Die Sonne war kaum hinter dem Horizont versunken, sandte wie in einem letzten Aufbegehren ihre Strahlen zum Himmel empor und färbte die pudrigen Wolken im Westen in zartes, unwirklich orangefarbenes Licht, als hätte ein kreativer Geist mit einem Pinsel sich dort zu schaffen gemacht. Obgleich der Himmel in Rom in diesem Augenblicke im Anschein ein gänzlich anderer mochte sein - allfällig von Wolken verhangen, allfällig vollkommen klar -, so beruhigte Gracchus doch stets der Gedanke, dass trotz allem es ein und dasselbe Himmelsgewölbe war, welches auch seine Welt umfasste, und da es gleichsam ein müheloses Unterfangen darstellte, in Gedanken geradewegs zum matten Blau empor und von dort aus in direkter Linie nach Rom hinab zu steigen, sinnierte er darüber, was wohl eben dort sein Sohn in diesen Stunden mochte tun. War er noch in jenem Alter, da zu dieser Zeit er bereits in seinem Bette schlummerte und in tiefen Träumen große Abenteuer erlebte, oder würde er noch seine Nase in Schriftrollen stecken, den Abenteuern der Zeichen folgen, oder gar noch ein wenig studieren? Es schien dieses Alter der Kindheit Gracchus zu fern, als dass er genau konnte bestimmen, wie er selbst in Minors Alter hatte die Abende verbracht, gleichwohl es ihm leicht fiel, sich generell an jene Zeit zu erinnern, hatte sie doch tiefe Spuren in ihm hinterlassen, denn nur ein wenig jünger war er gewesen als sein eigener Sohn nun, da ihn sein Vater hatte nach Achaia fort gesandt. Die Entfernung Athens von Rom war ihm schon damals - ein halbes Leben entfernt - als endlose Weite erschienen, gleichsam fragte er sich, ob sein Vater mochte damalig wohl ebenso viel an ihn gedacht haben, wie er dieser Tage an Minor dachte, ob sein Vater ihn ebenso hatte gemisst. Doch weder damals noch heute konnte er auch nur die geringste Spur eines noch so marginalen Anzeichens finden, dass dem so wäre gewesen, nicht den leisesten Anhaltspunkt, welcher dies würde vermuten lassen, denn selbst so er Briefe hatte erhalten, waren sie nur stets angefüllt gewesen mit Weisungen, Mahnungen, Tadel und Adhortation - gleichsam hatte sein Vater kaum wohl Grund gehabt, seinen Sohn zu missen, hatte er doch Animus und Lucullus um sich gehalten, so dass Gracchus' Absenz kaum mochte aufgefallen sein. Er selbst wollte in seinem Schreiben andere Worte finden für seinen Sohn, wollte, dass jener sich dessen bewusst war, wie präsent er durch seine Gedanken streifte, wie sorgfältig Gracchus jede Erinnerung und jede Neuigkeit Minor betreffend in sich hortete, doch seit Stunden saß er nun bereits im Peristyl - Sciurus mit geradem Rücken auf einer Kline gegenüber allzeit bereit seine Worte zu erfassen - und kaum ein fassbarer Gedanke war bis dahin ihm über die Lippen gedrungen, nicht etwa der Diffizilität der Artikulation wegen, sondern da er schlussendlich doch gänzlich unschlüssig war, was seinem Sohne er sollte mitteilen. In diesen Augenblicken misste er seinen Vetter Aristides, war jener doch lange ihm voraus bereits Vater geworden, hatte Jahre an Erfahrung auf diesem Gebiet, nicht zuletzt auch auf jenem der längerwährenden Absenz, während zuhause in Rom sein Junge herangewachsen war, und wie in allen Lagen des Lebens hätte Marcus unbezweifelt einen simplen, doch um so klügeren Rat für ihn bereit, welcher Gracchus die Situation um einiges würde erleichtern können. Doch auch Aristides weilte fern, so dass Gracchus nichts blieb, denn sich auf die natürliche Intuition zu verlassen, welche die Natur noch jedem Manne hatte mitgegeben, dass zu einem akzeptablen Vater er sich konnte wandeln - womit augenscheinlich ihm recht wenig blieb außer dem Triebe seinen Sohn und seine Gemahlin ausreichend zu versorgen, doch über dererlei brauchte er sich - selbst durch die endlose Weite eines Meeres von ihnen getrennt - nicht im geringsten zu sorgen.
"Allfällig sollte der Argo..nautica kein Schreiben beiliegen."
Nicht gänzlich zufrieden über diesen Entschluss, doch zumindest ein wenig erleichtert griff Gracchus nach einer Erdbeere, welche mit ihresgleichen eine Schüssel auf dem Tische vor ihm in delikatem Rot wusste auszufüllen, und verleibte die Scheinfrucht sich ein, da sein Sklave die trügerische Pläsier zu durchbrechen wusste. "Er wird glauben, dass sein Erbe zur Neige geht", warf Sciurus trocken ein, sich des Wunsches seines Herrn überaus bewusst, allfällig mehr sogar als jener selbst.
"Was ... meinst du damit?"
Ein wenig unverständig, doch überaus wachsam taxierte Gracchus den Sklaven, welcher - obgleich niemals an mehr interessiert - für ihn längst mehr als ein Sklave, längst ein Vertrauter war geworden, und dessen Rat er durchaus stets war anzuhören bereit, wenn auch nicht immer er ihn zu schätzen wusste. Geradezu beiläufig zuckte Sciurus mit den Schultern, jede Regung, jedes Wort bis ins kleinste Detail bemessen und disponiert. "Eine Sammlung von Schriftrollen, über ein viertel Jahrhundert alt, leicht abgegriffen und mit Flecken, die Bindungen nicht mehr frisch, und das alles ohne ein Wort der Erläuterung - dein Sohn wird glauben, dir geht das Geld aus ." Empört öffnete Gracchus den Mund, holte Luft, wusste doch dem nichts zu entgegnen, so dass er ihn wieder schloss, die Augen ein wenig zusammen kniff und unwillig brummte. Erneut griff er nach einer Erdbeere, ließ sich den rotfarbenen Genuss auf der Zunge zergehen, ehedem er seinem Sklaven sich zuwandte.
"Wie weit war i'h?"
Geschäftig hob Sciurus die wächserne Tafel empor, räusperte sich und las: "Mein Sohn! - dies ist alles." Mit einem Seufzen sank Gracchus zurück in die Kissen der Kline und blickte erneut zum Himmel empor.
"So fahre denn fort: ... Aus der Ferne ... schreibe ich dir heute ..."
Emsig notierte der Sklave jedes Wort, welches Gracchus über die Lippen drang, tröpfelnd nur zu Beginn, doch bald schon ein wenig flüssiger, so dass nach und nach die Tafel doch noch sich füllte, dass in der Nacht, als nurmehr die Feuerschalen warmes Licht spendeten, der Brief endlich vollendet war, wenn auch nicht von übermäßiger Länge, doch zumindest zu Gracchus' Zufriedenheit über das Aequilibrium zwischen patrizisch geforderter Neutralität und väterlicher Verbundenheit, zwischen anklingenden Weisungen und ausklingender Lebensweisheit.
Villa Rustica Flavia (nahe Athen)
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Am I gonna see the sun come up?
Or am I goin' down?
'Cause everyday I'm here
All I feel is sheer
Agony
Eels, Agony~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Fahle Düsternis schimmerte in transluzenten Partikeln durch den Äther stickiger Atmosphäre, umhüllte ihn mit treibenden Mauern aus felsiger Pein, hielt ihn umfangen mit starren Ketten eiserner Qual, geschmiedet an einen Kerker, aus welchem Entrinnen belanglos war. Seine Knochen brannten von innen heraus, ätzten in Muskeln und Fleisch, welches unter der gleißenden Hitze zerriss, wieder und wieder in endloser Spannung, gefroren in frostiger Kälte, zerspringend in tausende Scherben aus Eis in jedem Augenblicke, zerquetscht zwischen granitenen Pranken, zerhagelt von zahllosen nadelspitzen Dolchen getränkt mit flammender Algesie; jede Faser seines Leibes zerrissen zwischen Aufbegehren und Ergeben, zwischen Spannung und Lähmung, reagibel auf den geringsten Impetus, den Auslöser multipliziert mit der Unendlichkeit als Resonanz, die Ruhe gleich quälend der Regung, den Schmerz in sich verschlingend aus sich heraus, in oktroyierter Zelebrierung desselben zerfließend, stetig verblassend bis hin zur Unkenntlichkeit, so dass schlussendlich das komplexe Gebilde aus Ich sich löste, zerfiel zu konturlosem Exitus. Stille folgte der Agonie hernach als endlich das Kreischen und Mahlen verstummte, doch konnte sie nur bestehen, da er selbst verzehrt, von ihm selbst nichts mehr übrig war.
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Es war tiefe Nacht als Gracchus erwachte, unsicher dessen, ob die Tiefen des Traumreiches er hatte verlassen oder noch in ihnen versunken war, unsicher seines Leibes wie seines Geistes, nur der diffusen, monochromen Schattenwelt um ihn herum in jedem marginalen Detail gewahr. Es war dies sein Reich, gleichwohl wie es dies nicht war, war sein Heim wie sein Exil, sein Ursprung wie auch sein Untergang, wohl bekannt und doch so fremdartig wie nichts je zuvor. In antriebslosem Aufbegehren suchte er dem zu entkommen, suchte sich selbst aus den Fängen seiner Grenzen zu lösen, doch die einzige Regung, welche er seinem Leibe konnte abringen, war das Senken seiner Augenlider, so dass alsbald er erneut in tiefem Schlafe versank.
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Angestrengt, die Kiefer fest aufeinander gebissen, die Augen ein wenig verengt und die Brauen zusammen gezogen, suchte Gracchus sich darauf zu konzentrieren, den vor ihm auf dem Tisch platzierten Tonbecher mit der Rechten zu fassen. Seine Finger lagen bereits um die raue Oberfläche gekrümmt, dessen jedoch er sich nur aufgrund visuellen Rezipierens war gewahr, und er brauchte nurmehr ein wenig Kraft in die Hand zu geben, dass der Griffe würde fest werden. Doch während in Gracchus' Innerstem eine gewaltige Schlacht aus Anspannung wurde geschlagen, Berge aus granitener Anstrengung wurden versetzt und Ozeane voller kraftvoller Mühe ausgetrunken, zeigte in der tatsächlichen Welt sich nicht die geringste Regung in dem anvisierten Körperteil, und als er langsam den Arm hob, entglitt der Becher seiner Hand allein ob des geringen Eigengewichtes, wackelte ein wenig unschlüssig und blieb schlussendlich auf der Tischfläche stehen.
"Konzentriere dich, Flavius."
