Der Geruch nach Schnee lag in der Luft. Siv sog sie tief in die Lungen und genoss das prickelnde Gefühl und das eigentümliche Aroma, das verriet, dass die Sonnenstrahlen morgen früh vermutlich auf gezuckerte Dächer treffen würden. Der Frühling hielt zwar auch hier langsam Einzug, trotzdem konnte es immer noch empfindlich kalt werden, und die Germanin freute sich schon auf das Schneetreiben, das der Wind ankündigte. Kühle Luft erfüllte die späten Nachmittagsstunden, und der Himmel war von einem hellen Blau, so kristallklar, dass es fast durchsichtig schien. Nur wenige weiße Streifen zeigten sich, weit entfernt und so schmal, dass sie sich kaum abhoben von dem ebenfalls hellen Hintergrund.
Noch einmal atmete Siv tief ein, während sie mit einem prüfenden Blick in den kleinen Beutel, den sie bei sich trug, kontrollierte, was sie noch zu erledigen hatte. Nur um festzustellen, dass sie, bis auf eines, mit allem fertig war, und das schneller als erwartet – was zusätzliche Freizeit für sie bedeutete, sofern sie nicht den Fehler beging, gleich zurück zu gehen, sobald sie auch diesen letzten Botengang hinter sich gebracht hatte. Seit sie hier angekommen waren, war Siv im Grunde ständig unterwegs gewesen, jedenfalls hatte sie den Eindruck. Mogontiacum war eine römische Stadt, und im Gegensatz zu ihrer Reise war es hier kein Problem, mit Latein alles zu bekommen, was man brauchte – dennoch traf man überall auf Menschen und Orte, wo es sich zum Vorteil auswirken konnte, wenn man Germanisch sprach. Deswegen war Siv eigentlich immer mit dabei, wenn es in der Stadt etwas zu tun gab. Heute hatte sie, zusammen mit anderen Sklaven, eingekauft, und jetzt war sie, allein, unterwegs, um den Rest zu erledigen – in der Villa gab es ein paar Dinge, die repariert werden mussten, und sie hatte verschiedene Handwerker aufgesucht und Aufträge verteilt. Die Absprachen waren leichter gewesen als erwartet, von Matho erwartet, der ihr das eigentlich nicht zugetraut hatte. Siv hatte sich gefragt, warum er sie dann trotzdem losgeschickt hatte – vielleicht um dann hinterher hämisch grinsen und ihr seine Überlegenheit demonstrieren zu können, wenn sie ihm gestehen musste, dass sie es nicht geschafft hatte, seinen Auftrag auszuführen. Letztlich konnte ihr das egal sein, jetzt musste sie nur noch ein paar Briefe verteilen, einen noch, hieß das, dann war sie fertig und konnte, bis die Sonne unterging, tun und lassen, was sie wollte.
Der Empfänger des Briefs, den sie bei sich trug, musste in dieser Gegend wohnen, wenn die Beschreibung richtig gewesen war, die ihr eine ältere Frau auf dem Markt gegeben hatte, und tatsächlich, nach nur wenigen Schritten bog sie um eine Ecke und sah die charakteristische Fassade einer kleinen Taverne, die die Frau ihr, genau wie den Rest des Wegs, sehr lebhaft und detailliert beschrieben hatte. Daneben, so die Alte schließlich, würde sie den finden, den sie suchte – und Siv hatte ein breites Schmunzeln unterdrücken müssen, weil die Alte fast enttäuscht zu sein schien, dass ihr kurzes Gespräch mit diesem Satz dann beendet war. Wieder schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie an die Episode zurückdachte, dann setzte sie sich in Bewegung und lieferte auch den letzten Brief ab, bevor sie wieder auf die Straße trat und ein drittes Mal, mit geschlossenen Augen, ausgiebig Luft holte. Mit der beginnenden Dämmerung wurde es kälter, was sich an den kleinen Wölkchen zeigte, die ihr Atem bildete, als sie die Luft wieder hinausließ. Einen Moment stand sie einfach da, dann ging sie los, in die entgegengesetzte Richtung zu der, aus der sie gekommen war. Wenn ihre Orientierung sie nicht täuschte, wäre es ohnehin ein Umweg, zurückzugehen, weil das Villenviertel woanders lag, aber davon abgesehen wollte sie einfach ein wenig durch die Gegend laufen. Sie folgte den Gassen, die hier schmaler waren und verschlungen, bis sie wieder auf eine breitere Straße traf – und dort etwas sah, was sie stehen bleiben ließ.
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