Akademie des Marcus Achilleos

  • Immer schneller löste sich die Haut des Apfels in einem langen, hauchdünnen Band von der sich drehenden Frucht. Entweder Achilleos' Worte verliehen Alsuna diese Präzision, oder die wunderbare Schärfe des Messers, oder die Sklavin hatte in ihrem Leben bislang nichts anderes gemacht als Obst zu schälen. Die Form der in der Natur gewachsenen Kugel wurde fast vollkommen beibehalten, allerdings sah es mehr als einmal so aus, als müsste die Germanin sich im nächsten Augenblick die Klinge tief in den Daumen schneiden. Doch nichts dergleichen geschah, nichts tat sich, außer dass wieder ein Apfel aus seiner Schale trat als bestünde sie aus feiner Seide.


    Ohja, seine Worte beruhigten sie wirklich unglaublich. Jetzt fühlte sie sich in dieser arenagleichen Anlage gleich um ein Vielfaches sicherer, wenn ihre Augen alle paar Herzschläge die Mauern abspähten auf der Suche nach Eindringlingen. Trotzdem, eine zu niedrige, ungesicherte Mauer war eine Sache, ein beständig offen stehendes Tor eine völlig andere. Mochte es mit ihrem Stand zusammenhängen, doch ein derartiges Zeichen der 'Ehre' empfand Alsuna vornehmlich als Einladung für herumlungernde, gelangweilte Diebe und Schläger. Und davon gab es doch gerade in dieser Gegend mehr als genug. Es musste noch nicht einmal etwas Spektakuläres sein; betrunkene Obdachlose oder neugierige Störenfriede genügten bereits vollkommen. Die standen dann plötzlich mitten im Hof oder in den Waschräumen oder im Schrein. Man musste ständig über die Schulter schauen. Da sollte man nicht paranoid werden!
    Aber sollten sie nur kommen, so wie ihr werter Herr sie gerade herausforderte. Wenn sie Glück hatten, befanden sich er und sein Schwert auch gerade gar nicht zu Hause, sondern im Museion oder in der Stadt oder bei der Erwiderung hübschen Damenbesuchs. Dann hätten sie es gleich noch eine ganze Ecke einfacher, wenn sie nämlich nur auf eine einsame Sklavin trafen, der so langsam die Obstmesser ausgingen.


    Ihre Kiefer pressten sich fast schmerzhaft aufeinander und ihre Schälgeschwindigkeit schien sich flüchtig noch einmal zu erhöhen, ehe das Messer am Stiel der Frucht angekommen war und die feine Schale zu ihrem Vorgänger auf das Tuch fiel. Kurz hielt Alsuna inne und umfasste den Griff in ihrer Hand so fest, dass die Fingerknöchel hervortraten, ehe sie sich wortlos auch dem letzten Apfel zuwandte. Solange sie mit etwas arbeiten könnte, wäre hoffentlich alles wunderbar.
    Das dachte sie zumindest. Als Achilleos dann aber plötzlich meinte, eine 'galante' Themenänderung herbeiführen zu müssen, merkte Alsuna gerade noch rechtzeitig, dass dies in Kombination mit dem Fruchtsaft am Messer keine gute Ausgangslage darstellte. Und bevor sie sich vor seinen Augen doch noch tölpelhaft in die Finger schnitt, ließ sie die kleine Klinge lieber mit einem leisen Fauchen in den Apfel eindringen, wo sie auch noch steckte, während die Germanin sich mit nun betont langsamen Bewegungen die Hand am Tuch abtrocknete.


    Nach einem tiefen Atemzug glaubte sie, relativ sicher sprechen zu können, wobei sie nicht umhin kam, eine kleine Nuance Schärfe in die gewohnte Unterwürfigkeit einfließen zu lassen.
    "Deine Worte mögen richtig sein, Herr, aber mir bereitet der Gedanke Sorge, dass Eindringlinge womöglich dein Eigentum entwenden oder zerstören könnten, wenn sie auch nicht dich direkt angreifen. Und du verstehst sicher wenn mir, die ich dein Eigentum bin, eine solche Vorstellung Angst einjagt. Natürlich wird es mir helfen, mich an diesen Satz 'Wer unbedingt sterben will, der möge sterben.' zu erinnern, wenn ich mit aufgeschnittener Kehle hier im Staube des Hofs liege oder auf meinem Lager neben dem offenen Tor oder im Badezimmer, wo man mich zuvor noch geschändet hat, aber nichtsdestotrotz werde ich gleich nach dieser wertvollen Erinnerung vermutlich tot sein und dir nicht mehr dienen können."
    Da sie sich während jenes über ihre Lippen floss nicht groß mit dem Füllen ihrer Lungen beschäftigt hatte, benötigte Alsuna im Anschluss daran erneut ein tieferes Luftholen, ehe sie das Messer wieder mit einem entschlossenen Ruck aus dem Apfel zog und mit dem Schälen fortfuhr, welches nun aufgrund des Schlitzes ein wenig komplizierter ausfiel.
    Wieder in ihrer normalen Tonart fügte die Germanin endlich noch hinzu:
    "Mein Flötenspiel ist wahrscheinlich nur durchschnittlich und nicht mit dem deinen zu vergleichen."

  • So ganz ohne Talent zum Kochen war Alsuna scheinbar nicht. Jedenfalls schälte sie die Äpfel wie ein Profi. Das war schon mal gut, dann brauchte ich mir darum keine Gedanken zu machen. Wenn ich nur wüsste, woran sie dabei dachte, denn es war schon zu erkennen, dass ihr etwas durch den Kopf ging. Dann teilte sie glücklicherweise ihre Gedanken. Es gefiel mir, dass sie offen sprach und diese leichte Schärfe in ihrer Stimme zeigte, dass sie wohl doch auch ihren eigenen Kopf haben konnte. Der Zynismus in ihren Worten hatte auch etwas für sich. Ganz nebenbei hatte es den gewünschten Effekt, dass ich jetzt auch das Problem erkannte.


    Ich war es so sehr gewohnt, nur für mich selbst und ein paar Dinge verantwortlich zu sein. Für Menschen - und da machte ich keinen Unterschied, ob es sich nun um Sklaven oder Freie handelte - war ich schon lange nicht mehr verantwortlich gewesen. Dabei hätte ich da auch selbst drauf kommen müssen, dass ich jetzt natürlich auch für Alsuna zu sorgen hatte. Vor allem, wo ich das Verhältnis zu ihr doch dem Verhältnis von Herrscher zu Untertan gleichgesetzt hatte. Ich herschte über sie, aber dafür musste ich auch für ihre Sicherheit sorgen. Es war vielleicht nicht mit dem himmlischen Mandat eines Kaisers vergleichbar, der für ein ganzes Reich zu sorgen hatte, aber es war doch irgendwie eine Art himmlisches Mandat im Kleinen oder eher im ganz Kleinen. Ich war für ihren Schutz verantwortlich. Nur ich. Diese Pflicht musste ich erfüllen oder sie freilassen. Aber freilassen könnte ichs ie auch nur, wenn ich ihr genügend Mittel - materieller wie immaterieller Art - mitgeben würde, dass sie auch alleine klarkommen würde. Das war aber nicht der Fall. Außerdem hatte ich mich nie vor Verantwortung gedrückt.


    "Ich verstehe," sagte ich ernst. "Und ich muss zugeben, dass ich das nicht bedacht habe. Das Tor soll ab sofort verschlossen sein, wenn ich nicht da bin. Auch in der Nacht soll es verschlossen sein. Allerdings wäre dann ein Ianitor nicht schlecht. Am besten jemand, der kämpfen kann. Ich werde mich bei Gelegenheit mal auf dem Markt umsehen. Oder eher jemanden anheuern? Hmm... was denkst du?"


    Die Sache mit dem Flötenspiel war nun fast untergegangen, aber das Thema wollte ich nicht gänzlich außer acht lassen. "Dein Flötenspiel ist sicher nicht mit meinem vergleichbar. Wenn du durchschnittlich spielst, dann ist deines um einiges besser als meines." Ich zuckte mit den Schultern. "Ich war nie besonders gut darin, aber zumindest wurde es noch nie als Folter angesehen."

