Weg in den Garten, tief wie ein langes Getränke,
leise im weichen Gezweig ein entgehender Schwung.
Oh und der Mond, der Mond, fast blühen die Bänke
von seiner zögernden Näherung.
Rainer Maria Rilke
Siv war gut gelaunt, als sie sich spät an diesem Abend hinaus schlich in den vom Mond erhellten Garten. In der letzten Nacht hatte sie das Julfest gefeiert, und sie war erst in den frühen Morgenstunden wieder zurück gekommen. Auf sie gewartet hatte keiner, und auch den heutigen Tag über hatte sie niemand darauf angesprochen, also standen die Chancen gut, dass keiner ihre Abwesenheit gemerkt hatte. Bei den Nächten, die sie im Garten schlief, dachten die anderen Sklavinnen auch in der Regel, dass sie sie bei ihrem Herrn verbrachte, also warum hatte es gestern anders sein sollen – es sei denn Corvinus hatte tatsächlich nach ihr rufen lassen. Und da nach wie vor diese Saturnalien gefeiert wurden, hatte sie den Vormittag genutzt, Schlaf nachzuholen, bis über Mittag hinaus. Normalerweise schlief sie nie so lange, selbst wenn die Nacht lang oder anstrengend gewesen war, aber sie hatte ja ohnehin nichts zu tun – unter anderen Umständen wäre sie in den Wald gegangen und einfach herumgelaufen, oder ausgeritten, aber das kam hier kaum in Frage. Den Nachmittag hatte sie sich dann auch eher gelangweilt, hatte sich mit den anderen unterhalten, hatte, wie bereits öfter, die Münzen betrachtet, die Corvinus ihr ausgeliehen und die Brix ihr inzwischen noch einmal auf Germanisch erklärt hatte, war im Stall gewesen und hatte sich schließlich Brix geschnappt, um ihn über ein paar Worte auszuquetschen – unter anderem hatte sie ihn endlich gefragt, was Corvinus hieß. Der Gedanke daran ließ sie wieder grinsen. Kleiner Rabe. Amüsiert schüttelte sie den Kopf und breitete die Decke unter dem Baum aus, unter dem sie für gewöhnlich schlief. Den Tag über hatte sie noch etwas anderes verfolgt, ebenso wie die letzten Tage, und zum Teil hatte sie sich einfach Beschäftigungen gesucht, mochten sie noch so sinnlos sein, um sich davon abzulenken. Die Germanin setzte sich hin und zog nachdenklich das kleine Päckchen aus der Tasche, das Corvinus ihr bei der Saturnalienfeier gegeben hatte.
Sie hatte es bisher nicht geöffnet. Die anderen während der Feier mochten gedacht haben, sie lege keinen Wert auf Geschenke der Römer, und das stimmte im Prinzip auch, aber hier lag der Fall anders. Sie war neugierig, was in dem Päckchen sein mochte. Aber… sie wollte alleine sein, wenn sie es aufmachte. Sie wusste nicht warum; sie wusste nur, dass sie nicht wollte, dass ihr andere dabei zusahen, wusste, dass sie diesen Moment für sich allein haben wollte. Gleichzeitig machte sie diese ungewohnte Gefühlsregung nervös, und obwohl sie seit der Feier oft genug an das Päckchen hatte denken müssen, das seitdem in ihrer Tasche gewesen war, hatte sie bisher doch nicht nach einer Gelegenheit gesucht, es öffnen zu können. Jetzt saß sie unter dem Baum und ließ ihre Finger darüber streichen, immer noch ohne es zu öffnen, bis eine innere Stimme sie einen Feigling schimpfte. Das gab den Ausschlag. Behutsam schlug sie das rote Papier zurück. Als sie den Inhalt im Licht des Mondes sah, der heute besonders hell zu sein schien, war sie sprachlos. Ihre Finger glitten über den kostbaren Anhänger; wer auch immer ihn angefertigt hatte, musste ihn in mühevoller Feinstarbeit geformt haben. Siv hatte keine Ahnung davon, dass das Pferd aus Silber war, und wie viel es allein deswegen wert war. Aber sie konnte die Mühe einschätzen, die nötig gewesen war, es zu fertigen. Jede Einzelheit schien zu stimmen, und wenn sie genau hinsah und den Anhänger leicht hin und her bewegte, bildete sie sich sogar ein, die feinen Muskelstränge sich bewegen zu sehen. Das Pferd wirkte so lebendig, als wolle es im nächsten Moment losgaloppieren.
Hatte er geraten? Hatte er blind getippt, was ihr gefallen könnte, oder einfach irgendetwas gekauft? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gesehen, was er Cadhla und den anderen geschenkt hatte – jeder hatte von ihm etwas anderes bekommen, und es schien, als ob er sich bei jedem Gedanken gemacht hätte. Aber woher sollte er wissen, was ihr gefiel? Bisher hatte sie ihm gegenüber noch nicht erwähnt, wie sehr sie Pferde liebte, und sie glaubte nicht, dass er mitbekommen hatte, dass sie sich zu den Stallungen schlich, wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, seit sie erfahren hatte, dass es sie gab. Sie war vorsichtig dabei, übervorsichtig, wollte sie doch nicht das Risiko eingehen, dass es irgendjemand bemerkte – und ihr womöglich verbot, als Strafe für irgendetwas oder, noch schlimmer, generell. Also, woher wusste er davon? Und warum… hatte er ihr diesen Anhänger geschenkt? Die anderen hatten Dinge bekommen, die zwar schön waren, die sie aber auch gebrauchen konnten… Das hier war nur schön, hatte keinen anderen Nutzen als den, schön zu sein. Zu gefallen. Siv war verwirrt, und das nicht nur, weil das Geschenk von einem Römer kam. Sie hatte bisher selten etwas bekommen, was keinem Zweck diente außer einfach nur eine Freude zu machen. Die meisten Geschenke, ihres Vaters, ihrer Brüder und sogar Ragins, hatten immer auch einen Nutzen, was nicht hieß, dass Siv sich weniger gefreut hätte. Und jetzt saß sie da und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, dass Corvinus ihr etwas derartiges geschenkt hatte, und nicht auch etwas was sie irgendwie gebrauchen konnte und möglicherweise sogar ihm Nutzen brachte, so wie Caelyns Geschenk… Siv hätte beinahe laut angefangen zu lachen, als die andere Sklavin ihr erzählt hatte, was auf der Schriftrolle stand, aber sie hatte sich noch rechtzeitig zusammengerissen, und so war aus dem Lachen ein Prusten geworden, was auch nicht viel besser gewesen war. Aber nein, er hatte ihr einen Pferdeanhänger geschenkt. Und sie freute sich darüber und war gleichzeitig verwirrt, über das Geschenk, über den von dem es kam, und über ihre eigene Reaktion.
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