Wie versteinert saß Nikolaos da. Er war bleich im Gesicht geworden. Seine kühle Maske bröckelte ab und gab eine ernste, traurige Milde frei. Einen Augenblick sah er die Bücher auf dem Tisch an, ohne den Blick von Marcus abzuwenden, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
"Du musst um deinetwegen zur Vernunft kommen, nicht meinetwegen."
Eine Weile blickte Nikolaos Marcus an. Er schien nachzudenken. Mit der Hand drückte er gegen den Schriftrollenstapel, als wolle er ihn von sich schieben. Aber dafür reichte seine Kraft nicht - oder er wollte ihn gar nicht von sich schieben.
"Es liegt nicht an mir, dich anzuklagen. Ich war nicht Zeuge deines Verbrechens. Wohl aber viele andere -"
Auf einmal zuckte er zusammen.
"Gelte dein Gesetz, so müsste ich beim Statthalter Klage gegen dich erheben, wenn ich nicht des Todes sein wollte."
Seine Stimme war ruhig und kühl. Aber sein Blick war traurig.
"Sollte man mir vorwerfen, von deinem Verbrechen gewusst zu haben, so werde ich sagen, du würdest häufig im Wahn solche Dinge erzählen und die Bruderschaft hielte dich nur aus Mitleid aus und aus dem Grund, da du einst - bevor dir der Verstand geschwunden ist- ein glänzender Geograph warst. Immer seist du harmlos erschienen - nun, wir haben uns wohl getäuscht, wie man einem Hund die Tollwut manchmal auch nicht ansieht. Die Römer werden dich wahrscheinlich anklagen. Du wärst ihnen ein willkommener Sündenbock, den sie dem Pöbel präsentieren könnten.
Du weißt wohl, da bin ich mir sicher, dass ich im Falle einer Anklage nichts für dich tun kann, nicht einmal für dich sprechen, dich nicht einmal kennen werde."
Er hielt inne.
"Was rede ich da? Was nützen diese Gedanken!
Marcus, ich werde dich nicht anklagen und auch nicht dir den Tod nahelegen. Ich habe dir nichts zu befehlen und habe dich auch nicht in die Verbannung zu schicken.
Ja, der Priesterschaft verweisen werde ich dich. Du darfst diese heiligen Hallen nie wieder betreten. Lasse deine Habseligkeiten einpacken und fortschaffen und dann geh! Zuvor aber bringe den Mousen und dem Apollon Sühneopfer dar. Kaufe die besten Opfertiere, die du dir leisten kannst.
Übergib das Opfer einem Priester, der es für dich ausführen soll. Sage, dass es ein Sühneopfer ist. Ich kann es nicht selbst für dich vollziehen, ich habe alle Hände damit zu tun, meinen Antritt in das Amt des Oberpriesters vorzubereiten. Wenn das Opfer vollzogen ist, verlasse das Mouseion auf dem schnellsten Weg."
Wieder dachte Nikolaos nach.
"Marcus, verlasse die Stadt nicht. Warte, ob ich die Römer dich anklagen, verurteilen und richten. Geschieht das nicht, so kannst du Gast auf meinem kleinen Landgut sein, sowie du das möchtest. Du kannst Schriften studieren, schreiben, in aller Ruhe deinen Studien nachgehen. Du musst dafür keine Gegenleistung erbringen. Wenn du mir tätig dafür danken willst, so kümmere dich um den Garten und hüte das Haus und beaufsichtige die Landarbeiter. Ich werde dich gelegentlich besuchen und dir Gesellschaft leisten, sowie es meine Geschäfte in der Stadt erlauben.
Ich stelle nur eine Bedingung, falls du mein Angebot annehmen möchtest: Es sollte sich nicht herumsprechen, dass du mein Gast bist. Und, wie ich schon sagte, musst du abwarten, ob du angeklagt wirst, und dich dann der Anklage stellen, sollte es soweit kommen.
Bitte glaube nicht, ich würde dich dazu drängen, mein Angebot anzunehmen. Sobald du das Sühneopfer dargebracht hast, kannst du gehen, wohin du willst."