  • Aha. Diese Sprache schien selbst Achilleos zu verstehen, wenngleich man nie sagen konnte, ob er ihre Worte in seinem Kopf nicht erst solcherart umgewandelt hatte, dass sie in seine Welt angemessen Einzug fanden. Da sie seine Mimik nicht beobachtete sondern wieder dazu übergegangen war, den letzten Apfel zu schälen, vermochte Alsuna lediglich am Klang seiner Stimme abzuschätzen, wie ihre Worte genau auf ihn wirkten, schließlich hatte sie die übliche Demut kurzfristig aber umso deutlicher hinter einen imaginären Vorhang geschoben. Manch ein Herr hätte dies nicht sehr amüsant gefunden. Nun gut, andererseits gab es auch genügend Männer welche es mochten, wenn ihre Sklavin ein klein wenig rebellisch und wild war - natürlich nur, wenn es sich in einem perfekt abgesteckten Rahmen hielt. Bei Memnos hatte es sich stets als vorteilhafter entpuppt, im Geheimen aufzubegehren und offiziell in etwa so zurückhaltend und friedlich zu sein wie eine der zahllosen Öllampen. Angenehm und nützlich in manchen Situationen, doch ansonsten passiv und unsichtbar abseits ihrer Aufgaben.
    Unter Achilleos lagen die Dinge scheinbar anders. Es war allerdings fraglich, wohin ihn diese gelockerte Einstellung auf Dauer bringen würde.


    Die Vorstellung, einen Ianitor zu besitzen enthüllte tatsächlich einige Vorteile. Einen geistig plumpen, aber körperlich kräftigen Kerl fände man in Rhakotis mit Sicherheit an jeder Straßenecke. Leider stand seine Zuverlässigkeit mit derartigen Eigenschaften auf einer anderen Tafel. Es entpuppte sich als überaus zuvorkommend, dass ihr Herr sie diesbezüglich nach ihrer Meinung fragte - obgleich es schwierig war, diese in angemessener Wortwahl auch kundzutun. Alsuna schwieg eine kurze Weile nachdenklich, während sie die inzwischen allesamt von ihrer Haut befreiten Äpfel mit schnellen, präzisen Schnitten in den Brei würfelte. Vermutlich würden sie ebenso zerkochen wie der Hafer, andererseits konnte dies dem Geschmack nur zuträglich sein.
    "Herr, wenn das Tor nur während deiner Abwesenheit geschlossen ist, könnte man gerade das als Gelegenheit sehen, über die Mauern zu klettern, denn dann würde jeder wissen, dass du gegenwärtig nicht hier weilst." Einen Moment zögerte die Germanin, ob dieses Argument bereits den Rahmen des Normalen sprengte und auf Gedankengänge deutete, die man in ihrer Situation nicht unbedingt verfolgte, doch andererseits waren die Umgebung und die Lage der Akademie an sich schon Grund genug, ein wenig paranoid zu werden.


    "Und wenn du dich in deinen Räumlichkeiten aufhältst, müsstest du erst einmal überhaupt mitbekommen, dass Fremde eingedrungen sind, bevor du gegen sie zu kämpfen vermagst. Ich mag überängstlich klingen und verzeih meine offenen Worte, aber diese Gebäude hier liegen leider nicht abseits auf einem einsamen Berg, wo nur ab und an jemand den Weg zu dir findet. Dein Besuch eben war begleitet von zwei kräftigen Männern, dabei hielt er sich vermutlich nur äußerst kurz in Rhakotis auf. Wir wohnen hingegen hier und schließen nicht einmal das Tor. Ich bewundere deine Gründe dafür, jedoch... vielleicht solltest du einmal darüber nachdenken, welche Begründung letztendlich ausschlaggebend ist: die, dass du niemanden abweisen möchtest, oder jene, die deine kriegerische Überlegenheit demonstrieren soll. Ich meine, ich kenne dich und deine Beweggründe nicht..." Und selbst wenn würde ihr vermutlich das Verständnis fehlen. "...womöglich suchst du auch die Herausforderung und fühlst dich in deinem Tun bestätigst, wenn du Angreifer besiegst und damit deine Macht demonstrieren kannst. Diesbezüglich entgeht mir ein wenig der Sinn hinter einer solchen Einstellung, allerdings bin ich auch nur eine Sklavin. Und es ist dein Anwesen. Es steht mir nicht zu, etwas an deinen Regeln und Prinzipien zu kritisieren, nur weil ich sie nicht verstehe." Dies vermochte wahrscheinlich ohnehin nur ein anderer Mann mit einer ebenso unendlich hoch angesetzten Ehre. Wahrscheinlich hasste Achilleos den Frieden wie die Ruhe und suchte einfach Konflikt und Konfrontation. Welche noblen Absichten er auch immer wie ein verhüllender Schleier davor gehängt hatte.


    "Dein Flötenspiel gleicht vermutlich dem frohgemuten Murmeln eines verträumten Bächleins oder dem Vogelgezwitscher in den ersten Frühlingssonnenstrahlen oder dem zarten Gelächter der Nymphen in einer lauen, romantischen Sommernacht." 'Nie besonders gut darin', ja sicher. Alsuna vermochte sich ausgezeichnet vorzustellen, was bei einem solchen perfektionistischen Genie hinter 'nie besonders gut' verborgen lag. Im besten Fall falsche Bescheidenheit.

  • Ich hatte natürlich am Anfang nicht daran gedacht, die Akademie der Umgebung entsprechend zu sichern. Allerdings hatte ich da auch nicht damit gerechnet, dass ich so mit den Griechen aneinander geraten würde, wie es nun mal geschehen war. Ich sollte die Gelegenheit nutzen, jetzt das ganze Thema einmal durchzusprechen.


    "Ich denke, du solltest ein paar Dinge über mich wissen. Ich bin in Athen aufgewachsen. Meine Mutter gehört zu einer angesehenen Athener Familie. Mein Vater ist - war allerdings Römer. Und weil mein Großvater, dieser bornierte attische Patriot, keine Heirat mit einem Römer erlauben wollte, durfte ich als Bastard aufwachsen. Und mich fast täglich von meinem Großvater demütigen lassen. Man soll allem etwas Positives abgewinnen. Mich hat meine Jugend hart gemacht. Ich kann vermutlich mehr Demütigungen vertragen als selbst die Ägypter. Als ich die Ephebia hinter mich gebracht hatte, schloss ich mich einer Handelskarawane nach Parthien an. Dort schloss ich mich einer weiteren Karawane an, und dann noch einer, bis ich im fernen Reich Ch'in angekommen war. Die Einwohner ziehen aber den Name Han vor. Aber das tut nichts zur Sache.
    Ich wurde von einem Provinzstatthalter als Schüler angenommen und in Staatsphilosophie, Kriegskunst, Kampfkunst, aber vor allem auch der Sprache unterrichtet. Nach sieben Jahren als Schüler meldete ich mich zu den staatlichen Prüfungen. Ich bestand sie alle, bis hinauf zur Reichsebene. Und glaube mir dies, ich habe nie zuvor härtere Prüfungen erlebt. Und auch nie danach. Manchmal hat es genügt, ein einzelnes Schriftzeichen falsch zu schreiben, um durchzufallen.
    Danach wurde ich Statthalter einer Grenzstadt mitsamt dem umgebenden Gebiet. Die Reitervölker waren eine ständige Bedrohung, aber ich habe sie in vier Schlachten besiegt. Immer kämpfte ich ganz vorne mit, niemals wurde ich ernsthaft verwundet. Das liegt ganz sicher auch an meiner Ausbildung zum Schwertkämpfer. Und an meinem Schwert."


    Die Tatsache, dass ich meine Frau und meinen Sohn verloren hatte, verschwieg ich lieber. Ebenso verschwieg ich, dass ich meine Feinde in damals mitsamt ihren Familien hinrichten ließ.


    "Danach bin ich durch Indien gereist. Die Staatsphilosophie in Ch'in hat die Bildung über alles gestellt. Durch Bildung konnte man prinzipiell vom Bauern zum Berater des Kaisers aufsteigen. Aber mehr noch, durch Bildung wird der Mensch veredelt. Ich bin von dieser Philosophie überzeugt, auch wenn sie noch Ergänzungen benötigt. Es geht mir darum, den Menschen Chancen zu eröffnen. Aber, ja, es hat auch den Beigeschmack von Hochmut. Ich weiß, dass ich mich implizit für etwas Besseres halte, wenn ich glaube, diesen Menschen Bildung bringen zu müssen. Ich weiß auch, dass ich damit automatisch mit denen aneinander geraten muss, die davon profitieren, dass diese Menschen keine Chancen auf ein besseres Leben haben."