Ein unwirscher Laut entkam Gracchus' Kehle, welcher nun ungehalten den Arm zurück und schlussendlich mit ruckartiger Bewegung über den Tisch zog, dass sein Handrücken den Becher über die Platte hinfort wischte, welcher auch mit geringem Gewicht der Schwerkraft musste folgen, der Erde sich näherte und mit dumpfem Klirren auf dem steinernen Boden zerschellte. Cadipolos Calimeres, dem Flavier gegenüber sitzend, zuckte kurz zusammen, doch Gracchus' Wut verflog so schnell wie sie in ihm empor gestiegen war, wich betrübter Resignation.
"Zwecklos."
"Nun, immerhin hast du die groben Bewegungsabläufe doch schon sehr gut wieder im Griff", suchte der medicus mit einem Seitenblick auf den namenlosen Sklaven, welcher bereits über den Boden rutschte, um die Tonscherben einzusammeln, sein Gegenüber ein wenig aufzuheitern. Gracchus jedoch brummte nur unzufrieden.
"Ni'hts habe ich im Griff, und daran ändert sich au'h nichts mehr."
"Du musst Geduld haben, Flavius, und kontinuierlich weiter üben, dann ..."
Aufgebracht, mehr über sich selbst denn die Worte des medicus, unterbrach Gracchus diesen jählings, verlor um so mehr an Deutlichkeit seiner Sprache, je ungehaltener er wurde.
"I'h habe aber keine Geduld mehr! Seit Mo..naten habe i'h Geduld, seit ... Monaten trage i'h diesen ... maroden Leib mit mir ... herum, und er wei..gert sich nurmehr, den kleins..ten Schritt mir no'h entgegen ... zu kommen!"
"Sei nicht undankbar! Du kannst gehen, kannst dich bewegen, wenn auch vielleicht fünf deiner Finger dir noch nicht wieder gehorchen wollen, und auch deine Aussprache ist deutlich flüssiger als noch vor einigen Wochen - zumindest wenn du dich bemühst! In Anbetracht dessen, dass du schon zum zweiten Male dich dem Tod entzogen hast, solltest du dich glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein!"
"Leben ... was weißt du schon vom ... römischen Leben, Grieche! Was soll das für ein Leben sein, da ni'hts bleibt, was dieses Leben ausgema'ht hat?"
Es war eine überaus betrübliche Stimmung, welche diesen Tages Gracchus hielt umfasst, war doch am am frühen Mittag ein Bote aus Rom zurück gekehrt, hatte Kunde gebracht aus der dortigen flavischen Villa, Neuigkeiten über das dortige Leben, welches so fern von Achaia, so fern von ihm selbst vonstatten ging. Cadipolos Calimeres indes ließ sich so leicht nicht seine Ansichten nehmen.
"Und warum kann es nicht bleiben? Was ist so essentielles daran verloren?"
"Du kennst Rom ni'ht, in Rom ist kein Platz für Scheitern. Was glaubst du ist ein Pont'..fex noch wert, der beim Ablesen der Gebetstexte in den Zeilen verrutscht? Was glaubst du, werden meine Worte im Senat für ein Gewi'ht haben, wenn mir im entscheidenden Augenblick Anfang und Ende meiner ... Gedanken fehlen?"
Ein leises Schnaufen entwich durch Gracchus' Nase.
"Vermutlich schaffe ich es ohne Hilfe ni'ht einmal mehr die Stufen zur Curia Iulia hinauf ... früher oder später werden sie hinter vorgehaltener Hand spotten, werden sich zuraunen, ni'ht nur mein Leib sei marode, son..dern vorwiegend mein Geist wirr, wie der des Matiniers oder der des flamen dialis. Meine Ge..mahlin wird sich lieber aus der Gesellschaft zurückziehen, als noch irgendwo an meiner Seite zu erscheinen, und mein Sohn wird si'h nurmehr für seinen Vater schämen."
""Du bist viel zu sehr auf deine Vergangenheit forciert, Flavius. Sicherlich gibt es andere Aufgaben für einen Pontifex als Gebetstexte zu lesen, und wenn selbst der flamen dialis seinen Aufgaben zur Zufriedenheit der Götter nachkommen kann, wieso nicht auch du? So du befürchtest, dass dir im Senat die Gedanken ausgehen, lasse einen anderen für dich sprechen. Bei Hunderten Männern wird es doch einen geben, dem du deine Gedanken anvertrauen kannst. Und der Gesellschaft um dich herum, deiner Gemahlin, wie auch insbesondere deinem Sohn, solltest du ein wenig mehr Verständnis und insbesondere Intelligenz zutrauen, denn der Inhalt deiner Worte gibt selten Grund, an deinem Verstand zu zweifeln."
Von Misstrauen geprägt hob sich Gracchus' Braue empor.
"Selten? Also ... doch ab und an?"
Der medicus lächelte. ""Ab und an ist an jedermannes Verstand zu zweifeln. Da jeder seine eigenen Ansichten bezüglich des Lebens, des Universum und des ganzen Restes hat, ist dies ein ganz natürliches Nebenprodukt des menschlichen Zusammenlebens."
"Mhm"
, brummte Gracchus.
""Du solltest es zumindest versuchen. Falls es dir unerträglich ist, kannst du noch immer nach Achaia zurückkehren oder in eine andere Provinz flüchten und alle Unkenrufe in Rom hinter dir lassen. Verlieren kannst du dabei kaum etwas."
"Nur den letzten, klägli'hen Rest meiner Selbstachtung."
"Den du hier in jedem Falle verlieren wirst, auch wenn du dies nicht wahrhaben willst. Rastlos hier zu sitzen, zu grämen und zu lamentieren ist keine Lösung, denn dies ist das Vorrecht der verbitterten Alten. Und diese werden dich noch viele Jahre nicht in ihre Kreise aufnehmen, so dass es diesenfalles vielleicht besser wäre, du würdest dir gleich dein Schwert zu Herzen nehmen, um dir und den deinen die schleichende Verbitterung einer sinnlosen Zukunft zu ersparen."
Gracchus seufzte. Oftmals hatte er in den letzten Monaten bereits darüber sinniert, seiner Mutter es gleich zu tun, sich selbst wie auch die Familie durch den selbst gewählten Exitus vor possibler Kompromittierung zu bewahren, doch gleichwohl beständig er dazu neigte seiner selbst bezüglich stets mehr das Nachteilige, seine Mängel und Fehler zu sehen, gleichwohl er selten sich die Freiheit zugestand, es vollends auszukosten, so liebte er doch das Leben in all seinen Facetten und jeglicher Couleur. Einige Augenblick verstrichen in nachdenklichem Schweigen, ehedem Gracchus langsam antwortete.
"Du hättest Philosoph werden sollen, Cadip'los Calimeres, ... nicht medicus."
"Manches mal ist der Unterschied nicht allzu groß", lächelte der Grieche und schob den Stuhl unter sich zurück. ""Für heute sollen es der Übungen genügend gewesen sein. Ruhe dich ein wenig aus und denke über meine Worte nach."
"Das werde ich, dessen sei dir versi'hert, treibt Rom sich doch ohnehin beständig durch meine Gedanken." -
Heiß und unbewegt umfasste die sommerliche Luft das Peristyl des flavischen Anwesens, wurde selten nur ein wenig hin und her geschaukelt durch einen lauen Luftzug vom Meer her, stand sonstig starr verharrend wie ein Teil der Szenerie, welche einem Stillleben gleich sich den sklavischen Zuschauern wie Beteiligten bot, deren zumeist ungeteilte, doch bisweilen in allzu langen Phasen der Bewegungslosigkeit abschweifende Aufmerksamkeit auf dem Zentrum dieser ihrer Welt lag, ihrem Herrn Manius Flavius Gracchus. Auf eine längerwährende Dauer des Schweigens, der Regungslosigkeit um den Tisch herum gleichwohl, hob Gracchus langsam die Hand, schob eine der runden, marmornen Figuren über das Spielbrett zwischen Sciurus und ihm, lehnte sich sodann - noch immer in Gedanken versunken - zurück.
"Welches Datum hat der heutige Tag?"
Der Sklave ihm gegenüber beugte sich vor, setzte seinerseits eine seiner Figuren - längst hatte er während Gracchus' sinnierendem Verharren all dessen possible Züge und darauf mögliche Reaktionen im Voraus durchdacht - und entgegnete dabei: "Die Iden des Iulius, Herr."
"Die Iden schon?"
Zögerlich schob die Augenbraue über Gracchus' linkem Auge sich empor.
"Iulius schon."
Wie die Braue allmählich sich wieder senkte, zog er nachdenklich seine Unterlippe zwischen den Zähnen hindurch, ließ seinen Blick schweifen in die seichte, blaufarbene Ferne hinter den Säulen des Peristyl.
"Schon wieder. Bald werden die Neptunalia gefeiert, ... die Trockenzeit wird folgen. Wäre es nicht überaus pläsierlich, würde das Meer glei'h des Tibers ausdörren?"
Nichts wusste Sciurus auf diese vermeintliche Frage zu antworten, war nicht gänzlich sich dessen sicher, ob sein Herr eine Antwort erwartete, was jener nicht tat, darum alsbald weiter sprach.
"Ich wünschte, es wäre dies so, ... dass wir über den sandigen Grund hinweg nach Hause könnten reisen ..."
Das fahle, blaufarbene Himmelsgewölbe schien mit den ungleich blaufarbeneren Wogen des Meeres zu verschmelzen, schien es aufzusaugen in seinen bauchigen Leib, alles Nass in sich zu verschlingen, so dass Schiffe strandeten, Fische hinabsanken und tanzende Algen auf den Grund sich zur Ruhe legten. In manch einer sonstig gefluteten, dunklen Höhle im rauen Felsgestein regte ein Ungetüm sich verwundert, blickte mit seinen feurig glühenden Augen desorientiert aus seinem Verstecke in die ihm so unbekannte, klare Luft, um hernach seine Tentakeln zu raffen, sich tiefer noch zurück zu ziehen, wo seichte Pfützen statt der vertrauten Fluten waren geblieben. Leblos schien nun diese sonst so umtriebige Welt, da das erquickende Element ihr entzogen war, und selbst jene ihrer Bewohner, welche in der Lage waren, das Land zu erklimmen, hatten tief sich zurück gezogen, verharrten starr vor Furcht. Nur eine einzige Bewegung war in der endlosen Weite auszumachen, ein einzelner Mann, ein einsamer Schemen, welcher unermüdlich durch die aride Welt streifte, Stück um Stück sie bearbeitete.
"I'h würde nach Leontias maritimer Ruhestätte suchen, den Sand aufwirbeln ... bis dass Neptuns Reich ihren blei'hen Leib würde freigeben, ... einmal hinweg durch das gesamte mare internum fegen, jedes einzelne ... granulare Korn neu ordnen, ihr Wesen bergen und endlich na'h Hause bringen. Nach Hause ..."
