hortus | Geschöpfe der Nacht

  • Die Nacht war schon längst hereingebrochen. Doch die Schwüle des Tages hielt noch unvermindert an. Ein leichter Wind der allmählich an Intensität gewann, strich durch die Bäume. In der Ferne konnte man das Grollen eines Gewitters erahnen, das sich zu nähern schien. Der Schein des Mondes wurde hin und wieder durch vorüberziehende Wolkenfetzen verdeckt. Alle Türen der Villa, die zum Garten hinaus führten waren geöffnet, damit so wenigstens in der Nacht die Hitze des Tages entweichen konnte. Der Wind spielte mit den über den, Türen angebrachten Vorhängen und ließ den Stoff unbändig flattern. In einem der Bäume saß eine Schleiereule, die bereit zur Jagd war. Gelegentlich hörte man ihren gespenstig anmutenden Ruf. Auch in dieser Nacht gaben, die am Teich angesiedelten Frösche, ihr Konzert.


    Nur wenige der Bewohner fanden in dieser Nacht einen erholsamen Schlaf. Die Einen hinderte schlichtweg die unerträgliche Wärme, die ein rasches Einschlafen unmöglich machte, obwohl ihnen der vergangene Tag sehr viel abgerungen hatte. Andere wiederum konnten nicht schlafen, da sie versuchten, zu verarbeiten, was der Tag oder das Leben so mit sich gebracht hatte.
    Der Garten war in dieser Nacht sicher nicht der schlechteste Platz, um etwas Entspannung zu finden, wenn der Schlaf eh noch fern war. Solange das nahende Gewitter die Stadt noch nicht erreicht hatte, war man hier sicher.


    Die Gestalt einer Frau, deren Körper in eine grobgewebte wollweiße Tunika gehüllt war, wanderte rastlos zwischen den Bäumen umher. Aus Angst, noch einmal verletzt werden zu können, hatte sie sich freiwillig zurückgezogen. Sie vermied jeglichen Kontakt zur Außenwelt, so gut es eben ging. Ja, sie war zu einer Art Gespenst geworden, das nur von sensiblen Menschen wahrgenommen wurde, das man aber im Allgemeinen nicht sah. Gespensterhaft musste nun auch ihre Erscheinung wirken.
    Nun sollte man meinen, daß sie diese Einsamkeit liebte und sich hier, wenn auch sonst nirgends, wohl fühlte. Doch dem war nicht so. Sie war auf der Suche nach etwas, was sie aber auch nach stetigem Suchen nicht gefunden hatte. Getrieben von ihrem Gewissen und einer fixen Idee, doch noch ihren Frieden finden zu können, war sie fast jede Nacht hier draußen. Das Geschehene lastete bleischwer auf ihren Schultern und ließ sie zu keiner Zeit zur Ruhe kommen. War dies der Preis, den sie nun letztlich für ihr Handeln zahlen mußte? Wie süßer dagegen mußte doch der Tod sein!


    Sim-Off:

    Reserviert! ;)

  • Es war warm. Viel zu warm. Und zu schwül. Ursus war das überhaupt nicht mehr gewöhnt. Ohja, er war müde. Sehr müde sogar. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ursus hatte einfach das Gefühl, daß die Luft in seinem Zimmer stand. In Germanien waren die Nächte eigentlich immer kühl gewesen. Selbst das, was die Einheimischen als heiße und unangenehme Nächte bezeichnet hatten, war für Ursus nicht so arg gewesen, er hatte dort keine Probleme damit gehabt. Doch hier hatte er nun diese Probleme. Verflixt aber auch. Früher hatte ihm das doch nie etwas ausgemacht?


    Abermals wälzte er sich im Bett herum. Nein, so ging das nicht. Vielleicht wenn er ein paar Schritte durch den Garten ging? Ja, das war eine gute Idee. Er schlüpfte in eine einfache Tunika, wozu auch mehr, und ging hinunter. Es war still im Haus. Sehr still. Als er in den Garten hinaustrat, atmete er tief durch. Warm war es auch hier. Und auch schwül. Aber doch nicht so sehr wie im Haus. Langsam schlenderte er in Richtung des Teiches, in dem er damals Helena hatte treiben sehen. Was für eine Nacht das gewesen war! Mit Schaudern dachte er an den Schreck und unwillkürlich suchte er die Wasseroberfläche nach einem umhertreibenden Körper ab. Doch heute war natürlich nichts dergleichen zu sehen.


    Eine Weile ging er einfach nur umher, dann setzte er sich unter einen Baum und lehnte sich aufseufzend gegen den Stamm. Für einen Moment schloß er die Augen. Was würde wohl die Zukunft bringen? Nur die Götter wußten es. Es blieb zu hoffen, daß das Unglück, das die Familie in der letzten Zeit zu verfolgen schien, sich nun endlich wieder abwandte und andere Opfer suchte. Die Gens Aurelia hatte wirklich genug mitgemacht.


    Langsam öffnete er die Augen wieder und er wartete eigentlich, nichts weiter zu sehen, als er zuvor gesehen hatte. Doch er sah doch etwas. Eine weiße Gestalt, vom Mondlich angeleuchtet irrte sie zwischen den Bäumen herum. Geisterhaft und unwirklich. Ursus fühlte sich, als würde eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen und er spürte, wie sich seine feinen Nackenhärchen aufrichteten. Auf einmal war ihm nicht mehr warm. Ganz im Gegenteil, ein Schauer überlief seinen Rücken. Denn diese Frau sah aus wie Fhionn!


    Langsam stand Ursus auf und ging auf die Stelle zu, wo er die Gestalt eben noch gesehen hatte. Suchte Fhionns Geist sie nun heim? Er wollte ihren Namen rufen, wagte das dann aber doch nicht. Fhionn war tot. Vielleicht irrte er sich und es war jemand anders? Vielleicht eine neue Sklavin, die er noch nicht kannte?