    Ich sah Alsuna eindringlich an. "Aber soll ich sie wieder sich selbst überlassen? Nur um mich zu schützen? Oder um uns zu schützen? Ich habe um die zwanzig Schüler. Zwanzig sind mehr als zwei. Ich kann nicht das Wohl der Minderheit über das Wohl der Mehrheit stellen. Es widerspricht meinem Sinn von Verantwortung gegenüber der Gesellschaft."


    "Vielleicht sollte ich die Mauern erhöhen und mit Speerspitzen sichern," sagte ich, während mein Blick zu einer Mauer schweifte. "Oder die Stadtwache um Schutz bitten. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Strategie. Es gibt Dinge, die hätte ich vorher bedenken sollen. Andererseits hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass die Gegend hier so schlimm ist. Vor allem nicht an diesem spezifischen Ort, nur einen Block vom Serapeion entfernt. Möglicherweise war es mir auch egal, weil mir mein eigenes Wohl ziemlich egal ist."


    Mein Blick lag wieder auf Alsuna. "Dein Wohl ist mir aber nicht egal." Ein kurzer Moment der Stille. "Nun, jedenfalls weißt du jetzt über meine Beweggründe bescheid."

  • Noch eben rechtzeitig hatte sich Alsuna daran erinnern können, dass das Kerngehäuse eines Apfels für gewöhnlich nicht feineren Speisen zugeführt wurde. Und so hatte sie jene mit raschen, bogenförmigen Schnitten entfernt und auf den kleinen Berg aus Schalen fallen lassen, der sich im Tuch auf ihren Oberschenkeln wand gleich einem filigranen Schlangennest. Das Zerstückeln des Fruchtkörpers ging ähnlich zielstrebig und präzise vonstatten wie der Prozess des Schälens, wenngleich die Sklavin auch bei dieser Tätigkeit mit ihren Gedanken gleichzeitig bei Achilleos' Ausführungen weilen musste.
    Zuvor war ihr die Überlegung durch den Kopf gegangen, wie ihre Reaktion wohl ausfiele, wenn er sie für ihre teilweise doch unverschämten Worte körperlich zu strafen versuchte. Würde sie sich der beschränkten, aber im Überraschungsmoment sicherlich effektiven Hilfe des Messers bedienen, welches in seiner augenblicklichen Tätigkeit so furchtbar harmlos und unschuldig wirkte? Es war kein weiter Weg bis zum Tor und in Rhakotis unterzutauchen musste selbst für jemanden wie sie einfach sein. Vermutlich lag im Auftauchen aus diesem Dreck und Schlamm die eigentliche Herausforderung.


    Der Winkel war nicht ganz einfach, sie würde sich drehen und das Gleichgewicht verlagern müssen. Und sollte sich ihr Gewissen wider Erwarten doch eines Tages zu Wort melden, könnte sie es mit dem Vorwand der Notwehr ganz und gar entkräften. Wahrscheinlich wäre die Stelle der Verletzung das einzig Schwierige. Hals? Seite? Wenn sie nicht acht gäbe, wäre sie im Nu über und über mit Blut bedeckt und dieser Anblick würde vielleicht selbst in Rhakotis Aufmerksamkeit anziehen.
    Ja, wie sie darüber nachsann wurde ihr bewusst, dass sie es mit großer Sicherheit täte. Und irgendwie beruhigte sie dieser Gedanke nicht unwesentlich, hätte beinahe sogar ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen gezaubert. Alles, was sie benötigte, wäre ein Anlass, ein guter, starker Grund. Es wäre einem wahren Befreiungsschlag gleich. Im Grunde sollte sie gar nicht mehr an einem solchen Ort weilen, sie sollte frei sein und nicht im größten Dreckloch der Stadt sitzen. Zudem war ihr schon zuvor ab und an der Gedanke gekommen, wie sie auf eine einfache förmliche Freilassung reagieren sollte. Freude? Glück? Dankbarkeit? Nein, dafür war zu viel geschehen, hatte sich eine zu große Macht in ihr angesammelt. Das würde ihr nicht ausreichen. Und wenn sie schon nicht mehr Hermione die milchweiße Kehle aufschneiden konnte, dann würde eben Achilleos herhalten müssen. Selbstredend traf ihn die wenigste Schuld an diesem schwarzen Fels in ihrem Inneren, aber dies nannte man dann wohl schlichtes Pech. Zur falschen Zeit die falsche Sklavin erhalten. Ein Idealist wie er würde an einem solchen Ort ohnehin nicht lange überleben. Wenn sie es nicht täte, würde es durch die Hand eines gekauften Meuchelmörders, eines Diebs oder eines besoffenen Verrückten getan. Wenn sie ihn tötete, geschähe es zumindest noch aus einem halbwegs respektablen und verständlichen Zweck heraus. Sein Körper läge in seinem selbsterschaffenen Sanktuarium und nicht im stinkenden Unrat in irgendeiner Seitengasse, wo derartige 'Legenden' für gewöhnlich ihr beschämendes, unrühmliches Ende fanden.


    Alsuna sog die leicht rauchige Luft etwas tiefer in ihre Lungen und schob sich das letzte Stückchen Apfel in den Mund um zu prüfen, wie viel Zimt sie ungefähr brauchen würde, wenngleich sie nicht genau zu sagen wusste, wie stark im Geschmack sich dieses Gewürz äußern würde. Allzu sauer war das Fruchtfleisch wenigstens nicht, eher ein wenig mehlig. Allerdings war dieser Apfel nicht das einzige, was einen seltsamen Geschmack auf Alsunas Zunge hinterließ.
    Anscheinend hatte er ihre Aussage, ihn nicht zu kennen, dorthingehend gedeutet, dass sie mehr von ihm erfahren wollte. Oder sollte. Was Achilleos nun genau damit erreichen wollte, erschloss sich der Germanin nicht genau, sie hoffte nur, dass es nicht etwas wie Verständnis oder Mitgefühl für seine Situation wäre. Bereits nach den ersten Sätzen hätte sie ihn am Liebsten mit einer spitzen Bemerkung unterbrochen und am Besten gleich völlig zum Schweigen gebracht. Er erzählte ihr, einer Sklavin, etwas von Demütigungen? Oh, dazu vermochte sie ihm auch einiges zu erzählen, allerdings verspürte sie im Gegensatz zu ihm nicht die geringste Lust, sich zu öffnen und von der Vergangenheit zu plaudern. Sie wollte ihn auch nicht besser kennenlernen, sich in seine Denkweise hineinarbeiten oder Lebensgeschichten von fremden Ländern und deren Rangfolgen hören. Momentan wollte sie einfach nur diesen verdammten Brei kochen und nicht die unerwartete wie unwillkommene Entdeckung machen, dass sich die zerkochenden Äpfel irgendwie nicht mit der Hirse über die Vorherrschaft im Kochtopf einig wurden. Wenigstens fand sie dadurch einen begründeten Anlass, noch ein wenig impulsiver im Topf zu rühren, was sie allerdings nicht dazu brachte, das Messer aus der rechten Hand zu legen.


    Scheinbar war er also im hochheiligen Land der Perfektionisten gewesen, in welches er sicherlich hervorragend gepasst hatte. Warum bei den modernden Gebeinen des Hades war er nicht dort geblieben? Was tat er dann bitte hier, wenn er sich dort so erfolgreich und angesehen und kampfesmutig hervorgetan hatte? Nein, stattdessen versuchte er krampfhaft, dieses Chin oder Han nach Alexandria zu holen, so als presse man einen quadratischen Stein in ein rundes Loch.
    Verdammt, dieser Kerl machte sie wütend mit seinem krankhaft guten Willen und den formidablen Absichten! Wenn ihm die Umstände hier so missfielen, sollte er sich doch wiederum dreizehn Karawanen anschließen und sich davonmachen, solange er noch halbwegs jung und unverletzt war! Stattdessen hockte er hier beim Kochen und gab sich mit einer dummen Sklavin ab! Und das, obwohl jemand mit seinen Ambitionen, seinem Können und seinem Wissen doch die komplette Welt zu retten vermochte. Oder zumindest zwanzig Menschen. Das war doch besser als nichts. Sie persönlich hatte noch keinen einzigen Menschen gerettet und dreisterweise plante sie auch nichts in diese Richtung. Sollte sie allerdings bei sich selbst damit anfangen, so würde gleich ein nachzitternder Messergriff aus jemandes Kehle herausragen.


