einer Arbeit nachging, die es erlaubte, und sie diese überreden konnte, ließ sie sich Sagen erzählen, die diese kannten, gleich woher sie kamen. Sie wusste, dass es ein geflügeltes Pferd bei den Griechen gab, aber zu erzählen wie diese Sage genau gestrickt war, dazu hatte sie noch niemanden bringen können, und Kastor und Polydeukes waren ihr noch gänzlich unbekannt. "Kastor und… Pol… Poli… Was mit den? Was, was getan? Was mit Pegasos?"


    Unbewusst kuschelte sie sich etwas enger an ihn, als ihr kühl wurde – nicht wegen der inzwischen frischen Nachtluft, sondern wegen des Themas, das sie inzwischen angeschnitten hatten. "Ja, lernen… lernen sein, ist Freude. Es macht mir einfach Spaß…" Für einen Moment schwieg sie, als ihr plötzlich so klar wie nie zuvor wurde, wie viel ihr Leben hier ihr bot, wie viel ihr entgangen wäre, wäre sie nicht in Rom gelandet. Unangenehm berührt, weil das letztlich bedeutete, dass ihr Dasein als Sklavin auch seine guten Seiten hatte, schob sie die Gedanken weg und lauschte seinen weiteren Worten, die für sie aber nicht wirklich angenehmer waren. "Ich weiß", murmelte sie, während eine Mischung aus Verlegenheit und eben angesprochenem Stolz in hier hochstieg. "Ich weiß, Stolz ist… intens…? Ist stark. Du meinen das, ja? Mein Stolz sein stark. Und viel, haben viel davon. Ich weiß…" Sie starrte in den Nachthimmel, ohne diesmal die Sterne zu sehen, die dort oben funkelten, und ihre Stimme wurde leise und nachdenklich. "Vater auch gesagt, immer, dass Stolz bei mir stark. Viel. Zu viel. Auch gesagt, dass… dass Ur…teil… das sein Meinung, von, für über anderes Mensch? Er gesagt dass sein nicht gut. Nicht gut wenn zu viel, oder zu… vor, vor Zeit… zu… Wenn man sich einfach zu früh ein Urteil bildet. Er gesein gut. Ich lernen viel, gelernt viel, von er."


    Sie verstummte erneut und hing ihren Gedanken nach, dachte an ihren Vater, den sie das letzte Mal gesehen hatte bei dem Überfall, wie er von einem Speer durchbohrt worden war, wie er vom Pferd gefallen war… Sie selbst war von drei Römern gepackt gewesen, hatte sich gewehrt nach Leibeskräften, und sie hatte zu ihm gesehen, hatte gesehen, wie das Lebenslicht in seinen Augen erloschen war… Und sie war wie erstarrt gewesen, hatte sich nicht mehr gerührt, hatte nur entsetzt zu ihrem Vater gesehen, und erst nach Momenten, als die Römer sie so weit wegschleppt hatten, dass sie ihn aus den Augen verlor, hatte sie wieder begonnen sich zu wehren. Aber da war es zu spät gewesen. Erneut wechselte sie das Thema, und bei Corvinus’ Antwort musste sie dann grinsen. "Tun wir, ja? Wir Recht damit. Römer nicht alles, nicht, nicht mehr gut. Nur mehr Kämpfer. Mehr, und mehr gut Waffen. Mehr gut als Germanen, da wo Sonne im Mittag und Abend. Da wo Sonne nie, da Germanen mehr gut." Ihre Stimme klang genauso verschmitzt, wie es ihr Grinsen war. Bei den nächsten Worten dann mischte sich etwas hinein, das freundschaftlich war, warm, fast schon zärtlich. "Kein Abstieg, nein. Nicht schlecht, das. Ich mage Sterne. Mage Geschichten. Und du nicht langweilig, nicht langweilig erzählen, und nicht langweilig seid. Bist."

  • "Ja, ein weißes Pferd mit prächtigen Schwingen", wiederholte ich. "Kastor und Pollux sind die Sohne des Zeus. Du musst wissen, dass die griechische Athene die Schutzgöttin der Stadt Athen in Griechenland ist. Einst trugen sie und Poseidon, der Gott der Meere, einen eigentümlichen Wettkampf um das Schutzpatronat für Athen aus, das damals noch keinen Namen trug. Derjenige sollte gewinnen, der den Menschen Athens ein Geschenk machte, das von großem Nutzen für das Volk sein würde. Poseidon richtete seinen möchtigen Dreizack auf den Boden, der daraufhin ein prächtiges Pferd gebar. Dieses Pferd war Celeris, und sein Erscheinen sorgte für die Meinung unter den Göttern, dass Poseidon wohl gewinnen würde, schließlich können Pferde große Strecken bewältigen, Lasten ziehen und den Menschen damit entlasten. Doch sie hatten nicht mit Athenes Weitsicht gerechnet. Die Göttin ließ einen Olivenzweig aus dem Nichts erscheinen. Zuerst lachten die Götter, doch als Athene ihnen erklärte, wie nützlich Holz, Frucht und Blätter für die Menschen sein könnte, und dass dieser Zweig ein Symbol des Friedens sei, wohingegen ein Pferd das Zeichen des Krieges war, entschieden die Götter, dass Athene die rechtmäßige Gewinnerin sei. Poseidon war daraufhin derart aufgebracht, dass er Celeris mit seinem Dreizack aufspießte. Seit diesen Tagen heißt die Stadt Athen, benannt nach ihrer Schutzherrin." Ich schwieg, nachdem ich die Geschichte erzählt hatte. Was genau Kastor mit Celeris angestellt hatte, darüber waren sich die Quellen uneins. Wie der Geflügelte allerdings sein Ende gefunden hatte, das war seit jeher überliefert worden. "Habt ihr auch solche Geschichten in Germanien?"


    "Ja, das meine ich. Sprichst du von Vorurteilen? Dann hatte dein Vater recht. Es ist nicht gut, sich zu früh eine Meinung zu bilden. Allerdings ist es auch nicht immer leicht, es nicht zu tun", erwiderte ich. Ich selbst hatte schließlich auch Erfahrung damit. Wer hatte die nicht? Ich schwieg einen Moment und fragte sie dann "Vermisst du ihn sehr?" Mir wurde klar, dass ich gar nicht wusste, ob er noch lebte oder ebenfalls in Gefangenschaft geraten war. Siv sprach nicht oft von ihrer Familie, und ich hatte nie nachgefragt, denn ich wusste, dass es augenblicklich den Schmerz wieder heraufbeschwor, wenn man laut davon sprach. Das war bei mir nicht anders. Ich dachte an meinen Vater und konnte meine eigene Frage für mich mit einem Ja beantworten. Ich vermisste ihn.


    "Im Norden", sagte ich. Im Nordwesten gab es noch viele freie Germanenstämme. "Oh. Na dann habe ich noch einmal Glück gehabt, hm?" Ein wenig melancholisch grinste ich Siv an, dann hob ich die Schultern. Es wurde allmählich kühl hier draußen, definitiv zu kühl, um zwischen Hinterteil und Boden nur eine dünne Decke zu haben. "Gehen wir hinein?" schlug ich vor. Ich war müde, und auch Siv musste doch müde sein.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!