Seine Hand zitterte, als ihm die Schriftrolle einfach entglitt, nachdem er sie gelesen hatte. So lange hatte Ursus keinen Brief von Zuhause mehr erhalten und sich auch schon große Sorgen deswegen gemacht. Und nun dies! Er schloß für einen Moment die Augen und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Wie konnte das nur sein? Wie konnte Fhionn so etwas tun? Und warum hatte es niemand verhindert? Er hatte doch geschrieben, was Matho für ein Tyrann war! Der Brief schien nicht angekommen zu sein. Anders konnte Ursus sich das alles nicht erklären. Und nun war nicht nur Matho tot, sondern auch Fhionn!
Und Tante Camilla... Irgendwie ging die Nachricht über ihren Tod ein wenig unter durch den Schock über Fhionns Tat. Das hatte Tante Camilla auch nicht verdient. Ursus schloß abermals die Augen und atmete tief durch. Es schien fast, als würde ein dunkler Schatten auf der Aurelia liegen. Zürnten ihnen die Götter?
Zögernd griff Ursus nach einer leeren Schriftrolle und zur Feder.
Ad
Marcus Aurelius Corvinus
Villa Aurelia
Roma
Provincia Italia
Salve, Marcus!
Bestürzung ist wohl der einzige Begriff, der auszudrücken vermag, was mich beim Lesen Deines Briefes bewegte. Ich sitze, immer noch ganz betäubt von den Nachrichten, hier in meinem Officium und die Feder sträubt sich, vernünftige Worte auf das Papyrus zu setzen. Das wichtigste vielleicht vorneweg: Ich will Fhionns Tat, von der ich aufs äußerste entsetzt bin, nicht beschönigen. Doch was ich von Caelyn über Matho gehört habe, scheint mir eher noch eine Untertreibung gewesen zu sein. Wer weiß, was ich noch erfahren werde, wenn sie hört, dass er tot ist. Insofern scheint es zumindest erhebliche Gründe für Fhionns Tat zu geben, denn hier hat sie keinerlei Aggression gegen Matho gezeigt. Und das kann doch nur bedeuten, dass es seit dem Aufenthalt hier noch schlimmer mit ihm geworden sein muß. Leider wird dieser Brief Dich nicht mehr rechtzeitig erreichen, um etwas an ihrem Schicksal zu ändern, das sich wohl schon lange erfüllt hat.
Hast Du eigentlich meinen letzten Brief gar nicht erhalten? So wie Du es schreibst, muß ich wohl davon ausgehen. Ich berichtete Dir darin, was ich über Matho gehört habe und was er Siv angetan hat. Vielleicht hätte dieser Brief beider Leben, Mathos und Fhionns, retten können, wäre er angekommen! Ihr Götter… was hat Fhionn nur getrieben, so etwas entsetzliches zu tun? Hier machte sie doch noch einen ganz vernünftigen und fleißigen Eindruck. Unfaßbar!
Und Tante Camilla ist gestorben! Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr diese Nachricht mich trifft. Dabei hatten wir doch so gehofft, dass sie sich wieder erholt! Nun, natürlich bin ich etwas enttäuscht, erst jetzt davon zu erfahren. Aber nüchtern betrachtet, was mir allerdings im Moment ausgesprochen schwer fällt, muß man sagen: Ich hätte doch ohnehin nichts zum Trost tun und nicht zur Bestattung kommen können, so gerne ich auch anwesend gewesen wäre. So bleibt mir nur, sie in meiner Erinnerung zu ehren und ihrer in meinen Gebeten zu gedenken.
Ich habe mir schon seit einiger Zeit große Sorgen gemacht, weil kein Brief mehr kam. Und zu Recht, wie ich jetzt feststellen muß. Das schlimmste ist, dass ich so weit weg bin und nichts tun kann, um zu helfen. Doch mein Tribunat währt nicht mehr lange. Wir sind schon dabei, die Vorbereitungen für die Rückreise zu treffen. Dies wird dann wohl auch der letzte Brief sein, den ich euch aus Germanien schicke.
Für die Villa hier in Mogontiacum habe ich mittlerweile einen neuen vilicus eingestellt. Sein Name ist Sextus Satrius Livianus. Er wurde mir von verschiedenen Seiten als sehr zuverlässig empfohlen. Damit aber nicht noch einmal so etwas geschieht, wie mit dem letzten, habe ich Deinen Klienten Artorius Raetinus gebeten, hin und wieder mal nach dem Rechten zu sehen. Dein Einverständnis vorausgesetzt, habe ich ihm ebenfalls einen Satz Schlüssel übergeben. Ich halte ihn für absolut vertrauenswürdig und hoffe, dass Du darin mit mir übereinstimmst.
Genaue Berichte über meine Erlebnisse hier gibt es dann nach meiner Rückkehr. Ich bin wirklich sehr erleichtert, dass ihr anderen wenigstens gesund seid. Bitte grüße alle von mir und umarme Minervina, Helena und Prisca in meinem Namen zum Trost.
Mögen die Götter ihre schützenden Hände über die Aurelia halten.
Vale,
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Mogontiacum, ANTE DIEM XIII KAL IUL DCCCLVIII A.U.C. (19.6.2008/105 n.Chr.)
Nachdem der Brief endlich vollbracht war, rief Ursus einen Legionär, übergab ihm das nötige Geld und die versiegelte Schriftrolle und schickte ihn, für die Versendung Sorge zu tragen.