    Welche Reaktion sollte sie ihm nun anbieten? Die Offenbarung ihrer Mordabsichten fiel sehr wahrscheinlich aus.
    "Warum bist du eigentlich hier? Gab es in... Han keine armen Menschen, die du retten konntest? Oder sind dort schon alle derart gebildet, dass sie deiner Lehren nicht mehr bedürfen?"
    Ohja, sie vergriff sich augenblicklich ganz massiv im Ton, denn trotz aller leisen Unterwürfigkeit räkelte sich der Zynismus überdeutlich in der Sonne und nahm verdächtig provokative Züge dabei an. Nicht unbeabsichtigt und erst recht nicht ohne Hintergedanken. Man lernte einen Menschen erst richtig kennen, wenn man ihn in einem Zustand ohnmächtigen Zorns erlebt hatte, so fest die freundliche, gütige Maske ansonsten auch auf seinem Gesicht klebte. Als Sklavin besaß Alsuna das zweifelhafte Privileg, sehr viel früher als manch anderer hinter diese Maske blicken zu können, doch wenigstens wusste sie dann ganz genau, mit wem sie es hier tatsächlich zu tun hatte.
    "Stattdessen kommst du hierher und versuchst die Prinzipien und Ansichten eines Landes am Ende der Welt zu vermitteln, um dich dann zu wundern, wenn es nicht funktioniert. Du predigst als einziger, dass der Himmel grün ist, und selbst wenn ab und an einer kommt und findet, dass ein grüner Himmel viel schöner ist als ein blauer, bist du doch am Ende der einzige mit dieser Anschauung. Du provozierst dieses ohnehin schon von Unruhe durchsetzte Viertel zu noch mehr Gewalt und Tod, indem du dich so groß und unübersehbar hier niederlässt, dass sie dich gar nicht ignorieren können. Und als Krönung behauptest du auch noch, dass dir in all diesen aufgewirbelten Kontroversen, den Problemen, dem Ärger und dem philosophischen Hufscharren dein eigenes Wohl mal kräftig am Arsch vorbeigeht. Memnos ist der Sohn einer schwanzlutschenden Hündin und seine Missgeburt von Tochter ein Stück stinkendes, madiges Rattenfleisch, aber wenigstens wusste ich bei denen, dass sie nicht willentlich ihr Leben in Gefahr bringen, weil deren Selbsterhaltungstrieb eben nicht auf einer Reise ins Niemandsland von Aasfressern abgenagt wurde! Doch ehrlich gesagt ist es mir ganz und gar egal, was aus dir wird oder den armen, ungebildeten Menschen von Rhakotis! Ich bin Sklavin, wenn ich hier irgendetwas tue, dann aus dem einfachen Grunde, weil ich es muss! Nicht weil ich es gut finde oder weil ich dich gut finde, sondern weil ich keine andere Wahl habe! Wenn ich dir aber einen gut gemeinten Rat geben darf, dann reise so bald wie möglich in dein geliebtes Han zurück und versuche da glücklich zu werden, dort sind die Aussichten für eine solche Zukunft nämlich wesentlich gewaltiger als an diesem von den Göttern verlassenen Ort. Was immer dich von dort vertrieben hat ist bestimmt leichter zu ertragen als dieses Leben voller höherer Bedeutsamkeiten, die aber dennoch am Ende alle ziemlich sinnlos zu sein scheinen, wenn sie deiner Existenz nicht einmal einen Wert verleihen können. Ach, und zum Thema 'Demütigungen' könnte ich auch einige hübsche Anekdoten beisteuern, ich befürchte nur, dass dabei der allgemeine Appetit auf der Strecke bleiben dürfte."


    Dies war auch vorerst alles, was er umgekehrt von ihr wissen sollte. Vielleicht hatte jetzt auch endlich diese unerträglich freundliche Heuchelei ein Ende, mit welcher er sie andauernd bedachte und dessen tieferer Sinn sich Alsuna immer noch hartnäckig verschloss, einmal von einer weiteren östlichen Einrichtung abgesehen. Das konnte er sich gerne sparen. Und auch wenn sie vorhin nicht wirklich laut geworden war, so würde er ihre Worte ganz gewiss nicht ohne entsprechende Konsequenz im Raum stehen lassen. Sein Bedürfnis nach innerer Harmonie konnte auch nicht ewig halten.

  • Für einen kurzen Moment blitzte Zorn in meinen Augen, dann atmete ich einmal tief durch und unterdrückte jede weitere Gefühlsregung. Statt dessen sprach ich mit ruhiger, neutraler Stimme.
    "Was mich aus Han vertrieben hat war meine eigene Macht. Oder sagen wir es anders: Ich habe die Korruption in meiner Stadt bekämpft, und das sehr effektiv. Damit habe ich mir natürlich Feinde gemacht. Irgendwann sind die dann zu weit gegangen. Unmittelbar nach dem Tod meiner Frau verbündeten sie sich mit einigen Nomaden jenseits der Grenze. Ich bekam das mit. Und handelte. Ich griff die Nomaden an, bevor sie angreifen konnten, und ließ alle töten, die mit einer Waffe angetroffen wurden. Wenn ein Kind eine Waffe hielt, und wenn es nur ein Messer war, wurde es getötet. Das galt auch für Frauen und Greise. Die Namen der Verschwörer erhielt ich von denen, die damit ihre Familien schützen wollten. in der Tat kannte ich mit ihnen Gnade und ließ sie ziehen."


    Mein Blick war hart, ohne jedes Gefühl.


    "Zurück in der Stadt ließ ich alle Verschwörer mitsamt ihren Familien verhaften. Ich fand ein altes Gesetz, das nie aufgehoben wurde. Es erlaubte die Hinrichtung der gesamten Familie eines Verräters. Also verurteilte ich die ganzen Familien zum Tode. Die Hinrichtungen fanden so statt, dass die Eltern den Tod ihrer Kinder mitansehen mussten und dann die Männer den Tod ihrer Frauen. Frauen und Kinder wurden enthauptet, die Männer zum Schluss gevierteilt. Ich habe das Urteil nicht gerne gefällt, aber es war notwendig! Es war notwendig, weil man nur mit eiserner Härte die Gesetze durchsetzen kann. Ich wache immer noch hin und wieder nachts auf und sehe die Hinrichtungen, höre das Flehen um Gnade, sehe die Verzweiflung und Trauer in den Gesichtern der Männer!


    Deshalb habe ich Han verlassen, um nicht noch mehr Menschen zu töten. Denn der Erfolg gab mir recht. Dem Kaiser gefiel meine Effizienz. Er hatte mir angeboten, mich als kaiserlichen Kontrollbeamten für eine Provinz zu ernennen. Für eine Provinz, die für ihre Korruption bekannt war. Vermutlich ist sie es noch immer. Ich bat ihn darum, in meine Heimat reisen zu dürfen, um meine Eltern zu besuchen. Danach würde ich zurückkehren. Ich bin also immer noch Beamter. Zwar Beamter im Exil, aber Beamter. Deshalb führe ich diese Schule. Sobald ich zurückkehre, werde ich eine Provinz von Korruption reinigen. Mit viel Blut. Ich weiß, dass dieser Weg mich meine Seele kosten wird. Deshalb will ich ihn herauszögern.


    Was meinen Selbsterhaltungstrieb angeht: Ich habe keinen mehr, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Meine Eltern und anderen Verwandten habe ich nie gehabt, weil ich kein reinrassiger Grieche bin. Meine Frau und meinen Sohn hat mir Hades genommen. Und den Seelenfrieden habe ich mir selbst genommen, wenn auch im Kampf für die Harmonie des Staates. Genauso wenig, wie ich mein eigenes Leben schone, schone ich andere Leben. Ich kenne keine Gnade. Ich kenne nur Notwendigkeit."


    Gerade die Abwesenheit jedweder Gefühlsregung war das Gefährliche an mir. Ich explodierte nicht, ich handelte einfach. Wenn ich es für notwendig hielt, ein Exempel zu statuieren, tat ich es schlichtweg.