Neuerlich senkte Schweigen sich über die Partie, und Gracchus' versank in seinen Gedanken, welche alsbald sich in der Zahllosigkeit der Sandkörner verloren, in der unzählbaren Unendlichkeit des Meeres, der Impossibilität dieser Aufgabe, darüber hinaus der Unmöglichkeit selbst. Ein nahe aus einem mit Blüten in hellem Purpur gespickten Oleanderstrauch empor auffliegender Fink zerstörte diese Blase der Versunkenheit, schreckte Gracchus nach einiger Weile aus seinen Gedanken auf, welche er selbst hätte längst nicht mehr benennen können.
"Bin ich am Zuge?"
"Ja, Herr", nickte der Sklave. Ein wenig derangiert blickte Gracchus auf das Spielbrett hinab, suchte einen Halt für seine Sinne, und die Worte flossen nur zäh aus seinem Munde, als klebten sie an seinem Gaumen fest, oder als wolle er sie bis zum letzten Augenblicke noch festhalten, unentschlossen sie überhaupt zu entlassen.
"Über was ... haben wir ... gerade gesprochen?"
"Die Neptunalia und die Reise nach Rom."
"Die ... Neptunalia? Welches Datum haben wir heute?"
"Die Iden des Iulius, Herr", antwortete Sciurus geduldig. Bisweilen schien es, als würde die Welt unbemerkt an seinem Herrn vorbeiziehen.
"Die Iden? Fürwahr, es wird Zeit aufzubre'hen, zumal die Tage nach den Neptunalia ein guter Zeitpunkt für eine Über..fahrt sind, dann wenn die Gelüste des Poseidon besänftigt sind - zumindest ein besserer Zeitpunkt als sonstig, denn gut ist eine Überfahrt ohnehin niemals, ... unabhängig ihres Zeitpunktes. Wir sollten dies bald planen."
Gracchus blickte auf den Tisch herab.
"Bin ich am Zuge?"
"Ja, Herr." -
Überaus selten hatte Gracchus die Villa verlassen, seitdem er in Achaia war angelangt, nur an einem einzigen Tage war er in der Sänfte nach Athen getragen worden, und auch auf die Wege um das Anwesen herum hatte er kaum nur einen Fuß gesetzt. Einige Male war er am Strand gewesen, dort, wo er einst mit Caius leidlich das Schwimmen hatte erlernt - vielmehr hatte Caius das Schwimmen erlernt, während Gracchus kaum über das bis zum Halse stehende Wasser hinaus gekommen war -, doch allzu schnell hatten ihn die Spaziergänge ermüdet, dass er bald damit zufrieden war, das endlose Meer von ferne her aus dem Peristylium zu betrachten, was zudem den Vorteil barg, dass nicht beständig der trockene, körnige Sand ihm zwischen die Zehen, sowie zwischen Fußsohlen und Sandalen rieselte. An diesem Tage jedoch, da der Zeitpunkt der Abreise nach Rom bereits in nahezu greifbare Zukunft war festgesetzt worden, war eine Pflicht, welcher er seit der Ankunft und dem Gewahr werden derer sich hatte entzogen, nicht länger noch aufzuschieben, so dass ein kleiner Tross am frühen Abend war aufgebrochen den Weg von der Villa fort in Richtung der nahen Stadt. Das Feuer der von Sklaven getragenen Fackeln schimmerte schwach im dämmrigen Lichte des Abends, denn noch war die Welt nicht dunkel genug, ihre leuchtende Glut anzunehmen, obgleich die Sonne bereits hinter dem Horizont war versunken. Geduldig und wortlos folgten die Sklaven um und hinter Gracchus, hatten sie doch längst sich an die Langsamkeit des Herrn gewöhnt, darüber hinaus ohnehin kein Recht, sich darob zu beklagen, während jener mit jedem Schritte, welchen er seinem Leibe konnte abringen, ob dessen haderte, wiewohl mit der stets nach kurzem bereits spürbar werdenden Ermattung. Schwer lagen die Falten der - nurmehr selten angelegten - Toga auf seinen Schultern, als wollten in den Grund hinab sie ihn ziehen, und wie ein beständiger Kampf schien es ihm - Manius' Wille gegen Manius' Körper, und Manius' Seele dazwischen baumelnd -, jeder gradus bis zum Ziel wie eine kleine Endlosigkeit, und jede Unregelmäßigkeit auf der Straße tat sich hämisch unüberwindbar wie die Gebirgszüge der Alpes vor ihm auf - nicht selten musste Sciurus ihn stützen, dass er das Gleichgewicht konnte wahren. Allfällig indes war dies, der beschwerliche Weg zu dessen Grabe, nur gerechte Sanktionierung dafür, dass er jenen hatte so feige zurück gelassen - ein Sklave nur, doch kein gewöhnlicher, sondern sein Sciurus - erster Träger dieses Namens. Von seinem Vater hatte er diesen erhalten, ein Sklave aus der flavischen Zuchtlinie, vertrauenswürdig, intelligent und gebildet, der lange Zeit Paedagogus seines Bruders Animus war gewesen, und schließlich - Jahrzehnte lag dies nun schon zurück - dem kleinen Gracchus zur Seite war gestellt worden. Es war der Tag seiner Abreise aus Rom gewesen - jener ersten, großen Reise über das mare internum, durch welche ob des stürmischen Seeganges während der Überfahrt für den Rest seines Lebens das Reisen ihm war verleidet worden -, als sein Vater ihn hatte in seinem Zimmer abgeholt, wo der kleine Gracchus am Fenster Haselnüsse hatte ausgelegt, um das rote Eichhörnchen, welches draußen in den Bäumen lebte, zu locken und einzufangen, um es mitzunehmen, denn in seiner blühenden Phantasie war das kecke Tier längst zu seinem Freunde geworden - seinem einzigen wahrhaftigen Freunde gar. Als Flavius Vespasianus nach der Sinnhaftigkeit des Tuns hatte zu wissen verlangt und die Erklärung seines Sohnes darauf vernommen, hatte er nur ungeduldig und unverständig konstatiert, dass für solcherlei Unsinn keine Zeit sei, doch - dabei auf den Sklaven deutend, welcher bis dahin Bomilkar war gerufen worden - Gracchus seinen neuen Sklaven Sciurus könne nennen, so dass er sein Eichkätzchen in Achaia würde bei sich haben. Da der Junge dem Vater zu dieser Zeit niemals hatte Widerworte entgegen gebracht, nicht einmal an solcherlei hatte zu denken gewagt, hatte er sich auch diesen Tages dem väterlichen Worte gefügt und war ohne das Tier, dafür mit Bomilkar - welchen er tatsächlich fortan nurmehr Sciurus nannte, da sein vorheriger Name ihm ohnehin nicht war geläufig gewesen - nach Athena aufgebrochen. Von Beginn an hatte er ihn inniglich geliebt, als einzig vertrautes Stück Heimat in der Fremde zunächst, bald als Vertrauten und später dann mit Leib und Seele, als Ventil seiner adoleszenten Sehnsüchte und Begierden. Die Erinnerung an Sciurus' gewaltsamen Tode, dass sie jede Würde ihm hatten genommen - da ein Sklave eine solche nicht besaß, war es vielmehr Gracchus' Würde gewesen -, schmerzte ihn noch immer, gleichsam wie das Eingeständnis dessen, dass nicht nur er durch seine Torheit wie auch Feigheit Schuld daran hatte getragen, sondern gleichsam dass beides auch hatte verhindert, dem römischen Recht die Übeltäter zu übereignen, so dass niemals Satisfaktion ob dessen erreicht worden war. Mehr noch schmerzte ihn jedoch, dass er den geliebten Sklaven hatte zurück gelassen auf Creta - bloß wie er war, das Messer im Rücken, der bleiche Leib kontrastierend mit dem Kolorit des trockenen Blutes und dem frischen Grün des Grases -, und erst viel später von Rom aus hatte beauftragt, dass die Überreste des Sklaven zum achaischen Landsitz auf dem Festland waren befördert worden, auf dass sie dort, einem Angehörigen dieses Haushaltes gebührend, im nahen Mausoleum konnten beigesetzt werden. Das Grabmal an der Straße nach Athena war im Vergleich mit jenem in Rom nicht besonders prächtig, schlicht gehalten und ohne reichhaltige Dekoration, doch allein das kleine Bauwerk zeugte bereits vom Stand der Gens, diente es doch nicht etwa für verstorbene Angehörige der Familie, sondern nur der Bestattung von Sklaven aus dem Haushalt, Freigelassenen und anderen Klienten der Flavier, welche sich selbst keine Beisetzung konnten oder wollten leisten. Am Rande des Weges längs des Grabarreales stoppte die kleine Prozession, und Gracchus ließ sich auf dem kühlen Stein der Umfassungsmauer nieder, nickte zum Grund hin, worauf Sciurus sich vor ihn kniete, um seine Füße von den Sandalen zu befreien. Obgleich er suchte, dies zu verbergen, atmete Gracchus erleichtert auf als er saß, froh über diese kleine, erzwungene Pause, blieb schlussendlich auch mit baren Füßen noch einige Augenblicke sitzen, ehedem er sich wieder aufhelfen ließ, den kurzen Weg zum Opferaltar vor dem Mausoleum zurücklegte und dort erneut stoppte. Selten nur tat es sich wohl, dass ein patrizischer Flavier persönlich vor diesen Altar trat, war es sonstig doch Aufgabe der Klienten, für das jenseitige Wohl der hier Bestatteten Sorge zu tragen, doch war Gracchus sich gewahr, dass er ohne diese Pflicht zu erfüllen sich niemals würde von seiner Schuld, seinem schlechten Gewissen bezüglich des ersten Sciurus befreien können, welche allzu lange er bereits mit sich herum trug. Einige Herzschläge lang wägte er ab, sich erneut von Sciurus - dem jetzigen Träger dieses Namens - helfen zu lassen, sich vor den niedrigen Altar zu knien und die Opfergaben selbst darzubringen, doch schlussendlich entschied er, stehen zu bleiben, befürchtete er doch, nicht gar so einfach wieder vom Grunde empor zu kommen. Er zog langsam eine Falte seiner Toga über den Hinterkopf und breitete sodann die Arme ein Stück weit zur Seite, die Daumenkuppen an die Kuppen der Zeigefinger gelegt, um rachsüchtige Bewohner des unteren Reiches fern zu halten - an der Rechten half er kurz nach, da der Daumen sich freiwillig nicht ganz zum linken Zeigefinger wollte biegen. Einige Augenblicke der Stille verstrichen, durchzogen nur vom leisen Atem der Natur, ehedem Gracchus den Opferritus einleitete.
"Dispiter inferus, um Deine Gunst, Dispiter aeternus, um Dein Wohlwollen, Dispiter reconditus, um Dein Zutun bitte i'h, auf dass Du gewähren lassest die Meinen ... in Deinem Reiche, auf dass Du Acht hast auf ihr Wohl. Milch, Öl und Bohnen, Dispiter, unermüdlicher Sammler, ... Dir zum Geschenk."
Während er sprach, trug Sciurus dafür Sorge, dass die Sklaven mit den Gaben heran traten, Milch in die kleine Öffnung am Fuße des Altars gossen, hernach Öl, sodann der nächste die Schale mit Bohnen darauf abstellte.