  • Noch ahnte sie nichts davon, nicht die einzige zu sein, die den Garten einem überhitzen Schlafraum vorzog. Sie tat sich schwer damit, an einem Ort zu verweilen. So war sie ständig in Bewegung auf der Suche nach etwas, was sie auch in dieser Nacht nicht finden würde.
    Ihre Augen und Ohren waren bereits darauf geschult, sich in der Nacht zu Recht zu finden. Jedes Knacken der Bäume, jeder Windhauch und auch die Geräusche der Geschöpfe der Nacht konnte sie hören. Genauso blieb ihren Augen in der Dunkelheit nichts verborgen.
    Das Rascheln von Blättern und das Geräusch von brechenden Zweigen riß sie aus ihrem zwanghaften Tun. Ängstlich schaute sie auf. Sollte ihr jemand gefolgt sein? Welches Interesse sollte derjenige haben, wenn er sie hier fand? Sie war weit entfernt, von dem Menschen, der sie einmal war und was sie einmal war. Doch nun war die Angst wieder da. Dieses Gefühl, des nicht entrinnen Könnens. Wirr schaute sie sich nach einem Platz um, an dem sie sich verstecken konnte, einem Ort, an dem sie sicher war.
    Vorerst versteckte sie sich hinter dem Stamm eines altehrwürdigen Olivenbaumes. Von dort aus versuchte sie zu erspähen, wer ihr auf der Spur war. Alles was sie von ihrem Standort erkennen konnte, war die Gestalt eines Mannes, den sie aber nicht kannte. Da sie sich nahezu vollkommen von den Lebenden zurückgezogen hatte und nun nur noch in ihren Erinnerungen mit ihren Toten lebte, wußte sie auch nichts von der Heimkehr des Aureliers aus Germanien.
    Sie bemerkte, wie sich dieser Mann ihrem Olivenbaum immer mehr näherte. Gleich würde er hier sein und sich ihrer bemächtigen können. Ihr Herz begann voller Furcht wild zu schlagen. Es gab nur noch eine Möglichkeit- einfach davon zu rennen und zu hoffen, daß er sie nicht bemerken würde. An Schnelligkeit hatte sie in all der Zeit, seit sie hier war, nichts eingebüßt. So riß sie sich von dem Stamm des Olivenbaumes, der ihr nicht mehr lange Sicherheit bieten konnte, los und rannte, so schnell sie konnte, allerdings ohne ein genaues Ziel im Sinn zu haben. Als sie sich nach dem Fremden umsehen wollte, stolperte sie plötzlich und viel zu Boden. Den Schmerzensschrei versuchte sie zu unterdrücken, so gut es ging. Lediglich ein leises Wimmern war von ihr zu hören. Sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Doch sie tat sich sehr schwer dabei.

  • Langsam ging Ursus auf die Stelle zu, an der er vorhin noch die weiße Gestalt gesehen hatte. Jetzt war sie weg. Nein, war da nicht etwas? Hm, er war nicht sicher. Es war so verflixt dunkel und das Mondlich drang nicht recht zwischen die Bäume. Er ging noch ein paar Schritte näher heran. Und erschrak, als plötzlich diese weiße Gestalt losrannte. Rannten Geister? Doch umso mehr hatte sie nach Fhionn ausgesehen, was ja unmöglich sein konnte. Also eine Fremde? Vielleicht eine Einbrecherin? Alles war möglich. Also rannte Ursus einfach hinterher. Er war schnell. Und ausdauernd. So fit wie im Moment war er noch nie in seinem Leben gewesen. Trotzdem war es nicht so leicht, sie einzuholen, denn sie war auch schnell. Ob er sie eingeholt hätte, wenn sie nicht gefallen wäre?


    "Wer bist Du?", sprach er sie nun an und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr aufzuhelfen. Noch konnte er ihr Gesicht nicht sehen. "Was hast Du hier im Garten zu suchen?" Er wollte eigentlich streng klingen, doch es klang eher unsicher. Was, wenn sie doch die Heimsuchung einer Toten war? Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Natürlich war es vor allem das Schuldgefühl, daß ihn schaudern ließ. Er fühlte sich schuldig an Fhionns Tod. Wenn er nur etwas eher begriffen hätte, was Matho für ein Tyrann gewesen war. Im Nachhinein fielen ihm tausend Dinge ein, an denen er es hätte merken können. Wenn er nur den Brief per Eilboten geschickt hätte...


    Nein, dies war nicht Fhionn. Es war irgendwer anders. Wenn er gleich ihr Gesicht im Mondlicht deutlich sehen konnte, würde er es erkennen. Dann würde er sehen, daß sie es nicht war. Eine neue Sklavin, ganz gewiß. Und sie hatte Angst bekommen, weil sie ihn nicht kannte. Ja, so war es bestimmt.