    "Was dich anbetrifft: Du bist genauso wertlos und unbedeutend wie jeder andere Mensch, inklusive mir selbst. Jeder ist ersetzbar. Selbst Kaiser sind ersetzbar. Aber... du willst die Angebliche Freiheit haben? Nur tun, wozu du Lust hast? Schön, kannst du haben. Du bist von allen Pflichten freigestellt. Bis auf weiteres. Tu was du willst."


    Ich nahm den Topf mit dem Reis vom Ofen und stellte den mit den Linsen darauf. Langsam rührend blieb ich davor stehen.

  • Zweifellos war es Alsunas wenig zurückhaltenden Worten geglückt, etwas in ihrem Herrn zu wecken, wenngleich die Sklavin eigentlich mit etwas vollkommen anderem gerechnet hatte. Schläge, Gebrüll, Drohungen, Strafen, all dieses wäre durchaus nachvollziehbar gewesen. Sie hatte sich maßlos über ihre Grenzen hinfortgesetzt und das nicht bloß versehentlich inmitten eines impulsiven Anfalls. Zwar war ihr Temperament nicht halb so passiv, wie sie sich für gewöhnlich im Rahmen ihrer Stellung gab und hätte sie sich nicht schon vor Jahren Gelegenheiten gesucht, um ihren aufgestauten Frust und ihre stetig steigende Aggressivität abzubauen, so hätte ihr Leben höchst wahrscheinlich schon vor jeder Begegnung mit Achilleos ein übles Ende gefunden. Gab man ihr jedoch willentlich eine Gelegenheit, die gehorsame Maske abzuschütteln, so lernte man unter Umständen die erschwerte Problematik kennen, sie ihr in naher Zukunft wieder aufsetzen zu können.
    Nun, da sie sich ohnehin schon viel zu weit vorgewagt hatte, besaß die Germanin auch nicht die Absicht, wieder zum stummen Ausgangspunkt zurückzukehren. Außerdem fühlte sie zum jetzigen Zeitpunkt auch noch keinerlei Reue. Es mochte sich ein anderes Bild formen, wenn ihr Herr sie erst halb besinnungslos geschlagen hatte, doch man musste im Zweifelsfall für den goldenen Moment leben. Der aktuelle war vielleicht noch nicht völlig vergoldet, jedoch auf dem besten Wege hin zu diesem Edelmetall. Mit diesem Kerl und seiner widersprüchlichen Art stimmte etwas nicht und Alsuna war gewillt, dem auf den Grund zu gehen. Sie liebte es im Verhalten und im Charakter ihres Gegenübers Schwächen und Fehler aufzudecken, wenngleich sie diese gegenwärtig zum ersten Mal in einer derartigen Deutlichkeit zur Konfrontation benutzt hatte. Für gewöhnlich genügte ihr bereits das Wissen und die damit verbundenen Möglichkeiten des Ausnutzens. Aber hier – jetzt – spürte sie das Verlangen zuzustechen wie ein gereizter Skorpion. Wahrscheinlich weil sie diesen Mann noch nicht ausreichend kannte und sie wie die meisten Sklaven noch austesten musste, wo ihre Grenzen lagen. Womöglich war er auch einfach zu freundlich zu ihr gewesen. Vielleicht vertrug sie das einfach von dieser Seite nicht mehr.


    Dass sie nach wie vor seinen Blick unerwidert ließ machte die Angelegenheit nicht eben einfacher. Den Brei im Topf hatte sie mit ihrem wütenden Starren garantiert eingeschüchtert, nur hatte dieser ihr eigentlich nichts getan – wenn man einmal von der Problematik der Äpfel absah. Innerlich bereitete sie sich instinktiv darauf vor, im nächsten fliegenden Augenblick äußerst heftigen Schmerzen ausgeliefert zu sein, wenn er sie nicht gleich packte und auf dem Markt verhökerte an denjenigen, der am Miesesten und Dreckigsten aussah. Ja, eine solche Vorgehensweise passte wohl besser zu ihm, als ohnmächtig auf eine Sklavin einzudreschen. Andererseits, was wusste sie schon von seinen inneren Dämonen?


    Erstaunlicherweise schien ihre provozierende Ansprache ihn noch stärker geknackt zu haben. Verwirrt blinzelnd hörte Alsuna ihm stumm zu und konnte die Frage nach dem Warum trotz aller besorgniserregenden Details nicht ausklammern. Weswegen öffnete er sich ihr so? Wollte er ihr Verständnis? Ihre Abscheu? Ihren Zuspruch? Momentan befand sich die Germanin ordentlich weit entfernt von allen dreien. Allein die Tatsache, dass er ihr quasi die wichtigsten Informationen aus seiner Vergangenheit offen legte, war nicht einfach einzuschätzen. ER war nicht einfach einzuschätzen. Da Alsuna wie viele ihrer Art zum latenten Sadismus neigte was das Schicksal ihrer Herren anbelangte, hielt sich ihr Mitgefühl in Grenzen. Zumal sie irgendwie stark bezweifelte, dass dies seine Absicht war. Andererseits konnte sie die wahren Absichten eines solchen Mannes kaum erahnen. Weswegen also sollte sie sich nicht einfach auf sich selbst konzentrieren und das tun, was sie selbst gerade am Liebsten tun wollte? Hatte er ihr diese ungewohnte Freiheit nicht gerade eben so großzügig offeriert? Welchen Grund gäbe es also nun wieder zu ihrer alten, geheuchelten Unterwürfigkeit zurückzukehren? Allerhöchstens aus Sympathie dem Überleben gegenüber. Denn gleich was er sagte, strafen konnte er sie trotzdem noch. Schmerzhaft. Tödlich.


    “Zusammengefasst bist du demnach ein Fanatiker, ein Mörder, ein Betrüger, ein Lügner, ein Feigling, ein Menschenfeind und ein halber Deserteur. Habe ich das so korrekt verstanden?“

  • Unmittelbar nach Alsunas letztem Wort schnellte ich nach vorne und schlug mit der Handkante gegen ihre Kehle. Nicht so hart, dass sie davon einen bleibenden Schaden behalten würde, aber hart genug, dass ihr erstmal die Luft wegbleiben würde. Dann stellte ich mich zwei Schritt weit entfernt vor sie. Ich zeigte keinerlei Gefühlsregung, auch nicht in meiner Stimme.


    "Deine Zusammenfassung ist fehlerhaft. Ich bin weder ein Betrüger, noch ein Lügner, noch ein Feigling und schon gar kein halber Deserteur. Denn ich kehre wieder zurück nach Han, in ein paar Jahren. Allerdings bin ich ein Fanatiker."

  • Na also, das war doch endlich etwas, mit dem sie sich auskannte. Es änderte nichts an dem Schrecken aufgrund seiner Schnelligkeit oder dem unangenehmen Gefühl einer verschlossenen Luftröhre oder der traurigen, jedoch nicht änderbaren Tatsache, dass sie nun auf dem Boden kniete und nach Luft rang gleich einem Fisch auf dem Trockenen, doch das Gefühl der Genugtuung war hartnäckig. Außerdem hatte sie vergleichsweise raschen Erfolg gehabt. Ein Tag nur und er hatte ihr bereits zeigen müssen, was für ein Riesen-Arschloch er war. Das war eine gute Quote. Und wohl auch die letzte, wenn ihre Lungen weiterhin erfolglos Luft zu holen versuchten.
    Alsuna konnte nicht anders als schwach und grimmig zu lächeln, wenngleich es aufgrund der Atemprobleme wohl eher einem Zähnefletschen ähnelte. Zudem achtete sie trotz aller aufsteigenden Panik tunlichst darauf, ihn selbst jetzt mit keinem einzigen Blick zu beachten. Da schaute sie lieber auf den sich langsam dunkler färbenden Staub zu ihren Knien. Herrje, was hatte sie den Göttern nur getan, dass ausgerechnet sie immer bei den größten Idioten landete?