"Di in.. ... in.. ... di in..."
Angestrengt zog Gracchus die Stirne in Falten, als würden die Bemühungen dahinter die Wölbungen bedingen, während er selbst in seinem inneren Gedankengebäude ein wenig verärgert an jener Schublade zog, in welcher der Name musste verborgen sein. So oft schon in seinem Leben hatte er die Unterirdischen angerufen, so oft ihren Namen genannt, doch nach dessen Beginn zeigte sich nurmehr Absenz, und je mehr er suchte den Anschluss zu erlangen, desto weniger wollte er sich ihm zeigen. "Inferiores", flüsterte Sciurus von der Seite her - und selbstredend war es dies, wie auch Gracchus wusste, obgleich es seiner Zunge trotz dessen schwer abzuringen war, den gesamten Gedanken in seinem Flusse zum Stocken brachte.
"Di in... infer..iores, .... um ... Eure Gunst, di in..feriores, um Euer Wohlwollen, ... di inferiores, um Euer Zutun bitte i'h, ... auf dass Ihr gewähren lasset die Meinen um Eu'h, auf dass Ihr Acht habt auf ihr Wohl. Mil'h, Öl und Bohnen, di in..feriores, Euch zum Geschenk."
Gierig verschlang der irdische Schlund, während Gracchus seine Gedanken zu ordnen suchte, die weißfarbene Milch, als wäre er der Rachen eines der Unterirdischen selbst, und auch das im Fackelschein glänzende Öl verschwand hernach im Grunde, während die Schale mit schwarzfarbenen Bohnen sich zu der ersteren auf dem Altar gesellte - in der Nacht würden die Geister, die Bewohner der unterirdischen Reiche deren Inhalt zu sich hinab holen.
"Divi parentes, euch zum Wohle, divi parentes, eu'h zur Ruhe, divi parentes, euch zum Labsal! Milch, Öl und Bohnen, divi parentes, ... euch zum Geschenk."
Ein drittes Mal traten die Sklaven heran, ihren Teil der Handlung am Ritus für die Verstorbenen zu erfüllen, gossen Milch und Öl in die Öffnung vor und stellten die Schale mit Bohnen auf den Altar, während Gracchus stumm in die Unendlichkeit starrte, dem leisen Rascheln lauschte, welches der laue Wind den Blättern der Bäume ringsum abrang, und reminiszente Fetzen durch seinen Geist zogen, Bilder, Gedanken und Gefühle aus einer längst vergangenen Zeit. Als würde die Welt um ihn herum jene in ihm reflektieren, zogen allmählich die Schatten der Nacht über das Land, verbargen Konturen und Details, ließen die Welt verschwimmen, und das flammende, goldfarbene Licht der Fackeln leuchtete nun wie das Signalfeuer, welches die verirrten Schiffe in den Hafen der Heimat zu führen vermochte - es war Zeit, einen Teil der Vergangenheit in der Dunkelheit des Vergessens versinken zu lassen, dem Schimmern der Zukunft entgegen zu sehen. Als Gracchus die Arme sinken ließ und der Gegenwart sich wieder wurde gewahr, drückte diese noch immer schwer auf seine Schultern hinab, barg diese noch immer nur einen defizitären Leib, der sich anfühlte, als gehöre er einem Greis, wie auch sein Geist müde war - doch gleichsam hatte einer jener vielzahligen Knoten sich gelöst, welche den immensen Komplex in seinem Innersten gefangen hielten. Ermattet trat er zu der steinernen Umsäumung zurück und ließ sich darauf nieder.
"Lasse die Sänfte herbei holen"
, wies er seinen Leibsklaven an, welcher die Sandalen über Gracchus' Füße zog, denn wozu sollte er sich quälen ... -
"Ich stimme nämli'h den Philosophen nicht bei, die un..längst die Ansicht zu entwickeln anfingen, mit dem Körper gehe zugleich die Seele unter, ... und alles werde durch den Tod verni'htet ..."
Monoton und farblos entfleuchten die Worte Ciceros Laelius - oder von der Freundschaft sukzessive aus Gracchus' Kehle, mischten sich mit dem leisen Rascheln der Blätter der Weinreben, welche sich um die Arkaden des Peristylium herum rankten, verloren sich hinfortgetragen durch den seichten Wind im fernen Rauschen des Meeres, welches seine schaumigen Zungen nach der Küste ausstreckte, um Steine und über Sand leckte, als wolle nur stets ein wenig es vom Lande kosten, niemals jedoch es verschlingen. Es war ein alltägliches Ritual geworden, diese Betrachtung zur Freundschaft, um Stimme und Klang zu stärken und hinlänglich geschmeidig zu halten, denn es war dies der einzige Text, welchen Gracchus hatte in früheren Zeiten sich verinnerlicht und zu welchem er dieser Tage in seiner Gänze hatte Zugang gefunden. Er hatte versucht andere Schriften zu lesen, laut zu rezitieren, doch wollte es nicht ihm gelingen seine Sinne über mehrere Zeilen hinweg beisammen zu halten, verlor er stets die Kohärenz der Worte aus den Augen, stolperte darob über unzusammenhängende Sätze, ob deren Verwirrung er letztlich gänzlich die Konzentration verlor. Laelius war ihm geblieben, so dass er in seinem Defätismus sich an jedem einzelnen Worte, an jedem Satz davon festhielt, denn obgleich die Couleur seiner Stimme ihm bleiern und graufarben, träge und zähflüssig schien, so war es doch stets der Klang der gedachten Worte, welcher ihn davon konnte überzeugen, dass dem Selbst ein Wert geblieben war - zwar würden weder der Staat, noch die Götter durch solcherlei zu überzeugen sein, doch zumindest seinem Sohne würde er mit auf den Weg geben können, was ein Flavius gebrauchte auf seinem Wege. Zu lange schon hatte er mit sich gehadert, Minor kein brauchbares Vorbild mehr sein zu können, mehr Blamage über jenen zu bringen denn Vorteil, mehr Verunsicherung denn Sicherheit, doch letztlich hatte er von dem besonnenen medicus Cadipolos Calimeres sich überzeugen lassen - sich überzeugen lassen wollen unbezweifelt zudem -, dass ein scharfer Verstand, ein verständiger Geist und ein kluger Ratgeber, welche in einem maroden Körper inwendig steckten, weit mehr von Vorteil für einen Sohn waren, denn eine abstrakt perfekte, doch absente Vaterfigur, und obgleich Gracchus bezweifelte, dass sein Verstand stets scharf, sein Geist verständig und sein Rat klug waren, so wusste er doch aus leidvoller Erfahrung um die tiefen Selbstzweifel, die nachhaltige Desperation und fortwährende Irritation, welche der Absenz des Vaters in einem Jungen zu schaffen möglich waren. Lange bereits vor Minors Zeugung hatte er sich geschworen, seinen Nachkommen ein präsenter Vater zu sein, lange genug hatte er bereits sich der Umsetzung dieses Gelöbnis' entzogen, so dass längstens die Zeit war gekommen, zurückzukehren. Gleich seinem Sohne misste er ferner mehr und mehr seine Gemahlin, auf eine derart begehrende Art und Weise zudem, wie zuvor er kaum es hätte je für möglich gehalten - obschon gleichsam er dennoch von Furcht war erfüllt über ihr mögliches Urteil, denn unbezweifelt war es niemand sonst denn seine unfehlbare, stets über alles erhabene Gattin Claudia Antonia, welche mit einem einzigen Worte - allfällig einer Regung oder einem Fingerzeig gar nur - über sein Leben würde richten, es zu einem vorzeitigen, selbstgewählten Ende würde verurteilen können. Trotz dieses bedrückenden Gedankens jedoch glaubte sich Gracchus in jenem Dilemma, fern und getrennt von ihr, ohne sie nicht mehr allzu lange bei Verstande bleiben zu können, hoffte indes, dass die Worte des medicus auch diesbezüglich sich würden bewahrheiten und Antonia mochte Milde zeigen - wie sie schlussendlich ihn bezüglich schon so oft es hatte getan. Der Tag der Abreise war darob bestimmt, das wenige, was Gracchus von Achaia würde mit nach Rom nehmen, packten die Sklaven zusammen, und mit der Routine des Alltages suchte er selbst den Gedanken an die leidliche Reise, welche der Rückkehr zuvor stand, zu verdrängen. -
Früh am Morgen war es, ein frischer, kühler Wind strich vom nahen Meer über das Küstenland, umschmeichelte die sanften Hügel, liebkoste Gräser und Pflanzen, die nach dem Takte seiner Melodie gemächlich sich wiegten, streifte über Felder, Wiesen und Wege, zog letztlich auch ein in das zum Meer hin gewandte Peristylium der Villa Flavia, wo er sich gebrochen an Plfanzenranken, steinernen Säulen und Mauern schlussendlich zur Ruhe legte. Nurmehr ein lauer Hauch blieb von dem nach Salz und Algen duftenden Luftzug um Gracchus' Nase herum, gleich einer Reminiszenz an die lange Reise, welche die Winde über dem mare internum zurücklegten, leise singend von zahllosen Segeln, welche auf ihrer Reise sie hatten gestreift, leise raunend die Namen der Bewohner der Tiefe, deren dunkle Schatten unter ihnen durch die blaufarbene Tiefe des Wassers waren gezogen, leise flüsternd von fernen Ländern, an deren Stränden sie hatten geschnuppert, leise wispernd die Zahl der Vögel und Wolken, welche auf ihrem Rücken sie hatten mit sich getragen. Tief im Osten, hinter dem dunklen Horizont trieb Helios die Pferde des Sonnenwagens an, die güldene Scheibe empor zu ziehen, um den Tag einzuläuten. Lange schon nicht mehr war Gracchus derart früh am Morgen aufgestanden, doch eine Unrast hatte Besitz ergriffen von ihm, eine Ruhelosigkeit ob der baldigen Aussicht auf die Rückkehr nach Rom, so dass unerträglich es ihm war, noch im Bette liegen zu bleiben und die Gedanken schweifen zu lassen, zogen sie doch stets voller Sehnsucht voraus, ohne dass es ihm möglich war, ihnen bereits zu folgen. Erfüllt von der Harmonie des Augenblickes waren nun seine Sinne als vor ihm allmählich der Horizont aufbrach, das orangefarbene Licht der aufgehenden Sonne das dunkle Blau der Nacht beiseite wischte, und alsbald glühend rotfarben die Sonnenscheibe sukzessive sich empor schob. Einem bewegungslosen Taumel glich es, einem in sich ruhenden Tanze, und mit jedem Funken, welchen das flammende Rund über den Himmel malte, stieg in Gracchus die Euphorie ob des grandiosen Schauspieles, welches alle Tage erneut sich auf der Bühne der Welt abspielte, unbeeindruckt von Freuden und Sorgen, unbeeindruckt von Siegen und Niederlagen, unbeeindruckt von Leben und Tod, welches gleichsam jeden Menschen, welcher bereit war es zu blicken, zu tiefer Ehrfurcht musste anregen, da nichts von gleicher Schönheit war, da nichts mehr das Wirken un-menschlicher Kräfte konnte symbolisieren denn der endlose Lauf der Sonne, da nichts erlösender war denn der Austritt aus der Dunkelheit und der Eintritt in das Licht. Schräg hinter Gracchus stand Sciurus, wandte gleich seinem Herrn seine Aufmerksamkeit zum Horizont, und obgleich in seinem Blicke ebenfalls ein stilles Leuchten lag, so war keine Ehrfurcht darin - kannte der Sklave doch keinerlei Form der Furcht, denn wer kein Leben hatte, der brauchte nichts zu fürchten -, sondern höchste Konzentration und allfällig ein Funke Zufriedenheit, war dies doch die einzige persönliche Freiheit, welche der Sklave je sich gestattete: das Sammeln von Sonnenaufgängen. So unterschiedlich sie auch waren - inwendig wie äußerlich, Herr und Sklave, frei und leibeigen, ehrfürchtig und furchtlos - so similär waren sie in diesem Augenblicke, da sie genießend in sich selbst ruhten im Anblick des brennenden Gestirnes. Als auch das letzte Segment der Sonnenscheibe die unscheinbare Trennlinie zwischen den weichen Fluten des mare internum und dem nun pastellfarbenen, von seichten Wolkenfetzen durchzogenen Blau des Himmels hatte überschritten, schien es, als würde die Welt um sie herum nach einigen Herzschlägen des angehaltenen Atems nun diesen entweichen lassen und den Tag mit offenen Armen begrüßen. Auch Gracchus erwachte aus seiner Starre, drückte die Schultern durch und zog die frische Luft ein, schickte sich an, etwas zu sagen. Da jedoch die Prämisse seiner Aussage ihm fehlte, schloss er vorerst den Mund wieder, ließ die Schultern sinken und legte die Stirne in Falten, bevor er einen neuerlichen Versuch wagte, schlussendlich mit differentem, aus dem ursprünglichen Versuch resultierenden Kontext.