  • Als sie sah, wie nah ihr Verfolger schon an sie herangekommen war, versuchte sie verzweifelt sich erneut aufzuraffen, um doch noch flüchten zu können. Doch ihre Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Schon bald hatte der Fremde sie erreicht und beugte sich bedrohlich über sie. Mit seinen Händen versuchte er sie zu packen. Sie indessen, versuchte sich mit aller Kraft gegen ihn zu wehren. Keuchend und kreischend schlug sie um sich, so als hinge ihr Leben davon ab.
    Er hatte sie etwas gefragt und sie hatte nur allzu gut verstanden. Es war die Sprache derer, die sie verletzt verletzt hatten, die Sprache der Feinde. Eine gewisse Vertrautheit konnte sie der Stimme schon entnehmen. Aber sie konnte sie nicht wirklich einordnen. Zu lange war es her und viel zu viel war geschehen. Und wenn schon, ihm könnte sie auch nicht mehr vertrauen.
    "Laß mich los! Was willst du von mir? Geh weg!" brüllte sie ihm in iher Sprache entgegen.
    Je mehr sie sich wehrte und schrie, spürte sie, wie das Leben in sie zurückkehrte. Ihr Herzschlag raste und sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern schoß. Eine seltsame Erfahrung mußte dies für sie sein, da sie schon geglaubt hatte, nie wieder wirklich leben zu können.
    Erbittert leistete sie Widerstand, auch wenn er aussichtslos war, genauso wie ihr neuaufgeflammtes Leben.

  • Sie kreischte und schrie ihn in einer fremden Sprache an. Und wehrte sich wie eine Furie gegen ihn. Erschrocken wich Ursus ein, zwei Schritte zurück, ließ sie los dabei. Was war sie nun? Frau oder Furie? Tote oder Lebende? Er war sich nicht ganz sicher. Merkwürdig auf jeden Fall. Die Stimme klang nach Fhionn. Und jetzt, als das Mondlicht ihr Gesicht erhellte, sah sie auch nach Fhionn aus. Das war unmöglich, völlig unmöglich! Ursus fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Ihm war kalt, eiskalt.


    "Fhionn?", fragte er zögernd und ungläubig. Noch immer glaubte er nicht, die lebende Fhionn vor sich zu haben. Sie war so anders. Wenigstens die unheimliche Blässe wich langsam von ihren Zügen, als würde das Leben in eine Tote zurückkehren. Auch das fand er nicht gerade beruhigend, da er ja fest davon ausging, eine Tote vor sich zu haben.


    "Was... was willst Du, Fhionn?", fragte er, denn vielleicht konnte man der Toten ihren Frieden geben, irgendwie. Vielleicht forderte sie gar nichts unmögliches. Einen Versuch war es immerhin wert. "Bitte sprich mit mir."


    Er wußte nicht, was er erwartete. Es mußte einen Grund dafür geben, daß sie ihm hier erschienen war. Und genau das machte ihm Angst. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er war nicht sicher, ob es nicht besser wäre, einfach wegzurennen und sich in seinem Bett zu verkriechen, wie er es als kleines Kind getan hatte, wenn ihm etwas unheimlich gewesen war.


    Daß ein Gewitter sich näherte, machte die Sache nicht besser. Wetterleuchten in der Ferne erhellte hin und wieder kurz den Himmel, rasch dahinrasende Wolkenfetzen bedeckten immer mal den wegen der hohen Luftfeuchtigkeit von einem großen Hof umgebenen Mond. Leises Grummeln war zu hören, wie eine Warnung vor dem Zorn der Götter. War es der Zorn über die Ungerechtigkeit, die dieser Frau wiederfahren war?

  • Das Grollen des Gewitters rückte näher. Bedrohlich zuckten Blitze am Himmel. Auch der Wind hatte zugenommen. Das Quaken der Frösche war schlagartig verstummt. Nur die Schleiereule saß noch in ihrem Baum und sah dem Treiben unter sich zu. Gelgentlich quittierte sie dies mit ihrem fauchenden Ruf.


    Mit ihren letzten Kräften versuchte sie sich ihren Verfolger vom Hals zu halten. Doch was war das? Unerwartet ließ er von ihr ab. Ja, er machte sogar zwei Schritte zurück. Sollte sie ihn etwa so eingeschüchtert haben? Oder war dies nur reine Taktik?
    Völlig außer Atem, versuchte sie sich zu beruhigen. Jetzt, da sie zum ersten Mal in das Gesicht ihres Verfolgers sehen konnte, erkannte sie ihn. Es war der Römer, mit dem sie nach Germanien geritten war. Das schien so unendlich lange her gewesen zu sein. Ja, das mußte er sein! Und auch er hatte sie erkannt. Er nannte sie bei ihrem Namen Fhionn. Es war lange her, seit man sie das letzte Mal so gerufen hatte. Doch dieses Mal war es so seltsam anders. Er zögerte mit seinen Worten und sie spürte so etwas wie Furcht in seiner Stimme. Aber sie traute dem ganzen nicht. Furchtsam versuchte sie sich in eine Position zu bringen, in der es für sie ein Leichtes war, wieder aufzustehen oder gar fort zu rennen. Sie musterte ihn, denn sie wußte immer noch nicht so recht, was sie von all dem halten sollte.
    "Fhionn tot! Fhionn gestorben," sagte sie langsam. "Du sehen?" Sie hob ihren recht Arm nach oben, der seltsam am Handgelenk verformt zu sein schien. Seit ihr Handgelenk zertrümmert worden war, konnte sie ihre rechte Hand nur noch bedingt benutzen. Noch immer bereitete es ihr Schmerzen, wenn sie aus Unachtsamkeit die Narben berührte.

  • Fhionn tot. Fhionn gestorben. Diese Worte hallten in Ursus nach. Dann war sie tatsächlich tot. Denn daß sie dies in übertragenem Sinne meinen könnte, war in dieser Situation, in dieser Szenerie einfach zu unwahrscheinlich. Er stellte das Gesagte nicht im Geringsten in Frage. "Und wer... was bist Du dann?", fragte er vorsichtig. Als sie ihren merkwürdig verformten Arm hochhielt, schüttelte er betroffen den Kopf. Unwillkürlich hob er die Hand, um das Handgelenk zu berühren. "Was ist nur geschehen, Fhionn? Warum habt ihr nicht früher etwas gesagt... Ich war so blind. Wir waren alle so blind..."