    Sie befand sich bereits recht flach auf den Boden gepresst als sie spürte, dass die Blockade in ihrem Hals sich langsam zu lösen begann. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in den grobkörnigen Untergrund und sie presste die Augen zu, um gegen das zähschwarze Schwindelgefühl anzukämpfen. Ein klein wenig länger und sie wäre wahrscheinlich bewusstlos geworden. Nunja, was nicht ist, konnte schließlich noch werden. Mies genug fühlte sie sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt.
    Ein heftiger Hustenanfall wollte ihr erneut die Kehle zuschnüren, doch wenigstens erstickte sie nicht mehr daran. Nicht zu ersticken war gut. Damit konnte man arbeiten. Die keuchenden Laute nahmen gegen Ende, als sie nach und nach zu schwerem, schnellen Atemstößen übergingen, beinahe einen amüsierten Klang an. Alsuna machte sich nicht die Mühe, sich hochzuarbeiten, höchstwahrscheinlich würde sie ohnehin umgehend wieder auf dem Boden landen. Mühsam und rau brachte sie immer noch lächelnd hervor:
    “Tja... das ist das Dumme an ... den Fanatikern... Sie besitzen... dieses fiese Problem mit... der Wahrheit...“
    Und das war auch das Problem mit ihr. Wenn sie einmal eine bestimmte Grenze überschritten hatte, kam sie nur ganz schwer wieder zurück.

  • Ich sah auf sie herunter, beobachtete, wie sie nach Luft holte. Hätte ich es gewollt, würde sie ersticken. Aber das wollte ich nicht.


    "Und das ist das Dumme an Idioten: Sie wissen nicht, wann sie die Klappe zu halten haben." Eigentlich ließ ich mich nicht zu solchen Kommentaren hinreißen, aber Alsuna hatte den Bogen deutlich überspannt.


    "Wie dem auch sei, ich definiere hiermit vorläufig Rechte und Pflichten: Du hast das Recht, das dir zugewiesene Zimmer zu bewohnen. Du hast das Recht, am Mittagessen teilzunehmen. Darüberhinaus hast du auch das Recht, täglich ein dünnes Fladenbrot zu erhalten. Du hast das Recht, Wasser aus der Zisterne zu schöpfen, um deinen Durst zu stillen. Außerdem das recht auf Benutzung des Bades und der Latrinen. Dafür habe ich die Pflicht, dir diese Rechte zu gewähren, so lange ich dich nicht verstoße. Du hast nicht das Recht, das Vorratsgebäude ohne Erlaubnis zu betreten. Du hast auch nicht das Recht, ohne Erlaubnis zu kochen. Du hast nicht das Recht, den Ahnentempel, die Meditationshalle oder gar meine Wohnung zu betreten. Du hast auch kein Anrecht darauf, dass ich dir irgend etwas kaufe, sei es Kleidung oder sonst irgend etwas.
    Du hast die Pflicht, dich vor mir zu verneigen, wenn du mich siehst. Du hast die Pflicht, mich mit Jìnshì anzusprechen. Du hast auch die Pflicht, dich auf den Boden zu werfen und zu verneigen, wenn ich ein Gesetz verlese, ganz gleich in welcher Sprache. Solltest du dich nicht vor mir oder beim Verlesen eines Gesetzes so verneigen, wie ich es soeben definiert habe, habe ich das Recht, dir deinen Kopf vor die Füße zu legen.
    Weitere Rechte und Pflichten gibt es nicht! Wenn du Kleidung brauchst, musst du dir das Geld verdienen. Beispielsweise indem du hier putzt oder den Garten einrichtest. Aber du wirst diese Tätigkeiten nur dann ausführen, wenn du dazu meine Erlaubnis hast. Überhaupt wirst du in dieser Akademie nur dann etwas machen, wenn ich es dir erlaube.


    Hast du das soweit verstanden?"


    Ich hatte die Definitionen mit strenger Stimme und ebenso strenger Miene vorgetragen. Es war einem Gesetz recht ähnlich. In der Tat war Alsuna nun mit sehr ähnlichen Rechten und Pflichten wie ein Untertan ausgestattet. Und ich hatte sehr ähnliche Rechte zu einem hohen Beamten.

  • Langsam ließ das teilweise ohrenbetäubend laute Rauschen in Alsunas Ohren nach und ihre Fingerspitzen massierten vorsichtig die Seiten ihres Halses. Vermutlich sah man nicht einmal irgendeine Spur des vorangegangenen Schlages. Jeder Meuchelmörder wäre von dieser Taktik hellauf begeistert.
    Ihr schwaches Lächeln verstärkte sich. Natürlich war sie ein Idiot, jeder Sklave war das. Deswegen nannte man sie ‚Sklaven‘. Langsam stemmte sie sich etwas höher und blinzelte prüfend, um die Wirkung des Lichtes auf ihr Schwindelgefühl einzuschätzen. Immer noch hatte sie das Gefühl, nicht richtig atmen zu können und wahrscheinlich würde dieser Eindruck gleich einer Warnung so bald nicht nachlassen.


    Ohnehin sparsam mit ihren Worten hörte sie der gerade neu erstellten Liste zu und verzog abschätzig das Gesicht, was Achilleos von seinem Blickwinkel aus ohnehin nicht mitbekam. Vorsichtig räusperte sie sich und dachte gleich danach, ein glühend heißer Dolch wäre ihr in die Kehle gefahren. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte die Germanin den Drang zu würgen und spuckte auf den Boden – wobei sie schweren Herzens vermied, ihrem Herrn demonstrativ vor die Füße zu speien.
    “Du hast mir die Erlaubnis erteilt zu tun... was ich will. Und jetzt strafst du mich dafür, dass ich es... getan habe? Warum... ‚legst du mir meinen Kopf dann nicht gleich vor die Füße‘... wie du es so schön umschrieben hast? Das lässt dich weniger... verwirrt erscheinen.“ ‚Verwirrt‘ war noch einer der höflichen Begriffe, welche ihr augenblicklich durch den Kopf tobten.

  • "Ich habe dir erlaubt zu tun, was du willst. Das ist richtig. Mir war nur nicht bewusst, dass das hier so viel bedeutet wie "Provoziere mich, bis ich die Selbstbeherrschung verliere!" Aber gut, das weiß ich ja jetzt. Ich habe jetzt die Rechte und Pflichten definiert. Eine Sache kommt noch hinzu: Behandle mich mit Respekt und ich werde dich ebenso behandeln. wenn nicht, dann halt nicht. Deine freie Entscheidung."


    Ich ging zu der Ecke, in der mein Schwert stand und nahm es. Dann ging ich zur großen Halle. Auf den Stufen drehte ich mich noch einmal um. "Wenn du das Zeug noch essen willst, dann solltest du selbst darauf aufpassen, dass es nicht zerkocht. Mir ist es egal, ich habe keinen Appetit mehr."


    Dann ging ich durch die große Halle und den inneren Hof in die Meditationshalle. Ich erwartete kein Verständnis oder Nettigkeiten, aber ich erwartete Respekt. Das war das Mindeste, was ich erwarten konnte. Und in der Hinsicht hatte mich Alsuna enttäuscht. Offenbar war es doch nicht gut, Sklaven wie Familienmitglieder zu behandeln. Aber gut, ab sofort war sie Untertanin. Und das änderte nun einige Dinge grundsätzlich.

  • Wenigstens war er jetzt und für alle Zeiten von der irrigen Annahme befreit, dass zwischen einem Herrn und einem Sklaven etwas wie echte Freundschaft herrschen könnte. Ganz besonders nicht bei einem derartig heuchlerischen, verlogen freundlichen Herrn wie ihm selbst. Selbstverständlich besaß sie weder Rechte noch Schutz, doch wenigstens wollte sie Ehrlichkeit im Umgang mit sich. Ihr mit Nettigkeiten zu kommen, nur um das eigene Gewissen zu beruhigen, widerte sie ganz besonders an. Zudem stellte sich Alsuna die Frage, welche Art von Respekt Achilleos denn bitte nach seiner Schlächtergeschichte erwartet hatte. Abgesehen von Respekt aus Furcht vor seiner Kaltblütigkeit. Ansonsten fiel ihr nicht eine respektable Handlung ein, die er begangen hatte. Diese elende Schule war nichts als eine große Lüge, hinter der er sich versteckte. Sicher, er war ja so gut und edelmütig und kümmerte sich um die dummen Bettlerkinder. Hier half er ihnen und am anderen Ende der Welt ermordete er sie. Respektabel!