"Glaubst du, ... i'h verliere den Verstand, Sciurus?"
"Herr?"
"Wenn irgend jemand dies bestimmen kann, so du, der du allentages um mi'h herum bist. Glaubst du, ich verliere den Verstand?"
"Was bringt dich zu dieser Frage, Herr?" Ein Seufzen entfleuchte Gracchus' Kehle, ehedem er sich zu dem Sklaven drehte und zu einer Antwort ansetzte.
"Abermals will es mir ni'ht gelingen, mich dessen zu entsinnen, welches Datum wir heute haben. Ich kann nicht einmal bestimmen, wie..viele Tage wir noch hier verharren bis zum Aufbruch - drei oder vier, vielleicht nurmehr zwei? Wieso entsinne ich mich nicht daran, wenn ni'ht aus dem Grunde, dass mir allmählich der Verstand abhanden kommt?"
"Es ist nur ein unwichtiges Detail, Herr", schob der Sklave beschwichtigend die Bedenken seines Herrn beiseite. "Die Tage hier sind derart similär, dass es keiner Unterscheidung mehr bedarf, dass zwei Tage mehr dir ebenso fruchtlos und müßig erscheinen wie drei oder vier - wozu also ihnen Bezeichnungen zuweisen?" Gracchus indes ließ so einfach sich nicht überzeugen.
"Dennoch, du weißt es, nicht wahr?"
"Ich bin ein Sklave, Herr, es ist meine Aufgabe, der Einzelheiten gewahr zu sein."
"So? Und was ist dann ... meine Aufgabe?"
Ohne zu zögern, beantwortete Sciurus die Frage seines Herrn, war sein Weltbild doch seit langem unbezweifelt und unumstößlich. "Deine Aufgabe ist es, aus diesen Details ein Gesamtwerk zu arrangieren, etwas größeres daraus zu schaffen, und da es in deiner Herkunft liegt, sehr viele Komponenten zu einem sehr großen Gesamtwerk zu arrangieren, ist es ausgeschlossen, jedes Teilstück im einzelnen stets in Gedanken zu halten, wie es möglicherweise für einen Pleb noch gangbar ist, der aus nur wenigen Einzelteilen die Entscheidungen all seines Lebens fügt. Daher bedingt der Stand auch nicht des Standes wegen die Anzahl der Sklaven um einen Menschen herum, sondern wegen der implizit dadurch gegebenen Aufgabe." Je mehr Worte der Sklave sprach, desto höher hob sich Gracchus' Braue empor, und ein amüsiertes Staunen schob sich über sein Antlitz.
"Dies ist es also, wie du die Welt siehst?"
"Dies ist es, wie die Welt ist", entgegnete Sciurus unbeirrt. Ein Lachen - vergnügt und keinesfalls hämisch - entkam Gracchus' Kehle. Es war eine durchaus interessante Ansicht, aber eben doch nur eine Ansicht, denn schlussendlich gab es nicht die eine, universelle Art, wie die Welt war - zumindest nicht aus Sicht der Menschen -, sondern nur, wie jeder einzelne sie sah.
"Und was wäre, würde ich di'h morgen freilassen? Könntest du dann Großes schaffen, da du so viele Details in dir trägst?"
Es war überaus selten, dass in Sciurus' Miene eine Emotion zu lesen war, selbst sein Herr, welcher wohl die meiste Zeit mit ihm verbrachte, hatte dies kaum noch erlebt, doch mit Gracchus' Worten bezüglich der Freiheit blitzte blankes Entsetzen in seinem Blicke auf, und er eilte sich, die Unsinnigkeit dieser Überlegung aufzuzeigen. "Ich würde immer ein Sklave bleiben und daher nicht zum Leben taugen, da die Fähigkeit Großes zu schaffen mir nicht zueigen ist."
"Hmm, du willst also sagen, du könntest nicht wie all die zahllosen Freige..ge..lassenen überleben?"
"Überleben ja, mich arrangieren auch, doch leben nicht. Ich würde tun, was ich immer tat, meine Dienste anbieten, und da nicht mein Herr für mich Sorge tragen würde, würde ich dies für Geld tun. Doch an meinem Wesen würde es nichts ändern. 'Freigelassener' ist nur der Begriff für einen nutzlos gewordenen Sklaven, den kein Herr mehr haben mag, denn ein Sklave kann nicht zu einem Menschen werden, ebenso wenig wie ein Mensch zu einem Sklaven."
"Aber was ist mit den Sklaven aus den Feldzügen? Sie mögen Barbaren gewesen sein, min...derwertige Menschen, ... aber doch Menschen irgendwie - und denno'h werden Sklaven aus ihnen."
Bestimmt schüttelte Sciurus den Kopf. "Nein, es werden niemals Sklaven aus ihnen. Es sind Gefangene und sie taugen nicht für die Tätigkeiten, die Sklaven verrichten. Sie kosten mehr als sie nutzen, wenn sie nicht überhaupt nur Probleme bereiten. Sieh' dir die Fänge deines Vetters an - Rutger Severus oder Cassim -, sie sind die besten Beispiele dafür. Das einzige, wofür sie taugen ist frisches Blut in die Zuchtlinien zu bringen, doch nachdem sie gepaart wurden, ist es besser, sie zu verwerten." Fasziniert dachte Gracchus ein wenig darüber nach, drehte sich dabei wieder zum Meer hin, dessen blaufarbenes Wogen einen beruhigenden Einfluss auf sein Gemüt hatte. Bis dahin hatte er nie sich tiefgründig mit den possiblen Gedanken eines Sklaven beschäftigt, genau genommen nicht einmal oberflächlich, doch die Ausführungen seines treuen Leibsklaven klangen durchaus plausibel, gerade auch mit dem Hinweis auf Marcus' Souvenire aus Germania und Parthia, welche nicht nur zu nichts taugten, sondern gleichsam stets das gesamte Leben in der Villa Flavia hatten durcheinander zu bringen gewusst, von den Nachwirkungen, an welchen manche der Familienmitglieder ihr Leben lang würden zu tragen haben, ganz zu schweigen.
"Ich werde mir deine Worte merken"
, konstatierte er schlussendlich mit einem leichten Nicken, wandte erneut sich um und schob ein Schmunzeln nach.
"Und so ich sie sollte vergessen, wie dies mir augenscheinli'h zu tun zusteht, ... erinnere mich beizeiten daran. Doch nun, quäle mich nicht länger - welchen Tag haben wir heute, wie lange noch müssen die Tage mir gleichförmig erscheinen?"
"Ante diem quartum Nonas Augustas, Herr." Gracchus atmete erleichtert auf ob der Aussicht auf die baldige Abreise nach Rom.
"So lasse das Frühstück bereiten - je eher der Tag beginnt, desto eher wird er ein Ende finden, desto näher bringt mi'h dies nach Hause." -
Eine Welt zwar bist du, o Rom;
doch ohne die Liebe wäre die Welt nicht die Welt,
wäre denn Rom auch nicht Rom.
Johann Wolfgang von Goethe, Römische ElegienDie Unruhe ob der bevorstehenden Abreise hielt Gracchus auch am Tage vor eben dem bestimmten Tag in ihren Fingern fest gefangen, ließ rastlos ihn werden wie einen Tiger hinter Gittern - obgleich er nicht dazu überging, beständig hin und her zu gehen, sondern nurmehr sein Geist untätig und ruhelos seine Runden drehte -, verdarb ihm den Appetit, verdarb ihm die rechte Muse sich der Dichtung aus Sciurus' Munde zitiert hinzugeben, ließ ihn darben nach der fernen Hauptstadt, ausgedörrt und ausgezehrt, einem Verdurstenden gleich, der - unfähig sie zu erreichen - um die nächste Oase weiß. Wie Sciurus nicht die Anweisungen seines Herrn in Frage stellte, so stellte auch Gracchus die Ausführungen des Sklaven nie in Frage, und dennoch mochte er im Stillen ihn admonieren, da er nicht bereits den gegenwärtigen Tag hatte zur Abreise bestimmt, denn je näher der Augenblick rückte, desto unerträglicher wurde Gracchus das Harren, desto mehr glaubte er, ob des Sehnens zerspringen zu müssen, des Sehnens nach der Familie, nach seinem Sohne und nicht zuletzt dessen nach seiner Gemahlin - welches nicht mehr nur auf mentaler Ebene sich vollzog, sondern, wie Gracchus untrüglich in sich zu spüren glaubte, längstens auch auf körperlicher - mochte Antonia nie die erste Wahl gewesen sein, sein Verlangen zu stillen, die Zeiten hatten untrüglich sich gewandelt, und so auch er. Seit Caius ihn hatte verlassen - und dies mochte er nicht jenem verargen, denn wohl musste sein Vetter gute Gründe ob dessen haben, gleichsam war es desjenigen Glück, was Gracchus in ihrer Beziehung stehts sich hatte erwünscht, mochte dies auch sein eigen Unglück bedeuten, und ohne genau zu wissen, wo jener weilte, ohne danach zu begehren, dies genauer zu wissen, vermutete er Aquilius in den Armen eines Geliebten, eines jüngeren als er selbst, in perfekter platonischer Liebe vereint, oder aber gar seiner Fischerin, wohl aber in solch inniger Umarmung, dass er selbst Caius längst musste vergessen sein; seit dieser Zeit nun, da die letzte Berührung seines Geliebten auf seiner Haut hatte allmählich sich verflüchtigt, da das letzte Wort seiner Liebe war leise verklungen, verspürte er einen klaffenden Spalt in sich, eine tiefe Leere, welche beständig danach gierte, verdrängt zu werden, und die Absenz zu seiner Gemahlin, garniert mit der generalisierten Sehnsucht nach der perfekten Familie in Rom, gereichte dazu, dieses Vakuum mehr und mehr mit einem Begehren nach jenem idealisierten, stilisierten Bild der perfekten Claudia anzufüllen, welches sich längstens über den Gedanken eines harmonischen Beieinanderseins hinaus auf eine körperliche Lust hatte ausgeweitet. Wenn unzählige Männer eine Frau konnten begehren - allfällig sogar seine Frau - weshalb sollte nicht auch er das brennende Feuer in seinem Leibe mit ihrer Hingebung löschen, weshalb sollte nicht er seinen Leib mit dem ihren vereinen, um sein Begehren zu stillen? Viel zu lange kreisten bereits seine Gedanken um eben diese Causa, bekräftigten darob nur das Sehnen, welches erneut das Verlangen entfachte, so dass beständig die Schlange selbst in den Schwanz sich biss. "Soll ich fortfahren, Herr?" durchbrach Sciurus schlussendlich das Rund, schnitt die Schlange entzwei, der bisherig die remedia amoris des Ovid hatte rezitiert, um seinem Herrn gedankliche Zerstreuung zu verschaffen, nun aber dessen gedankliches Abdriften hatte bemerkt.