    Wie konnte er ihr sagen, daß es ihm leid tat, was sie alles hatte erdulden müssen? Es nützte ihr nichts mehr, daß es ihm leid tat. Niemand konnte das Rad der Zeit zurückdrehen, um Fehler auszumerzen. Man konnte nur versuchen, wieder gutzumachen. Oder es in Zukunft besser zu machen.


    Wind kam auf und Blitze und Donner näherten sich unaufhaltsam. Blätter wurden aufgewirbelt, die Haare zerzaust, die Kleidung flatterte leicht um ihre Körper. Sicher wäre es angebracht, langsam Schutz zu suchen vor dem Unwetter. Doch Ursus regte sich nicht im geringsten. Er war ganz gefangen von dieser Begegnung. Unfähig, einen wirklich vernünftigen Gedanken zu fassen.

  • Das hatte sie sich auch ständig gefragt, nachdem sie aus der Bewußlosigkeit wieder erwacht war. Zuerst hatte auch sie geglaubt, sie sei tot. Die Schmerzen aber erinnerten sie daran, daß noch ein Hauch von Leben in ihr war. Tagelang hatte sie dagelegen und sich selbst eingeredet, sie sei nicht würdig genug gewesen, um in die Anderswelt aufgenommen zu werden. Ohne Zweifel, sie hatte Schuld auf sich geladen. Deswegen war sie nun dazu verdammt, ihr jämmerliches Leben hier zu fristen. Nein, Fhionn war tot, was übrig geblieben war, war nichts.
    "Ich nichts!", sagte sie im gleichen ruhigen Ton. Als sich plötzlich seine Hand ihrem Handgelenk näherte, zog sie ihren Arm ängstlich zurück. Sie traute ihm nicht im geringsten. Sie traute niemandem mehr. Im Gegenteil, sie fürchtete sich jetzt noch mehr, da nun alles, was sie verdrängen wollte, wieder von neuem ans Tageslicht gefördert worden war. Sie hatte Angst, darüber nachzudenken, geschweige denn darüber zu sprechen.
    Er fragte sie, was geschehen war, warum sie nichts gesagt hatte. Sie hatte etwas gesagt, nach ihrer Tat. Doch da glaubte ihr niemand mehr. Darin lag ja die Perversion. Hätte sie vorher gesprochen, wäre ihr Mathos Rache sicher gewesen. Aber wahrscheinlich hätte man ihr oder jedem anderen auch nicht geglaubt, denn sie waren ja nur Sklaven.
    "Ich töten Matho mit Messer" Mit ihrer Linken machte sie eine Stoßbewegung, um zu verdeutlichen, wie sie es getan hatte. "Matho immer waren böse, nichts geben zu essen, zu trinken, musse draußen schlafen an Wagen gebunden mit Seil und hier niemand sagen Matho böse, nein sagen Matho gute Mann." Endlich hatte sie ausgesprochen, was sie selbst nach der Tat nicht sagen konnte und sie spürte, wie gut ihr es tat.
    Doch dann kam ein heftiger Windstoß und ein lautes Donnern war zu hören, gefolgt von einem grellen Blitz. Willkürlich begannen erst einige, dann aber immer mehr Regentrofen auf die Erde zu prasseln. Sie zuckte erschrocken zusammen, da sie fürchtete, Mathos Geist könne sie verfolgen, jetzt da sie ihn verraten hatte.

  • Sie zuckte zurück, bevor er sie hatte berühren können. Wovor fürchtete sie sich, wenn sie doch tot war? Konnten Tote Furcht empfinden? "Du bist nichts?", fragte er ungläubig. Nichts. Wie konnte jemand das von sich selbst sagen. "Nein, Du bist nicht nichts. Das ist nicht wahr", widersprach er unwillkürlich und schüttelte den Kopf. Dann hörte er ungläubig zu, was sie sagte. Sie hatte ihn mit dem Messer getötet. Weil er sie gequält hatte. Weil er sie hatte hungern lassen. Weil er ihr ein Dach über den Kopf verweigert hatte. Ursus fühlte Zorn in sich aufsteigen. Es war die ureigenste Pflicht eines Herrn, seinen Sklaven die grundsätzliche Versorgung zukommen zu lassen. Nicht mal nur die moralische, sondern auch die gesetzliche. Matho hatte mit seiner Tat eine Ungesetzlichkeit begangen, die auf seinen Herrn zurückfiel.


    "Caelyn hat es mir gesagt. Als ihr fort ward. Sie sagte mir, was Matho Siv angetan hat. Sie sagte mir, wie tyrannisch er sich aufführte. Ich schrieb es Corvinus... Aber das war zu spät. Zu spät..." Blitze zuckten über den Himmel, begleitet von markerschütterndem Donner. Ursus sah sie zusammenzucken, offensichtlich erschrocken. Nicht daß er weniger erschrocken wäre, doch er versuchte, dies zu überspielen. Und er trat wieder auf sie zu. Legte seinen Arm vorsichtig um sie, eine schützende Geste, keine beengende. Sie fühlte sich lebendig an. Konnte das denn sein? "Ich glaube Dir, Fhionn. Ich glaube es Dir. Ich hätte es früher erkennen müssen. Jetzt weiß ich, daß ich es hätte sehen müssen. Doch ich war blind." Was erst nur einzelne Tropfen gewesen waren, wurde schnell zu einem Sturzbach, der vom Himmel fiel. In Sekundenschnelle waren die beiden völlig durchnäßt. "Und was geschah danach? Wie kann es sein... wie ... Du bist hier..." Er war nicht mal fähig, die Frage richtig zu stellen.