    Alsuna blickte ihm nicht einmal nach, als er sich sein Schwert nahm und verschwand, sie hatte genug damit zu tun, sich wieder auf die Beine zu bringen und gegen das schmerzhafte Gefühl in ihrem Hals anzukämpfen. Schlucken und husten tat immer noch verdammt weh und sie konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass dies auch noch ein Weilchen so bliebe. Hübsche Möglichkeit, jemanden zum Schweigen zu bringen, dessen Worte einfach nicht gefielen. Am Ende hätte man sich denen noch stellen müssen! Dieselbe Taktik wandte Achilleos gerade wieder an. Er verzog sich, vermutlich unter dem Vorwand, ihr am Ende glatt noch die Kehle durchschneiden zu müssen. Mächtig unbeherrscht für einen angeblich so respektablen Mann.


    “Ja, lauf nur davon, das kannst du ja so gut.“ Die Germanin wusste nicht, ob er ihre immer noch sehr heiser klingenden Worte gehört hatte und in diesem Augenblick war es ihr auch fürchterlich einerlei. Was brachte die Befriedigung, jemandem die Maske vom Gesicht gerissen zu haben, wenn man anschließend quasi hilf- wie wehrlos war angesichts seiner Rache? Im offenen Kampf war er ihr eindeutig überlegen, eindeutiger ging es schon gar nicht mehr. Aber der offene Zweikampf war eben auch nur etwas für Idioten.
    Nach einem tiefen, köstlichen Atemzug begann sie sich den Staub von ihrem Gewand zu klopfen, während sie überlegte, was nun mit dem Essen zu tun wäre, da ihrem hochwohlgeborenen ‚Jinshi‘ ja ironischerweise der Appetit vergangen war. Wenigstens etwas. Nun, sie hatte den Brei gekocht und sie würde auch so konsequent sein und ihn verspeisen. Soweit ihre Kehle diesen Plan eben unterstützte.

  • Ich hatte lange meditiert. Alsuna hätte mich nicht so getroffen, wenn nicht etwas Wahrheit in ihren Worten gewesen wäre. Auch das, was sie am Ende des Streits sagte, wenngleich es eher leise war, da ihr noch die Luft fehlte, hatte ich gehört. Ich war weggelaufen aus Han. Ich hatte mich meinen inneren Dämonen nie gestellt. Mir kamen mehrfach die Worte des Meisters Kong in den Sinn. »Ich prüfe täglich dreifach mein Selbst: Ob ich, für andere sinnend, es etwa nicht aus innerstem Herzen getan; ob ich, mit Freunden verkehrend, etwa meinem Worte nicht treu war; ob ich meine Lehren etwa nicht geübt habe.« Ich prüfte mich selbst, und fand, dass ich vor mir selbst nicht bestehen konnte.


    Half ich diesen Kindern, um ihnen zu helfen? Nein, ich tat es, um mich besser zu fühlen. War ich meinem Wort treu? Ja, das war ich, zumindest gegenüber Freunden. Hatte ich meine Lehren geübt? Nein, jedenfalls hatte ich sie nicht konsequent angewendet. Ich hätte Alsuna nicht für Worte bestrafen sollen, die so falsch nicht waren. Das war grundlegend falsch.


    Und dann kamen mir weitere Worte des Meisters in den Sinn: »Halte dich eng an die Gewissenhaften und Treuen. Mache Treu und Glauben zur Hauptsache. Hast du Fehler, scheue dich nicht, sie zu verbessern.« Meine Fehler zu verbessern, das wäre wohl erstmal am wichtigsten. Der erste und größte Fehler, den ich gemacht hatte, war es, Chin zu verlassen. Das hätte ich nicht machen sollen. Es gab noch Aufgaben zu erfüllen. Der zweite große Fehler war es, diese Akademie zu gründen und sich selbst als Lehrer förmlich aufzudrängen. Man wurde Lehrer, wenn einen die Schüler darum baten, nicht anders herum. Mir wurde bewusst, dass ich wieder zurück zum Anfang musste, doch ich traute mir nicht zu, es allein zu schaffen.


    Ich ging zu Alsuna's Unterkunft und klopfte an die Tür. "Alsuna? Darf ich dich kurz um ein Gespräch bitten?" Ich sprach bittend, nicht befehlend. Mir war auch nicht nach Befehlston.

  • Wahrscheinlich beging sie mit ihrer Rückkehr zu jener unseligen Akademie gerade den zweiten großen Fehler ihres Lebens. Der erste war es gewesen, keine der ungezählten sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen, Hermione auf kreativem wie ironischem Wege in die Unterwelt zu befördern und anschließend ihr Glück als geflohene, wegen Mordes gesuchte Sklavin zu versuchen, welches so viel schlechter als ihre derzeitige Situation auch nicht sein konnte. Von wegen 'Weglaufen war keine Lösung', es war die beste Idee, die man in einer solchen Lage fähig war zu bekommen. Jetzt sogar noch weitaus mehr als zuvor, denn schließlich befand sie sich bei einem offensichtlich geistesgestörten, kaltblütigen Fanatiker, dem es Spaß bereitete, sie mit seinen Mordfähigkeiten zu bedrohen. Alsuna mochte sich in ihrem Dasein schon außerordentlich viel gefallen gelassen haben und zugegeben, sie hatte es ein wenig provoziert, dennoch war sie mit der Aussicht auf einen qualvollen Tod nicht einverstanden. Mochte ihr Wunsch nach Freiheit auch ein weiteres Mal in unerreichbare Ferne gerückt sein, so wäre ein solches Ende mit der Unterstützung eines derart sadistischen Bastards ihrer nicht wert.


    Zumindest wusste sie nun sehr genau, woran sie war. Ein weiterer Grund, nicht an diesen Ort zurückzukehren. Das war mitnichten die reine, nachvollziehbare Überlegenheit eines ausgebildeten Kriegers gegenüber einer... mäßig normalen Sklavin. Selbst um seine Arme und das Augenlicht beraubt stünde der Kerl wahrscheinlich noch zehnmal besser da als sie! Erst jenes niederschmetternde Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins vermochte das Feuer der Wut in ihr so richtig anzufachen. In den letzten Stunden des relativ nutzlosen Herumlaufens und Verirrens in den stinkenden Gassen Rhakotis' hatte sie neben ihres Ärgers hauptsächlich nach irgendeinem noch so winzigen Schwachpunkt in seiner perfekten Art gesucht, diesmal im Gegensatz zu früheren Überlegungen in seiner Art zu Kämpfen, in seinem physischen Schutz. Zu guter Letzt endete sie immer wieder bei Gift, mit mehr oder minder 'fairen' Mitteln war von ihrer Position aus einfach nichts zu machen.


    Wenn sie denn tatsächlich zurückkehrte und sich in der Lage sähe, noch ein Weilchen die reumütig Untertänige zu spielen, bis er ihr erneut mehr Vertrauen entgegen brächte und die Regeln etwas lockerte. Überhaupt, diese Regeln! 'Auf den Boden werfen wenn ich ein Gesetz verlese, ganz gleich in welcher Sprache'... ja, sicher. Manch einem bekam die Sklavenhaltung schlicht und ergreifend nicht, man entwickelte dadurch einen ganz hässlichen Größenwahn. Dann hätte er ihr eben keine Spracherlaubnis erteilen sollen, wenn er anschließend die Beherrschung verlor. Ihr Hals brannte immer noch wie mit Feuer ausgespült. Es wäre durchaus besser gewesen, hätte sie nicht kurz nach dem Anschlag auf ihr Leben jenen unsäglichen Haferbrei mit Früchten hinuntergewürgt, um sich selbst irgendetwas vollkommen Banales zu beweisen. Bei jedem hervorgestoßenen Fluch klang sie nun wie eine alte, zankende Greisin, die ein paar Bälger verjagte. Irgendwie nahm das jeder noch so düsteren Beschreibung die eigentliche Würze.