"Fort..fahren?"
, echote Gracchus fragend, der beiden Teile Sinn einzeln in freudiger Erwartung vernehmend. "Mit der remedia amoris", zerstörte sogleich jedoch Sciurus jegliche Hoffnung. Ein Seufzen unterdrückend, ohnehin kaum empfänglich für die äußere Welt und darob nur minder an jenem Geschehen interessiert, nickte Gracchus abwesend.
"Gewiss."
Während der Sklave seine Stimme erhob, in wohlklingender Couleur mit den elegischen Ratschlägen des Ovid fortfuhr, zerstreuten Gracchus' Gedanken sich kaum, weilten weiter im Zentrum der Welt. -
Obgleich die Sonne ein Stück bereits über den Zenit war hinaus gewandert, hatte noch immer die mittägliche Hitze das Land in ihrem festen Griff, überzog das Leben mit einer trägen Schwere, welche jenen, die Tätigkeiten zu verrichten hatten, nur allzu schnell den Schweiß auf die Stirne trieb, jene anderen aber in Untätigkeit ließ verharren, da jede Regung in dieser Hitze bereits zu viel schien. Gracchus, welcher zu keinerlei Tätigkeit sich genötigt sah, hatte in die schattigen Kolonnaden des Peristylium sich zurückgezogen, einige sauer eingelegte Pflaumen goutiert, und ließ fortwährend seine rastlosen Gedanken umhertreiben, musste allmählich jedoch der dumpfen Schwere der Hitze sich geschlagen geben, welche auch über ihn sich legte, auf seine Lider hinab drückte und hinein sinken ließ ihn ...
~~~ in Morpheus' Reich ~~~
Umrahmt vom güldenen Schein der lieblichen Sonnenstrahlen war er eine stolze, blass cremefarbene Seerose im Impluvium der Villa Flavia, streckte aus seine Blätter über und ließ sich treiben auf den schaukelnden Wogen des Wassers, welches sanft sich kräuselte durch den beständig hinabrinnenden Strahl aus des Faunus' Amphore, welcher indes die Züge des Caius trug und statt des Gefäßes nur seinen Phallus in Händen hielt. Er reckte sich und strahlte in seiner schönsten Weise, um ihr zu gefallen, Antonia, welche hinab sich beugte, ihn vom schimmernden Nass zu pflücken, und zu ihren zarten roséfarbenen Wangen empor hob, seinen Odeur in sich aufzunehmen. Sanft strich er über ihre weiche Haut, liebkoste ihre Lippen und schmiegte sich an ihre epiphane Gestalt, bis dass ehe sie seinen Stängel kostete, er hinabwandelte durch ihren Schlund, ganz in ihr aufzugehen. Warm und wohlig umfasste die Schwärze ihres Leibes ihn, in welcher er friedvoll schaukelte und erblühte zu neuem Sein, in ihr mit ihr vereinigt, umfasst von Harmonie und Einigkeit.
~~~
Als er die Augen wieder öffnete, suchte Gracchus sich zu erinnern, an was eben er noch hatte gedacht, doch seine Gedanken waren ihm so verlustig wie die Erinnerung an jene seichten Tagträume, in welche er war für kurze Zeit hinfort geschlummert. Träge beugte er sich nach vorn, den Kelch mit gewässertem Wein zu greifen, einen Schluck daraus seine Kehle hinabrinnen zu lassen, woraufhin ein wenig er sein Gesicht verzog, war doch die Flüssigkeit längst unschmackhaft warm geworden. Er stellte das Gefäß zurück und musste nur stumm darauf weisen, dass sogleich ein Sklave heransputete, die Kanne voll des abgestandenen Getränkes auszutauschen gegen frischen, gekühlten Wein. Noch ehe jedoch der dienstbare Geist war zurückgekehrt, war bereits die hitzige Schwere erneut auf ihn hernieder-, sein Leib zurück- und Gracchus' Geist hinabgesunken ...~~~ in Morpheus' Reich ~~~
Ein See war sie, wohlig warm und weich, allfällig gar der oceanos, der ihn umschloss in sanften Wogen, über den Grund hinweg trug, durch tanzende Ranken und schwankende Algen, durch transluzente Kegel hindurch, welche die in den einzelnen Tropfen glimmende Sonne durch das Wasser warf, durch opaken Schatten und Schimmern, tief in sie hinein. In wirbelndem Strahle, einer Schlange gleich, sog sein schuppiger Mund jeden Partikel ihrer selbst in sich, goutierte inwendig ihr Äußeres, bis dass er selbst in ihrem Schoße zu liegen kam, tief hineinwühlte sich in ihren sandigen Grund, umschlungen von güldenem Staub. Im Tönen kaskadierender Euphorie zerschmolz sein Selbst, zog sich zu endlosen Spiralen durch das Blass am fernen Horizont, bis dass ihrer Lippen Rot sich berührte, dort, wo der Fels aus dem perlenden Nass seine Spitze an das schimmernde Rund der Sonne schmiegte, wo das seichte Klingen in wolkengeschwängerten Grunde toste.
~~~
Die warmen Strahlen der Sonne, welche zwischen zwei der Säulen sich hindurch schoben, waren es, welche Gracchus diesmalig aus den Grenzgebieten des Traumreiches zu bergen wussten. Blinzelnd suchte er am Himmel nach Anzeichen der verrinnenden Zeit, doch noch immer war es viel zu früh am Tage, lagen noch zu viele lange Stunden vor ihm. Ein Seufzen entfleuchte seiner Kehle, ehedem er den Wein griff, welcher nun zumindest von agreabler Temperatur war. -
[Blockierte Grafik: http://img268.imageshack.us/img268/6853/pelleus.png] Peleus
Hatte sich Peleus in Rom noch auf die Aussicht gefreut, nach Achaia zu reisen und so eine Art Urlaub spendiert zu bekommen, hatte sich das Ganze doch zu einer etwas anstrengenderen Episode seines Lebens entwickelt. Nicht, weil er sich besonders beeilt hätte, nicht, weil er ständig in Schwierigkeiten geraten war. Nein, es war schlicht das Wetter, dass ihm zu schaffen machte. Bei Hermes, gegen Athen war es in Rom ja richtig angenehm.
Mit schiefem Grinsen bedachte er das Pferd, das ihn zur Villa Flavia gebracht hatte mit einem Blick. Das arme Vieh schwitzte auch nicht schlecht. Doch darum würden sich gleich andere kümmern. Eher störrisch folgte das Tier seinem zeitweiligen Herrn zum Hintereingang, wo der Bote seine beiden Briefe los wurde, etwas von 'Pferd versorgen' murmelte und sich eiligst zur Küche durchfragte.
Bevor Peleus jedoch das Ziel seiner persönlichen Reise erreichte, kamen wohl die Briefe beim Hausherrn an.[FONT=john handy LET,Staccato222 BT,comic sans ms]SALVE PAPA,
WIE GEHT ES DIR? STREITEN SICH DIE LEUTE BEI DIR NOCH? RATE WAS ICH SCHON KANN!
ICH HABE SCHON VIEL GELERNT. GLAPHYRA HAT MIR DIE GESCHICHTE VON UL I X ES ERZÄHLT. ABER ICH HABE AUCH ZEIT ZUM SPIELEN. ICH HABE NÄMLICH DEN TEMPEL VON IUPPITER AUF DEM KAPITOL GEBAUT. NUR DIE STATUE HABE ICH NICHT RICHTIG ABBILDEN KÖNNEN WEIL ICH KEINE SITZENDE FIGUR HABE DIE AUSSIEHT WIE IUPPITER. ICH HABE AUSSERDEM EIN HOLZPFERD BEKOMMEN.
DANKE AUF FÜR DEIN GESCHENK. ES GEFÄLLT MIR SEHR. HAST DU ES NUN ERRATEN? ICH HABE SCHREIBEN GELERNT UND DIESE ZEILEN SELBST VERFASST.
MÖGEN DIE GÖTTER IMMER ÜBER DICH WACHEN.MINIMUS
[/FONT]
Manius Flavius Gracchus, Villa Rustica Flavia, bei Athen, AchaiaTeuerster Gemahl,
Wochen und Monate zogen vorüber, Sonne und Mond tanzten unablässig ihren Reigen, seit du Rom verlassen musstest. Und so vergeht auch kein Tag, keine Stunde, welche nicht schwer auf meinem Herzen lastet, sorge ich mich doch unablässig um dein Wohl im fernen Achaia, das mir nie weiter von der urbs aeterna entfernt schien, als dieser Tage. Doch lässt du uns über deinen genauen Gesundheitszustand im Ungewissen, was mich das Schlimmste befürchten lässt. Wie geht es dir, wie verläuft die Heilung, wirst du bald, wirst du überhaupt zurückkehren können? Jene Fragen treiben mich um, lassen mir keine Ruhe und halten mich wach, auch da ich dein kleines Ebenbild stets vor mir sehe und an dich erinnert werde.