  • Caelyn- der Name klang vertraut. Die blonde Sklavin war immer nett zu ihr gewesen, obwohl sie manchmal Schwierigkeiten hatte, sie richtig zu verstehen. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie Matho nicht mochte und auch der maiordomus mochte sie nicht besonders. Doch sie ließ sich niemals von ihm unterkriegen. Das hattesie an ihr immer bewundert. Sie erinnerte sich an ihren Besuch in der Villa in Mogontiacum. Es war der Tag, an dem Siv nach ihrer Flucht wieder zurück gebracht worden war. Am gleichen Tag noch, hatte Matho die Germanin für den Rest ihres Aufenthaltes in den Keller gesperrt und ließ sie hungern. Merit-Amun, die Ägypterin und sie hatten Siv des Öfteren mit Nahrung versorgt.


    Er hatte Corvinus berichtet, wie der maiordomus sich aufführte? Sie stutze, als sie das hörte. "Du geschrieben Corvinus? Und er mich… trotzdem...?" Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Aber er sagte auch, es wäre zu spät gewesen. Vielleicht war der Brief erst später angekommen.
    Der Regen nahm stetig zu. Innerhalb weniger Minuten, war es kühler geworden. Der Wind blies immer heftiger und das Gewitter war nun ganz nah. Es wurde im Garten so richtig ungemütlich, doch ihr machte das wenig aus. Nur vor dem Donnergrollen fürchtete sie sich. Unvermittelt legte der Römer seinen Arm um ihre Schultern. Anfangs war ihr das sehr zuwider. Ihr Oberkörper versteifte sich und ihr Atem zitterte. Erst wollte sie sich dagegen wehren, doch dann empfand sie es doch als angenehm und ließ ihn gewähren. Das Wasser tropfte aus ihren Haaren über ihr Gesicht. Ihre nasse Tunika klebte an ihr und zeichnete so ihren ausgezehrten Körper ab.
    Der Römer wollte noch mehr wissen. Jetzt frage er nach dem, an das sie sich nie wieder erinnern wollte. Corvinus hatte sie zum Tode verurteilt. Morgen, wenn die Sonne am höchsten steht, wirst du ans Kreuz geschlagen. Und ich werde dabei zusehen, wie die Krähen über dir kreisen und darauf warten, dass du dein jämmerliches Leben aushauchst. Sie erinnerte sich noch genau an jedes einzelne Wort. Die Worte hatten sich in ihr Hirn gebrannt. Sie waren in der letzten Nacht ihres jämmerlichen Lebens allgegenwärtig gewesen und sie pochten in ihrem Kopf am darauffolgenden Tag als sie kamen, um sie zu holen.
    "Corvinus sagen,... ich... an Kreuz sterben," antwortete sie schließlich gehemmt. Nein, sie wollte sich nicht daran erinnern! Das Erlebte noch einmal durchleben zu müssen, davor hatte sie Angst.

  • Er spürte, wie sie sich versteifte in seinem Arm. Doch sie schüttelte ihn nicht ab, was ein leichtes gewesen wäre, da er keinen Druck ausübte. Unter seiner Hand konnte er eine magere Schulter spüren, als sei sie halb verhungert. Und dann das Zittern in ihrer Stimme. Irgendwie wirkte das alles doch sehr lebendig. Nur ihre Worte, die sprachen schon wieder vom Todesurteil. "Er hat es mir geschrieben, Fhionn. Es war der letzte Brief, den ich erhielt. Er muß ihn an dem Abend geschrieben haben, als er das gesagt hat. Zu diesem Zeitpunkt hat er meinen Brief noch nicht gehabt. Fhionn, er hat es nicht gewußt. Er kann es nicht gewußt haben." Warum verteidigte er Corvinus eigentlich? Doch es war richtig. Wie hätte Corvinus das wissen können? Wie hätte er ihnen glauben können, nach einer solchen Tat?


    "Soviel unnötiges Unglück. Soviel Leid. Dir ist großes Unrecht geschehen, Fhionn. Niemand kann es ungeschehen machen. Doch Du brauchst an diesem Punkt trotzdem nicht stehenbleiben. Das Leid kann vorbei sein, wenn Du es nur zuläßt. Wem gilt denn Dein Zorn? Matho? Er ist tot. Corvinus? Oder mir? Ja, sicher, wir hätten es sehen sollen, daß Matho ein Tyrann war. Es ist unsere Schuld, daß wir ihm blind vertrauten. Doch warum hat vorher niemand etwas gesagt? Waren wir eures Vertrauens so wenig wert?" Er spürte die Kälte, zitterte gar, denn der Wind trieb den kalten Regen vor sich her und zerrte an ihnen beiden. Gerade schlug ein Blitz ganz in der Nähe ein, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag, der auch Ursus mächtig zusammenfahren ließ. "Und wie kann es sein, daß Du jetzt hier bist?", fragte er schließlich. Warum war sie nicht im Elysium?

  • Das klang plausibel in ihren Ohren. Auch wenn sie immer noch nicht nachvollziehen konnte, wie Matho es geschafft hatte, sein Verhalten so lange vor den Augen Corvinus´ zu verbergen.
    Allmählich ließ ihre Anspannung nach. Sie spürte seine Wärme auf ihrer nassen Haut. Es war lange her seit sie zum letzten Mal einen anderen Menschen so nah an sie heran gelassen hatte. Die Art wie er mit ihr sprach, verwunderte sie auch. Niemand hatte nach den Geschehnissen davon gesprochen, welch großes Unrecht ihr widerfahren war. Dann sprach er von Zorn, ihrem Zorn und er wollte wissen, gegen wen ihr Zorn gerichtet war. "Zorn? Ich nicht Zorn," antwortete sie überrascht. Wenn sie jemals zornig war, dann gegen Matho. Sie hegte keinen Zorn gegen Corvinus oder ihn. Es machte sie nur traurig, wenn sie daran dachte, wie Corvinus sie zur Rede gestellt hatte, aber nichts hören wollte, als sie ihre Tat begründen wollte.
    "Leid nicht vorbei werden. Leid immer da, jede Tag. Ich kann nicht vergessen, was alles passiert ist. Matho immer in Kopf. Nicht los lassen." Auch wenn der maiordomus tot war, verfolgte er sie noch immer . An manchen Tagen gelang es ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Geschwige denn in der Nacht. Oft irrte sie nachts umher. So quälte er sie auch noch über den Tod hinaus. "Niemand habe Mut, sagen Matho böse. Viel Angst!"