    "Soll er doch zurückkehren in sein stinkendes, kleines Kuhkaff", drang es leise und heiser gezischt von Alsunas Lippen, während sie das vermaledeite Eingangstor passierte und nach einem knappen Blick über den leeren Hof schnurstracks in Richtung ihrer Räumlichkeiten abbog, die Hände zu Fäusten geballt, dergestalt, dass ihre Fingernägel bereits bleibende Spuren in den Handinnenseiten hinterlassen haben mussten. Wahrscheinlich hockte ihr hoher Jinshi noch in seinen Meditationshallen bei irgendeiner unverständlichen Übung.
    Einen wütenden Herzschlag später wusste die Germanin, dass die Dinge ein wenig anders lagen, woraufhin sie zunächst mitten in der Bewegung innehielt und schließlich sicherheitshalber noch einen Schritt zurückwich, den Blick hastig senkend. Verflucht, hätte sie sich eine Ecke weniger weit verirrt, wäre sie garantiert rechtzeitig zurück gewesen. Zwar wusste sie nicht genau zu sagen, wie die Strafe für unerlaubtes Entfernen nach einer größeren Strafpredigt aussähe, doch im Angedenken an die letzte 'förmliche Zurechtweisung' mochte es einem Selbstmordversuch gleichkommen, wenn sie sich nun ungeschützt zu Boden warf und um Gnade winselte, wenn sie doch besser ihr Heil in der Flucht suchte. Schön, er war schnell, doch vielleicht musste sie es nur bis jenseits des Tors schaffen und vor die Augen genügend anderer Menschen, vor denen Achilleus sein 'wahres Selbst' unter Umständen lieber verbergen wollte. Nicht, dass sich dort draußen irgendwer auch nur ansatzweise um ihr Schicksal gekümmert hätte.


    Ihre Finger spreizten sich langsam, während sie so unauffällig wie möglich ihre Muskeln anzuspannen versuchte. Das Problem bestand darin, dass sie sich zunächst würde umdrehen müssen. Zuzüglich würde sie sich nicht den kleinsten Fehltritt erlauben dürfen. Angespannt behielt sie die Bewegungen ihres Herrn im Blick. Immerhin war es besser, bei einem Fluchtversuch zu sterben, als flehend auf den Knien. Wäre sie doch nur nachts zurückgekehrt! Sie hätte ihre Habseligkeiten abholen können und wäre gesund und munter und vor allem frei gewesen!

  • Ich hörte das Tor und sah zu der Person, die nun die Akademie betrat. Das leise Fluchen verstand ich nicht, dazu war es zu leise und zu heiser. Das war im Moment aber auch nicht wichtig.


    "Ah, da bist du ja," sagte ich leicht verwundert. In der Tat hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie außerhalb unterwegs sein würde. Andererseits hatte ich es Alsuna nicht verboten. In der Tat hatte ich ihr ja quasi Bewegungsfreiheit gegeben. "Ich... ähm... du hattest recht. Mit einigen Dingen." Eine kurze Pause. "Das impliziert natürlich, dass ich mich geirrt hatte. Kurzum, ja, ich bin weggelaufen. Und, ja, ich bin ein Fanatiker. Und, ja, vielleicht bin ich ein Mörder. Wenn auch nicht im Sinne der Gesetze." Mehr sagte ich erstmal nicht, sondern beobachtete sie nur.

  • Er bewegte sich zumindest nicht auf sie zu. Obgleich sie eine solche Bewegung vermutlich auch diesmal, da sie irgendwie auf etwas Derartiges vorbereitet war, viel zu spät wahrgenommen hätte. Und er sprach mit ihr, ein Umstand, der ihr eigentlich Entwarnung hätte geben müssen, denn in ihrer Vorstellung hielt sich ein solcher Massenmörder überhaupt nicht mehr mit derartigen Lästigkeiten wie Worten auf, wenn er doch stattdessen bereits Hälse brechen konnte. Dennoch barg seine offensichtliche Verwunderung ob ihres Auftauchens aus dieser Richtung noch keinen Anlass, sich in irgendeiner Weise zu entspannen. Dafür erschien Alsuna sein Wesen für zu unberechenbar, ein Eindruck, der sich in den nächsten Augenblicken noch rapide verstärken sollte.


    Mitten hinein in ihre unruhigen, lauten Herzschläge drangen seine Worte, deren es natürlich nach wie vor an einer dazu passenden Mimik fehlte, weil die Germanin auch weiterhin – und nun erst recht – einen direkten Augenkontakt vermied. Ihre eigenen Seelenspiegel verengten sich leicht, während die fluchtbereite Anspannung nicht eine Winzigkeit aus ihren Muskeln wich. Ihr war nur zu bekannt, dass dieser Mann durchaus eine nette, harmlose Oberfläche präsentieren konnte, allerdings sollte sie wirklich verdammt sein, fiele sie ein zweites Mal auf diese hinterhältige Methode herein.
    Und ganz ehrlich, was wollte er damit erreichen? Reumütigkeit? Buße? Lächerlich, im Angesicht einer Sklavin.
    Alsuna befeuchtete kurz ihre Lippen mit der Zungenspitze und erwiderte schließlich, absichtlich eher leise und gepresst, da ihre Stimme nach wie vor nicht voll einsatztauglich war:
    “Ich bin nur eine Sklavin, mir ist es gleich, was oder wer du bist... Jinshi‘.“

  • Ich schüttelte leicht den Kopf. "Die Worte hast du gut gelernt, doch glaube ich sie dir nicht." Immerhin nannte Alsuna mich Jinshi. Das war interessant, doch inzwischen war es mir eigentlich auch egal. Ihre Stimme hörte sich immer noch ziemlich angeschlagen an - im wahrsten Sinne des Wortes. So stark hatte ich eigentlich gar nicht zuschlagen wollen. "Ich hätte dich nicht schlagen sollen. Ich wollte deine Meinung hören, ich hätte sie auch ertragen sollen. Oder dich nicht danach fragen. Wie dem auch sei..."
    Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, da fiel mir noch etwas ein. "Ich werde wieder in den Osten reisen. Und ich würde dich gerne mitnehmen."

  • Natürlich gab es keinen Anlass, ihren Worten Glauben zu schenken, stellten sie doch nichts als eine zweifelhafte Vereinfachung des Miteinanders dar, abgesehen davon, dass sie auch ohne gesprochen zu werden hinlänglich zu gelten hatten. Doch wer diente schon gerne einem meuchelnden Irren? Es war ihr allerdings tatsächlich vollkommen einerlei, ob er sie der Lüge bezichtigte oder nicht, umgekehrt tat sie dies auf jeden Fall. Welchen Anlass gab es auch, ihm irgendetwas zu glauben? Allem Anschein nach wusste er selber nicht so recht, wonach er denn eigentlich strebte. Abseits des Umstandes, seine eigenen, seltsamen Ansichten und Regeln mit Gewalt durchzuschlagen. Da konnte er sich seine hübschen Reden gerne sparen. Wahrscheinlich ging er nun zu dieser Taktik über, um ein weiteres Mal in besserem Licht dazustehen, ebenso wie in seiner Rolle als Lehrer armer, unterdrückter Kinder.


    Aus reiner Vorsicht wich Alsuna noch einen kleinen Schritt zurück, als er sich zum Gehen wandte, da er sein eigenes Gewissen wie es schien ausreichend erleichtert hatte und ihre Meinung dazu wohl nicht brauchte. Natürlich, so lebte es sich gewiss am Einfachsten. Ein wütender Schatten senkte sich über die Augen der Germanin, welcher jedoch nur wenig später von einem gleißenden Blitz verdrängt wurde. Hatte sie gerade richtig gehört? Er würde sie ‚gerne‘ in den Osten mitnehmen?!
    “So ein Pech aber auch, dass ich nicht gerne in den Osten gehen will!“ stieß sie nur wenig später rau hervor, ohne sich die Arbeit eines längeren Gedankenganges bezüglich dieses Themas zu machen. Es war einfach zu ungeheuerlich, als dass es einer größeren Überlegung bedurfte. Im ‚Osten‘, ein nicht gerade präzises Reiseziel, wäre sie vollkommen aufgeschmissen und noch ein gutes Stück einsamer als hier. Zudem lauerten dort gewiss eine größere Anzahl ebensolcher Fanatiker, nur dass sie deren Geplärr nicht einmal verstehen könnte!


    Ihr dies in einem lockeren Nebensatz mitzuteilen... Die reine Wut ließ Alsuna alle angebrachte Vorsicht vergessen und schnurstracks auf ihre Räumlichkeiten zustreben. Spätestens am morgigen Tage wäre sie verschwunden. Zwar hätte sie zu gerne miterlebt, wie Achilleos seine Pläne der darbenden Bevölkerung hier mitteilte, doch sollte sie noch lebensfähig hier heraus kommen, würde sie selbst auf ein solch amüsantes Spektakel gerne verzichten.

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