Niemals hätte ich für möglich gehalten, wie trübe und trist Tage sein können, die hell im Licht der Sonne strahlen, wie unvollständig eine Münze ist, der eine Seite fehlt. Ich sollte es wohl nicht schreiben, sollte dich nicht zusätzlich mit meinen albernen Klagen belasten, doch ich vermisse dich, wünschte, du wärest niemals fortgegangen und hättest dich stattdessen hier in Rom der Rekonvaleszenz hingegeben.Nichtsdestotrotz wird es dich freuen zu hören, dass dein Sohn sich prächtig entwickelt. Noch nie habe ich ein so aufgewecktes, lernbegieriges und kluges Kind gesehen, denn kein Tag vergeht, an dem er mich und seine Lehrer nicht mit Fragen überhäuft und stets immer mehr wissen möchte. Doch sehe ich mich gezwungen, dir einige Sentenzen in dem Brief, den er dir schickte und welcher gleichzeitig mit dem meinen angekommen sein sollte, zu erläutern.
Ich hoffe du siehst es mir nach, doch ich verschwieg Minor den wirklichen Grund deiner Abreise. Zu verstörend, zu aufwühlend glaubte ich, wäre die Wahrheit. Als ich ihm deinen Brief vorlas, fragte er natürlich, warum du fortgegangen bist, was dich so überstürzt aufbrechen ließ, dass du nicht einmal ein Wort des Abschieds an ihn richten konntest. Ich log, um seinet- und um deinetwillen.
In seiner Epistel fragt er dich, ob 'die Leute sich noch streiten'. Diese Frage beruht auf dem, was ich ihm erzählte. Für ihn bist du im Auftrag des Imperators unterwegs, um den Frieden zu sichern, um Streit zu schlichten. Vergib mir diese Notlüge, doch sah ich keinen anderen Weg. Anstatt sich nun in Sorge um dich zu grämen, ist er stolz, dass sein Vater für eine wichtige Mission ausgewählt wurde. Und ist es so nicht besser?Obgleich Minor dir natürlich von seinen Erlebnissen selbst berichtet hat, möchte ich dir dennoch nicht vorenthalten, was sich in Rom und in der Villa in jüngerer Vergangenheit zugetragen hat.
Furianus ist zurückgekehrt, wie du sicher schon gehört hast. Als ältester Sohn von Felix riss er umgehend das Ruder an sich und Aristides schien nicht allzu unglücklich darüber. Doch will ich ihm keinen Vorwurf machen, schließlich ist Furianus ja in der Tat derzeit das rechtmäßige Oberhaupt der Familie. Aber mache dir keine Sorgen, bislang hat er nichts getan, wofür man ihn vom tarpeiischen Felsen stoßen könnte und so nehme ich an, dass seine Zeit in Hispania alle plebejischen Züge, die er einst hatte, getilgt hat. Auch wenn im Senat wohl über einige Unstimmigkeiten während seiner Amtszeit debattiert wird. Derzeit führt er desweiteren einen Prozess gegen diesen - ich scheue mich ja, dieses Subjekt so zu bezeichnen - Senator Germanicus Avarus. Der Germanicer scheint der Ansicht zu sein, dein Neffe habe ihn verleumdet. Da der Prozess jedoch noch im Gange ist, kann ich dir hierzu leider nicht viel mehr berichten.
Generell ist es im Hause momentan ohnehin eher still. Du weißt, wie es ist, hin und wieder kommen entfernte Verwandte, bleiben für einige Zeit und verschwinden schließlich wieder. Ich kann es ihnen nicht verdenken, ist Rom doch gegenwärtig mehr ein Schmelztiegel, als eine Stadt. Doch was klage ich, in Achaia sind die Temperaturen sicher ähnlich unangenehm.
Celerina ist, soweit ich das beurteilen kann, nun seit geraumer Zeit glücklich mit Senator Aurelius Corvinus verheiratet. Hin und wieder treffe ich sie und sie scheint äußerst zufrieden mit dieser Verbindung zu sein. Auch ihre Entführung hat sie nun wohl einigermaßen verarbeitet, sodass sie nicht mehr Tage allein in ihrem Gemächern verbringt.
Jene Subjekte übrigens, die die arme Epicharis als Geisel mit sich schleppten, sind nun gefangen und zurück in der Villa. Doch sorge dich nicht, sie sind sicher eingesperrt in jenen finsteren Löchern, die für Abschaum dieser Art vorgesehen sind und warten dort lediglich auf ihre angemessene Strafe. Marcus ist, wie du dir denken kannst, alles andere als zimperlich mit ihnen. Und ich muss gestehen, ich hätte ihm eine derartige Härte nicht zugetraut, wirkte er doch immer wie ein gutmütiger Onkel auf mich.Doch genug von den heimischen Sorgen. Belaste dich nicht damit, denn auch wenn du als Bewahrer der Familie nicht hier bist und eingreifen kannst, so tun wir alle unser Bestes, um die Flavia weiterhin so zu schützen, wie du es stets getan hast. Ich hoffe, diese Nachrichten aus der Heimat haben dich vielmehr erfreut, dir ein wenig die trüben Gedanken vertrieben, alle finsteren Wolken der Ödnis beiseite geschoben und die Sonne dein Gemüt erhellen lassen.
Und auch wenn in Rom alles seinen geregelten Gang geht, auch wenn ich weiß, dass ich dich nicht um etwas bitten darf, das noch nicht möglich ist, so hoffe ich, dass du bald Achaia hinter dir lassen kannst und zu mir, deinem Sohn und deiner Familie zurückkehrst.
So schließe ich mit der Versicherung, dass du fortwährend einen Platz in meinen Gedanken und in denen Minors einnimmst; Dass wir stets für dich beten und die Götter darum ersuchen, dir ihre Gunst und ihren Schutz zu gewähren.
In Liebe,
[Blockierte Grafik: http://img139.imageshack.us/img139/7316/unterschriftantonia.png]
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Der Abend hatte bereits sich angeschickt, seine schattige Decke über das Land zu breiten, belegte die Welt mit seinem kühlen Hauch, welcher nach der beharrlichen Hitze des Tages überaus willkommene Abwechslung bot, so dass Gracchus nicht im Triclinium sein abendliches Mahl - das vorerst letzte in Achaia - zu sich nahm, sondern umsäumt von den Kolonnaden des Peristylium, für einige letzte Stunden den Ausblick auf das endlose Meer genießend, welches so sehr dazu war geeignet gewesen, seine Gedanken darin versinken zu lassen. Genüsslich kaute er an einem Tintenfisch, garniert mit einer Tunke aus Senf, Gurke und Pfeffer, als Sciurus aus dem Gebäude trat. "Nachrichten aus Rom, Herr, aus der flavischen Villa." Augenblicklich stockte Gracchus, blickte auf und schluckte eilig den Bissen hinab.
"Aus Rom? So eile dich, lies ... vor!"
Mit aller Ruhe der gebührenden Sorgfalt öffnete Sciurus zuerst die Tabula und begann zu lesen. "Salve Papa ..."
"Salve Papa?"
, unterbrach sogleich Gracchus den Sklaven und richtete ein Stück weit mehr sich auf.
"Der Brief ist für mi'h? Dann ist er von Minor, von meinem Sohn!"
fügte er hinzu, als würde Sciurus den Jungen nicht kennen.
"Gib ihn mir!"
Er streckte die Linke aus und der Sklave trat heran, den Brief zu übergeben. Vor Aufregung zitterte Gracchus' Hand, beinahe als müsse er vor dem Senat sprechen oder ein großes Opfer zelebrieren, als er die wächserne Tafel entgegen nahm und auf die Lettern hinab blickte. Ein wenig ungelenk wirkten sie, die Striche nicht stets gerade, die Bögen nicht stets gerundet, die Ts ein wenig kurz geraten, die As dagegen übermäßig weitläufig, und ein wenig erinnerten sie ihn an die ungelenke Schrift, welche er selbst mit der Linken fabrizierte, doch gleichsam wohnte ihnen eine infantile Schönheit inne, die unschuldige Harmonie der Novität und Unverbrauchtheit, welche eine Woge stiller Freude und unbändigen Stolzes durch Gracchus' Brust fließen ließ, der konnte kaum ein schöneres Schriftstück sich vorstellen als dies, welches Minor musste mit eigener Hand geschrieben haben.
"Salve Papa"
, begann er nun selbst halblaut zu lesen, ein Schauer heimlichen Glückes verspürend, Empfänger solch einer Anrede zu sein.
"Wie geht es dir? ... sich die Leute ... noch? Mhm ... dir ... Streiten si'h ... bei ... mhm ..."
Die in Konzentration zusammen gezogenen Brauen lösten sich mit einem Seufzen, welches Gracchus Kehle entfleuchte. Er war sich sicher, dass er jeden einzelnen Buchstaben, jedes einzelne Wort las, doch letztlich wollte nicht alles in der rechten Reihenfolge zu ihm gelangen, verloren sich einzelne Fragmente auf dem ihm bisweilen endlos weit erscheinenden Wege aus der äußeren Realität bis hinein in sein inneres Bewusstsein.
"Nein, das hat keinen ... Zweck. Lies du es, Sciurus."