    Der Ohrenbetäubende Donnerschlag ließ sie beide zusammenfahren. Eine unsagbare Furcht hatte sie ergriffen und sie begann zu zittern. Jetzt klammerte sie sich mit der gesunden Hand an ihn. Seine Nähe vertrieb ihre Furcht.
    Dann stellte er ihr die gleiche Frage, die sie sich auch immer und immer wieder gestellt hatte. Warum bin ich noch hier? "Nicht weiß, warum. Ich aufwachen und sein hier, nicht in Inys Afallach. Nicht bei Kinder."

  • "Du bist nicht zornig?", staunte Ursus. Er fand, sie hätte allen Grund, zornig zu sein. Und warum war sie hier, wenn sie es nicht war? Irgendetwas mußte sie doch hier festhalten. Wirklich die Tatsache, daß sie sich weiterhin von Matho gequält fühlte? Das konnte natürlich sein. Doch irgendwie war es merkwürdig, daß eine Tote von einem Toten verfolgt wurde. Ihre Worte konnten ja nur bedeuten, daß sie tatsächlich hingerichtet worden war und danach aus irgendwelchen Gründen hier verblieben war.


    Er fühlte, wie sich sich nun an ihn klammerte und er bemühte sich darum, sie zu schützen vor dem Regen und dem Wind. Obwohl das natürlich völlig zwecklos war, vermutlich störte es sie gar nicht. "Vielleicht mußt Du ihn ein zweites mal töten, in Deinem Geist, meine ich. Laß ihn nicht siegen, denn er war nicht im Recht. Er war ein Sklave wie ihr und er hatte kein Recht, so mit euch umzugehen. Du darfst Dich gegen ihn wehren, hörst Du? Er hat in Deinem Kopf nichts zu suchen. Wehre Dich, Fhionn. Kämpfe! Er ist nicht stärker als Du. Er ist schwach. Nur ein sehr schwacher Mensch quält andere, die von ihm abhängig sind. Du bist viel stärker. Du hast Dich gewehrt, trotz aller Angst. Und er hat verloren. Er wird wieder verlieren!" Natürlich hatte er keine Ahnung, wie sie das anfangen sollte. Doch sich einfach in ihr Schicksal ergeben und ewig weiterleiden, das konnte doch auch nicht das richtige sein.


    Und was sagte sie da von Kindern? Hatte sie denn Kinder gehabt? Wieder einmal wurde ihm klar, wie wenig er eigentlich über die Menschen in diesem Haus wußte. Anscheinend waren ihre Kinder tot. Denn sie hatte gehofft, sie wiederzusehen. Inys Alfallach... War das ihr Wort für Elysium? Vermutlich.


    "Du bist so dünn..." Wenn sie doch nur leben würde, dann könnte er dafür sorgen, daß sie anständig zu essen erhielt. Doch dafür war es ja nun zu spät.

  • Ihre Kinder waren es, die sie am meisten vermisste. In ihrer letzten Nacht hatte sie sich vorbereitet. Sie hatte Brigantia ihr Wertvollstes gegeben, damit sie sie beschützte. Doch dann kam die Ernüchterung, als sie aus der Bewußtlosigkeit erwacht war. Nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Stattdessen fand sie sich, eingehüllt in einer alten, fleckigen Tunika wieder. Ihren Arm hatte man mit einer linnenen Binde verbunden. Der Schmerz war unbändig. Es hatte Tage gedauert, bis eine Besserung eintrat. Sie hatte es vermieden, sich die Wunde anzuschauen. Erst als man ihr den Verband abnahm, sah sie die Narbe. Sie hatte sich betrogen gefühlt. Irgendetwas hatte verhindert, daß sie den letzten Schritt machen konnte, um hinüber zu gehen und dann mit ihren Kindern wieder vereint zu sein.


    Für einen Augenblick war sie in ihren Gedanken verloren, dann hörte sie wieder seine Stimme, die von wehren und kämpfen sprach. Fragend sah sie ihn an. Sie konnte nicht mehr kämpfen und sich wehren. Dazu war sie viel zu schwach. "Nicht kämpfen. Nicht Kraft dafür. Ich schwach." Sie hatte ihren Blick gesenkt, denn ihre Schwäche machte sie betroffen. Wenn Matho sie hätte sehen können, hätte er sicher wieder seinen Spott an ihr ausgelassen. Er hätte sich sicher großartig über sie amüsiert. Manchmal glaubte sie, sie könne diese Schwäche absteifen, indem sie dieses Leben abstreifte. Doch das war leichter gedacht, als getan. Dieses Leben hing zäh an ihr, gleich was sie auch tat.


    Eine unerwartete Bemerkung ließ sie dann wieder aufsehen. Du bist so dünn, hatte er gesagt. Sie war abgemagert, denn manchmal vermied sie es tagelang, Nahrung aufzunehmen. Nur das nötigste aß sie. Meist holte sie sich etwas zu essen, wenn alle anderen bereits gegessen hatten, damit niemand sie sah. Die Anwesenheit anderer konnte sie nicht ertragen. Verwunderlich war es nur, daß sie hier ganz anders fühlte. Seine Anwesenheit gab ihr Sicherheit. "Nicht viel essen, nicht viel brauchen."

