Dagny hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte sie doch auf Iring hören und ihre Mutter vorwarnen sollen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Iska mit einem Begeisterungssturm reagieren würde, so wie sie selbst es getan hatte, sondern eher mit einer Art stillen Freude. Aber das war keine stille Freude, das war eher so als … sähe sie einen Geist. Hadamar stand ebenfalls stumm und erstarrt da, ganz offensichtlich wusste er auch nicht, wie er reagieren sollte. Dagny schaute kurz von einem zur anderen, überlegte, ob sie einschreiten und zu ihrer Mutter hinübergehen sollte, als diese sich dankbarerweise wieder fing und selbst zu Hadamar hinüberlief. Die Umarmung zwischen Mutter und Sohn löste die Anspannung im Raum – und auch Dagnys innere Anspannung. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie zusah, wie Hadamar ihre Mutter fest drückte und sie sich wiederum an ihrem Sohn festhielt als habe sie nicht vor, ihn jemals wieder loszulassen.
Dagny beschloss, den beiden einen Moment der Wiedersehensfreude zu gönnen und setzte sich in die Küche ab. In dieser werkelte Alwina, eines der Mädchen, die Marga nicht in ihrer Küche in der duccischen Villa Rustica haben wollte, weil sie ihren Ansprüchen nicht genügte. Eigentlich erledigte sie ihre Arbeit Dagnys Meinung nach gut, war aber eher verträumt und deshalb nicht so schnell, wie Marga es gerne hätte – darüber hinaus, nun ja, war es allgemein sehr schwierig, Margas Ansprüchen in dieser Hinsicht zu genügen. Das schaffte eigentlich nur eine: Margas eigene Enkeltochter. Dagny grüßte freundlich und plauderte kurz mit der jungen Frau, die etwa in ihrem Alter war. Alwina war auch einer der Gründe, warum Dagny in letzter Zeit recht gern auf das Landgut kam; zwischendurch war es ganz schön, mal mit einer Gleichaltrigen über leichte Themen zu plaudern. Alwina erzählte oft amüsante Geschichten über die ewig Falschen, in die sie sich verliebte und später feststellen musste, dass sie da kein sonderlich glückliches Händchen hatte. Heute jedoch hielt Dagny sich nicht lange auf, sondern nahm sich nur drei Becher und einen Krug mit Apfelwein, und ging wieder zurück in den Hauptraum.
Inzwischen hatte ihre Mutter Hadamar losgelassen und redete leise mit ihm. Dagny stellte die Becher auf dem Tisch ab und begann, einzuschenken. „Jetzt können wir nochmal auf Hadamars freudige Rückkehr anstoßen!“ „Du hättest deinem Bruder auch etwas zu essen mitbringen können!“ kam es leicht vorwurfsvoll von ihrer Mutter. „Ist noch nicht fertig … ich dachte, wir essen gleich alle gemeinsam.“ „Ja, aber eine Kleinigkeit vorab. Das Kasernenessen ist doch ungenießbar.“ Dagny verdrehte kurz die Augen. Man konnte förmlich heraushören, dass ihre Mutter der Ansicht war, Hadamar wäre kurz davor, vom Fleisch zu fallen. Was nicht der Fall war, da brauchte man ihn doch nur einmal genauer anzuschauen! Aber Dagny wusste es besser, als mit ihrer Mutter darüber zu diskutieren – und ohne ein weiteres Wort verschwand diese nun ebenfalls in der Küche, um dem armen Jungen etwas Nahrung zu organisieren. Dagny seufzte und setzte sich an den Tisch. „Puh, jetzt wirst du den halben Vorratsschrank als Vorspeise bekommen.“ Mit einer Geste forderte sie Hadamar auf, sich ebenfalls zu setzen. „Ehrlich gesagt hatte ich schon die Befürchtung, dass die Überraschung etwas zu viel für sie war. Aber diesen Triumph gönnen wir Iring nicht, indem wir ihm das erzählen, oder?“ fragte sie mit einem Augenzwinkern.