Ein wenig enttäuscht ob der eigenen Unfähigkeit, die Sätze seines Sohnes in ihrer Gänze und korrekter Wortfolge zu lesen, reichte er die Tafel zurück an Sciurus, welcher erneut begann zu lesen. "Wie geht es dir? Streiten sich die Leute bei dir noch?" Es war der zweite Satz, welcher dazu gereichte, Gracchus' Braue empor zu heben, da er nicht konnte eruieren, auf was sein Sohn sich mochte beziehen. Der Sklave indes fuhr fort. "Rate, was ich kann! Ich habe schon viel gelernt." Dessen war Gracchus stets sich versichert gewesen, gleichsam trieb die Bestätigung dessen väterlichen Stolz durch seine Sinne. "Glaphyra hat mir die Geschichte von Ulixes erzählt." Ein feines Lächeln umspielte Gracchus' Lippen, da nun mit Odysseus sich des Rätsels Lösung zu bieten schien, denn augenscheinlich erachtete Minor diesen Epos als gegenwärtiges Geschehen, so dass er davon musste ausgehen, Achaia sei von Krieg und Streitereien durchzogen. Obgleich dies selbstredend eine überaus irrationale Annahme war, so schien sie doch für ihn nachvollziehbar, war einerseits sein Sohn doch ein Kind und darob mit blühender Phantasie gesegnet, andererseits entsann Gracchus sich gut daran, dass er selbst noch als Knabe sich bei allen Überfahrten vor einer Begegnung mit Skylla oder Charybdis hatte gefürchtet, im festen Glauben, diese hausten tatsächlich in den Tiefen des Meeres - gleichsam dies nicht gänzlich mit dem vorliegenden Falle war komparabel, war er sich doch auch dieser Tage noch nicht gänzlich dessen sicher, dass die Bestien nur ein Mythos waren, denn schlussendlich konnte niemand genau bestimmen, welch ungeheuerliche Monströsitäten in der unendlichen Tiefe sich mochten verbergen. "Aber ich habe auch Zeit zum Spielen. Ich habe nämlich den Tempel von Iupiter auf dem Kapitol gebaut. Nur die Statue habe ich nicht richtig abbilden können, weil ich keine sitzende Figur habe, die aussieht wie Iupiter." Die Erwähnung der Bautätigkeit erweiterte nur das Lächeln, zugleich keimte mehr noch ein wenig Stolz in Gracchus' auf, denn nichts geringeres suchte sein Sohn bereits sich in seinem zarten Alter, denn das höchste und beste - augenscheinlich war er in besten Händen unter Anleitung und Aufsicht seiner Mutter, was indes gleichsam ein wenig Gram hervorrief in ihm, schien seine Absenz doch keinerlei Nachteil für den Jungen zu bergen, was ihn einerseits zwar erleichterte, andererseits sich ein wenig überflüssig fühlen und ein wenig Besorgnis ob der Reaktionen auf seine Rückkehr empfinden ließ. "Ich habe außerdem ein Holzpferd bekommen. Danke auch für dein Geschenk! Es gefällt mir sehr." Diese Worte seines Sohnes aus des Sklaven Munde wischten sogleich wiederum jenes Zaudern hinfort, zeigte doch, dass auch Gracchus' Einfluss dem Kinde zugute kam, selbst jener aus der Ferne. "Hast du es nun erraten? Ich habe Schreiben gelernt und diese Zeilen selbst verfasst." Unbändiger Stolz nun war es, welcher Gracchus bei Erwähnung dieser ihm bereits durch den Brief selbst bewussten Tatsache beinahe bersten lassen schien, bargen doch Lesen und Schreiben die größten Abenteuer, welche er selbst sich vorzustellen vermochte, bargen die blühendste Zukunft und das reichhaltigste Leben, und dass nun Minor fähig war, dies alles zu goutieren, versetzte ihn in ein regelrechtes Entzücken. "Mögen die Götter immer über dich wachen. Minimus." Mit einem seligen Ausdrucke über seinem Antlitz lehnte Gracchus sich zurück und betrachtete zufrieden den wolkenlosen Himmel über sich, überschwemmt von väterlichem Stolz und Euphorie. Es war Zeit, zurück zu kehren, höchste Zeit. -
Ein wenig ließ Sciurus seinen Herrn in Versunkenheit schwelgen, ehedem er sich räusperte. "Soll ich fortfahren mit dem zweiten Brief, Herr?" Verwundert und ein wenig derangiert blickte Gracchus auf, als würde erst nun ihm gewahr werden, dass der Sklave noch immer ihm gegenüber stand, verwundert indes über das zweite Schreiben, dessen Existenz ihm erst nach einigen Augenblicken wurde wieder bewusst, gleichsam konnte dies ohnehin kaum mehr den Brief seines Sohnes übertreffen, beinhaltete vermutlich nur Informationen geringerer Bedeutsamkeit.
"Selbstredent."
Das Siegel brechend begann der Sklave hernach zu lesen. "Teuerster Gemahl." Noch eben in desinteressiertem Verzücken über den Brief seines Sohnes schwelgend, gereichte jene Anrede augenblicklich dazu, Gracchus' Aufmerksamkeit auf das zweite Schriftstück zu forcieren. Wie Salve Papa ihn bezüglich nur aus der Hand eines einzigen Absenders konnte stammen, so bot auch die Anrede Teuerster Gemahl nur eine einzige Possibilität, wer den Brief hatte verfasst, und der Gedanke an eben jene Urheberin förderte eine eigentümliche Mischung aus Beklemmung, Freude, Nervosität und Begierde in ihm zu Tage. Die Worte ob ihrer Sorge ihn bezüglich vernehmend, ihrer durch ihn ausgelösten Ungewissheit, ihrer Sehnsucht, ließen ein überaus schlechtes Gewissen in ihm aufkeimen, denn kaum wohl hatte bisherig er vermutet, dass seine Absenz sie würde derart aufwühlen, hatte stets noch immer geglaubt, es wäre allfällig ihr sogar ein leichteres ohne ihn, gleichsam verstärkte ihr Sehnen das seinige, und wäre nicht bereits der Tag der Abreise auf den morgigen bestimmt, so hätte augenblicklich er dies sein müssen. Indes kam Gracchus gleichsam zu Bewusstsein, wie formvollendet sie ihre Worte wählte, wie harmonisch ihre Sätze aneinander waren gereiht, welch observable Formulierungen ihre Gedanken zierten, und damit gleichermaßen, wie perfekt seine Gemahlin war, wie wenig er diese Ehe hatte verdient, dass er solcherlei nicht einmal hatte bemerkt in all den Jahren, welche bisherig sie nebeneinander hatten her gelebt. Die Erwähnung seines Sohnes hernach brachte erneut den väterlichen Stolz über sein Gemüt, konnte jener akkurate und gewissenhafte Verstand seiner Gattin doch nicht hinters Licht geführt werden, und so sie versicherte, dass Minor ein außergewöhnliches Kind war, so war diese Wahrheit unumstößlich. Erst mit den nächsten Worten geriet die Unfehlbarkeit Antonias für einen Augenblick lang ins Wanken, als der Sklave von der Notlüge las, "ich log, um seinet- und um deinetwillen." Ein Kloß bildete sich in Gracchus' Kehle und er schloss seine Augen für einen Moment, die Ungeheuerlichkeit der Tat nicht blicken zu müssen, deren Schuld nicht etwa bei seiner Gemahlin er sah, sondern bei sich selbst. Unverantwortlich war es gewesen, seinen Sohn ohne ein Wort der Erklärung zurückzulassen, seine Gattin indes mit sich und der Verantwortung allein, sie regelrecht zu zwingen, der Notwendigkeit einer Lüge nachzugeben, denn was sonst hätte sie tun sollen? Er hatte sie verdorben, wie er seinen Sohn hatte verdorben, dessen Gemüt bereits im zarten Alter seiner Kindheit würde mit der Hässlichkeit einer Lüge konfrontiert werden, mit einer doppelten Lüge indes, würde Gracchus seinem Sohn doch nicht erklären können, dass Antonia sich hatte solcherlei ausgedacht, sondern würde dies auf seine eigenen Schultern nehmen, dass die Unfehlbarkeit, die Untadeligkeit der Mutter würde gewahrt bleiben - würde die Idee der tugendhaften väterlichen Figur doch ohnehin in sich zusammenbrechen unter der Enttäuschung Minors, dass sein Vater nicht etwa in wichtiger Mission im Namen des Kaisers war unterwegs gewesen, sondern nurmehr seinen eigenen Unzulänglichkeiten sich hatte hingegeben. Über jene desperaten Gedanken hinweg tangierten die Geschehnisse in Rom Gracchus nur peripher, nahm er nur kaum den Prozess seines Vetters, welcher eigentlich sein Neffe war, zur Kenntnis, verpasste gänzlich die Erwähnung Celerinas Ehe, deren Existenz ihm war verlustig gegangen - und ihm somit auch diesen Tages nicht wurde gewahr -, kehrte mit seiner Aufmerksamkeit erst wieder vollständig zu den Worten seiner Gemahlin aus dem Munde des Sklaven zurück, als jene die Härte Aristides' erwähnte, welche ihn selbst kaum nur erstaunte, war sein Vetter doch nicht von ungefähr Sohn seines Vaters und Bruder seines Bruders, zog die Unerbittlichkeit der Flavia durch seine Adern, ebenso wie deren Wahn, welcher in beherrschter Weise nicht nur für Megalomanie konnte Sorge tragen, sondern gleichsam für scharfsinnige Stärke, wenn dies vonnöten war. Die abschließende Hoffnung Antonias brachte sein schlechtes Gewissen zurück, gleichsam Erleichterung, dass nicht mehr lange sie musste sehnen, dass die räumliche Distanz zwischen ihnen bald würde überwunden sein. "In Liebe, Antonia", schloss der Sklave und blickte auf zu seinem Herrn, welchen bei diesem Gruße die eigene Sehnsucht erneut überfiel. Er wusste, dass es nichts würde bringen schon am heutigen Abend aufzubrechen, denn das Schiff, welches ihn nach Italia würde übersetzen, würde nicht eher ablegen, gleichsam war er sich dessen sicher, dass nach diesen Briefen er würde die halbe Nacht keinen Schlaf finden. Allfällig würde Cadipolos Calimeres' Sud aus Hypericum und Humulus ein wenig Ruhe ihm bringen, doch selbst die Aussicht auf die bevorstehende Schifffahrt, wie auch die lange Reise würde ihm nicht die rastlose Vorfreude auf die Rückkehr nehmen können. -
Die morgendliche Sonne tauchte das sommerliche Land in ein weiches, güldenes Licht, belegte das unermüdlich rauschende Meer mit einem schillernden Glanze und lockte nicht nur Vögel aus ihren Nestern hervor, den Tag mit frohlockendem Zwitschern zu preisen, sondern auch einen kleinen Reisetross aus der Villa Rustica Flavia, der auszog, das Zentrum der Welt zu erreichen. Zwei Bewaffnete waren es, einer Sänfte voraus, welche von acht Sklaven wurde getragen und von einem flankiert, zwei bewaffnete Bedienstete hernach, sodann eine von vier Sklaven getragene offene Sänfte beladen mit Gepäck - wenig nur, darunter Geschenke für die Familie - und noch einmal zwei Bewaffnete zuletzt - obgleich in den Grenzen des zentralen Imperium Romanum kaum sich Räuber am Tage auf die Straße wagten, gab es faules und unzufriedenes Pack doch allerorten, selbst in Rom, und so gewiss auch in den ländlichen Gefilden Achaias und Italias. Erst als die Sänfte mit dem Herrn darin schon einige Augenblicke hinter den sanft geschwungenen Hügeln war verschwunden, schickte der Verwalter der Landvilla sich an, ein letztes Mal für die kommende Zeit das Haus in Hektik zu versetzen, dass alle Zimmer gereinigt, alle Flure geschrubbt und alles Geschirr wurde poliert. Eine solche Geschäftigkeit wie zuletzt, nachdem in relativ kurzer Folge erst der Herr Lucius Furianus und bald hernach der Herr Manius Gracchus ihre Wunden hatten in Achaia geleckt, war sonstig in der gesamten Dekade zuvor zusammengenommen diesenortes nicht aufgekommen. Als zum Nachmittage hin die Arbeiten allmählich waren beendet, das Leben der Villa sich zurückzog in jenen Trakt, welcher den stets anwesenden Sklaven war vorbehalten, und in die Seitengebäude, wo neben dem Verwalter und seiner Familie einige weitere Freie lebten, welche für die umliegenden Ländereien Sorge trugen, schien das gesamte Haus ob der wohltuenden Ruhe aufzuatmen, gleichsam zurück in jenen Schlaf zu sinken, aus welchem es durch die Flavier war herausgerissen worden.
~ finis praecursorius ~
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Sisenna Iunius Scato
Hat das Thema aus dem Forum Restliche Provinzen des Imperiums nach Achaia verschoben.
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