  • Das Unwetter zog langsam weiter. Noch immer regnete und windete es. Und Ursus fror in seinen nassen Sachen im Wind. Doch die Blitze und der Donner erfolgten in immer längeren Abständen, entfernten sich langsam von ihnen. Der Zorn der Götter ging an ihnen vorüber, hatte vielleicht gar nicht ihnen gegolten.


    Weiterhin hielt Ursus sie im Arm, konnte kaum glauben, daß sie tot sein sollte. Sie fühlte sich so real an. "Du bist nur zu schwach, wenn Du aufgibst. Du bist stark. Glaube an Dich. Deinen Körper hast Du geschwächt, weil Du zuwenig gegessen hast. Doch Dein Geist ist stark. Wäre er es nicht, könntest Du nicht hier sein. Glaube an Dich! Besiege Matho! Er kann Dir nichts mehr anhaben! Du bist jetzt sicher vor ihm!" Langsam gingen ihm die Worte aus. Doch er wußte, er mußte sie überzeugen. Damit sie endlich ihren Frieden finden konnte.


    Ein heftiger Windstoß ließ ihn erzittern. Und niesen. Eine Erkältung? Hoffentlich nicht. Doch im Moment gab es wichtigeres, als eine Erkältung abzuwenden. Für einen Augenblick schloß er seine Augen, versuchte nachzudenken, doch es war nicht so einfach, vernünftig zu denken. "Fhionn... Warum bist Du noch hier? Was bezwecken die Götter damit? Was, wenn nicht, ihn endgültig zu besiegen?" Noch immer hielt er sie in seinen Armen. Schützend. Wärmend. Doch reichte dies? "Ist... ist Dir kalt?" Eine dumme Frage. Wie könnte ihr kalt sein?

  • Es hatte erheblich abgekühlt. Von der Schwüle war nichts mehr zurückgeblieben. Der Regen hatte eine reinigende Wirkung gehabt. Er hatte dafür gesorgt, daß so mancher Staub einfach hinfort gespült wurde. Der morgige Tag konnte mit neuer erquickender Frische beginnen. Das Gewitter indes, zog weiter. Der Abstand zwischen Blitz und Donner wurde stetig größer und bald würde auch der Regen ein Nachsehen haben.
    Engumschlungen standen die beiden völlig durchnässten Körper da. Sie hatte dadurch so etwas wie Schutz und Wärme erfahren. Etwas was ihr lange Zeit versagt geblieben war. Er versuchte ihr neuen Mut zu geben, damit sie ihre große Furcht besiegen konnte und vielleicht sogar zurückkehren konnte in ihr altes Leben. Aber war eine Rückkehr so erstrebenswert? Was erwartete sie hier?
    Er sprach von Schwäche und Stärke. Sie solle an sich glauben, so könne sie Matho besiegen. War das die Lösung, nach der sie die ganze Zeit gesucht hatte? Es wäre zu schön gewesen, wenn sie endlich gefunden hätte, wonach sie gesucht hatte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte allmählich in ihr auf und sie sah ihm abermals an, als wolle sie sich versichern, ob sie auch richtig gehört hatte. "Dann Matho weg? Weg aus Kopf?" Noch einmal bäumte der Wind sich auf und schickte eine heftige Bö zu ihnen, die sie beide frösteln ließ. Er nieste und aus einem Reflex heraus, sagte sie plötzlich in ihrer Sprache: "Gesundheit!" ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß auch sie sich verkühlen konnte.
    Erneut stellte er ihr eine Frage, die sie mehr als überraschte. Wo hätte sie hingehen sollen? Die Mauern der Villa waren gezwungenermaßen ihr neues Zuhause. Trotz allem war sie immer noch Sklavin und die Kraft, um eine Flucht zu wagen, hätte sie niemals aufbringen können. Das mußte er doch wissen! Oder hatte seine Frage gar eine andere Bedeutung? Wollte er einfach nur wissen, wie und warum sie überlebt hatte? Sie konnte ja nicht ahnen, daß er glaubte, er hätte einen Geist vor sich.
    Sie hatte sich auch oft gefragt, was die Götter damit bezweckt hatten, sie einfach überleben zu lassen, warum sie nicht damals an der Seite ihrer Kinder den Tod gefunden hatte. Und auch diesmal hatte sie das Unmögliche überlebt. Aber warum nur war das Überleben immer mit so viel Schmerz verbunden? War das der Preis dafür?
    "Ich nicht wissen, warum Götter nicht nehmen mir, damals in Britannia und hier. Du glaube, ich Matho besiegen? Was dann? Dann ich frei?" Nein, das glaubte sie nicht! Das war unwahrscheinlich. Als sie noch darüber nachsinnierte, kam noch eine weitere unerwartete Frage. "Ja, kalt. Ich frieren!" Die nassen Kleider auf ihrer Haut trugen nicht gerade dazu bei, die Wärme seiner Umarmung zu speichern. Kaum hatte sie das gesagt, mußte auch sie niesen.

  • Dann Matho weg? Weg aus Kopf? Ursus wußte es doch nicht. Er hatte doch nicht die geringste Ahnung, wie so etwas funktionierte. "Ich kann Dir nichts versprechen, Fhionn. Aber ich glaube, daß es der einzige Weg ist. So etwas ist nie leicht. Es wird wehtun, weil Du Dich dabei dem stellen mußt, was Du fürchtest. Doch tut es nicht viel mehr weh, wenn Du Dich ewig von ihm quälen läßt?" Er konnte ihr dabei nicht helfen. Und er wußte nicht mal, ob er das wollte. Denn würde sie ihn nicht mitnehmen ins Reich der Toten, wenn er sie zu stark an sich band? Er war jung, er wollte leben, er hatte noch viel vor in seinem Leben. Das wollte er auf keinen Fall wegwerfen.


    "Frei? Es gibt viele Arten von Freiheit und vieles, das uns gefangen hält. Frei von Matho, ja. Frei von dieser Qual. Was danach kommt, wissen nur die Götter. Auf sie sollten wir vertrauen, denn sie wissen und sehen mehr als wir. Vielleicht hast Du ja noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, bevor Du zu Deinen Kindern darfst? Wie könnten wir Menschen uns anmaßen, die Pläne der Götter zu durchschauen?"


    Sie fror. Sie fror? Wie konnte das sein? Ursus verstand nichts von dem, was hier geschah. War das etwas, was sein mußte? Daß er sie mitnahm ins Haus? Er schickte ein Stoßgebet an seine Ahnen, daß er das richtige tun möge und nicht das Unglück ins Haus einließ. "Komm, gehen wir hinein. Da ist es wärmer." Sanft schob er sie in Richtung Haus. Er wollte sie nicht zwingen, nur anbieten.


    Wenn sie frieren konnte, war sie dann vielleicht auch hungrig? Erschien sie ihm deshalb so ausgezehrt? "Wie wäre es mit etwas heißem zu trinken? Und vielleicht finden wir auch etwas Brot und Käse, hm? Du bist sicher auch hungrig?" Sie nieste. Sie nieste? "Gesundheit", sagte er aus einem Reflex heraus und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. Erkältete Geister, die froren? Sie sagte etwas von Britannien und daß die Götter sie da auch schon nicht haben wollten. War sie nun ein Geist oder ein Mensch? Sie fühlte sich an wie ein lebender Mensch. Sie schien auch zu empfinden wie ein lebender Mensch. Doch niemand konnte eine Kreuzigung überleben!

  • Er wußte es also auch nicht so genau, doch ein Versuch war es wert. Natürlich würde es viel Zeit brauchen. Vielleicht würde sie auch die Hilfe Anderer in Anspruch nehmen müssen. Was aber bedeutete, sie müßte sich wieder unter Menschen begeben, etwas was ihr derzeit nicht gerade leicht fiel. Aber hatte sie sich nicht auch vor ihm gefürchtet und nun stand sie da und sprach mit ihm. Es war kinderleicht gewesen und es tat gut. Sie fühlte sich viel lebendiger, so als wäre sie aus einem schier nicht enden wollenden Schlaf erwacht. Außerdem glaubte sie, so den Fragen die sie die ganze Zeit gequält hatten, eine Antwort entlocken zu können.
    "Eine Aufgabe? Ich? Was ich tun können?" Sie konnte sich nicht vorstellen, was das für eine Aufgabe sein sollte. Aber vielleicht hatte er ja recht. Man wußte nie, was die Götter mit den Menschen vor hatten.


    Als er sie sanft in Richtung der Villa schob, sträubte sie sich nicht. Auch wenn sie das Haus nicht mochte, weil sie sich darin eingesperrt fühlte, war es doch im Augenblick der beste Platz, um sich aufzuwärmen, bevor sie sich beide noch den Tod holten. Beide waren völlig durchnässt und sie bedurften mehr, als nur ein warmes Getränk oder etwas zu essen. Sie hatte Appetit bekommen und sie spürte ein Hungergefühl. Oft hatte sie versucht, den Hunger zu unterdrücken. Jetzt machte sich ihr Magen mit einem fordernden Geräusch bemerkbar. "Ja, essen und trinken gut. Und Kleidung. Du ganz naß. Ich ganz naß." Sie deutete auf ihre beiden tropfenden Tuniken, die nicht mehr nässer werden konnten, als sie es bereits waren.

  • Eine verflixt gute Frage. Und er hatte keine Antwort darauf, daher entrang sich ihm ein Seufzer. "Ich bin kein Gott, ich weiß es nicht. Aber jeder Mensch hat seinen Platz im Leben, jeder hat seinen Sinn und seine Aufgabe. Wenn wir wüßten, was genau das ist, dann wäre es doch allzu einfach, findest Du nicht?" Er lächelte ein wenig schief. Schließlich konnte auch er nicht wissen, ob er den Weg ging, den die Götter für ihn vorgesehen hatten. Er hoffte einfach, daß er es schon merken würde, wenn er die falsche Richtung einschlug.


    Und sie hatte recht, sie waren beide klatschnaß. Wäre die ganze Situation nicht so verflixt ernst, könnte man glatt über sie beide lachen, so triefend, wie sie aussahen. "Dann sollten wir uns wohl etwas trockenes anziehen, hm?" Sie betraten das Haus und zogen eine ziemliche Wasserspur hinter sich her. "Hast Du noch etwas trockenes anzuziehen, Fhionn?" Fast hätte er gesagt, daß sie sich noch den Tod holen würden, wenn sie die nassen Sachen anbehielten. So gerade hatte er es zurückhalten können.


    Ihr Magenknurren verwirrte ihn wieder ungemein. Sie lebte doch! Irgendwie zumindest. Vielleicht war eine Art Wunder geschehen? Wie diese merkwürdige Sekte aus Judäa behauptete? Die diesen Mann verehrten, der angeblich nach einer Kreuzigung wieder auferstanden war? Er wußte es nicht, er wußte nicht, was er davon halten sollte. Vielleicht träumte er das alles ja nur. Ja, das war eine gute Erklärung. Ein verstörender, merkwürdiger Traum. Morgen würde er mit Corvinus reden müssen. Um zu erfahren, was wirklich geschehen war.

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