• Nacht. Zu beiden Seiten der Strasse ragten hohe Häuser auf, zwischen ihnen ging ich, wie in einer Schlucht, umweht von einem kalten Wind, der welke Blätter durch die Strassen trieb, und Fetzen von Abfall. Feine Regentropfen fielen, und legten sich feucht auf meine Stirn. Zu meinen Füssen - eine Pfütze, in ihr spiegelte sich blass, wie verwaschen, die Sichel des Mondes. Ich hob den Blick, und sah den Mond hinter der schrägen Silhouette eines Daches, von Wolken umgeben, ganz schmal, in kränklichem Weiss... Das Heulen eines Hundes liess mich zusammenzucken. Da, wieder. Ich ging schneller, sah über die Schulter, sah nur die Gasse, das schmutzignasse Pflaster. Ein kalter Schauder rann mir über den Rücken. Die Hunde... Ich hatte wieder von ihnen geträumt, war zitternd erwacht, war den Träumen und der Castra entflohen. Mitten in der Stadt war ich jetzt, irgendwo; ich hatte nicht auf den Weg geachtet, mich trieb die Unruhe und eine Angst, die ich nicht begreifen konnte. Gründe mir Sorgen zu machen, die hatte ich natürlich, seitdem man bei den CU auf den Blödsinn aufmerksam geworden war, den ich früher veranstaltet hatte - und Grund zu Zweifeln und Liebesqualen allemal... - aber diese Angst war irgendwie anders, tiefer, schlimmer... Unergründlich.
    ...brech ich den Rudergriff,
    fahr ich zur Unterwelt
    ruh ich mich endlich aus...

    Ein Refrain, der mir die ganze Zeit im Kopf herumging. Ich schüttelte den Kopf, ich versuchte die Worte fortzuschütteln, umsonst, sie blieben haften.
    Ruderhand, Totentanz...
    Dieses seltsame Lied, das hatte mir mal ein Seemann beigebracht, ein Ägypter, mit dem ich früher, also eine Zeit lang, öfter zusammen gewesen war. Der war ganz nett gewesen. Sein Name wollte mir aber nicht mehr einfallen. Seit langem hatte ich nicht mehr daran gedacht.


    Die Strasse spuckte mich aus, ich trat auf einen Platz, hatte mit einem Mal Weite um mich. Langsam überquerte ich ihn, und sah auf den Boden, wo sich im schwachen Mondlicht mein Schatten abzeichnete, nur schemenhaft, und jeder meiner Bewegungen folgte. Ein Schrein stand da, am Rande des Platzes, wurde deutlicher als ich näher kam, und aus der Dunkelheit schälte sich die Gestalt eines kleinen Kultbildes - Victoria, mit Siegeskranz, den Palmzweig erhoben. Sie war geschmückt, und frische Opfergaben lagen zu ihren Füssen. Da erst fiel es mir auf - ich war beschäftigt gewesen, heute, und hatte überhaupt nicht drangedacht - es war der Tag der Victoria!
    Es war der Jahrestag der Schlacht.
    Camerinus.... - Lucullus! Ich schloss die Augen, und hörte ihn wieder meinen Namen rufen. Aus weiter Ferne. "Faustus! Faustus." Unter meinen geschlossenen Lidern sickerten Tränen hervor. Der Wind zerrte am Saum meiner Paenula. Ich zog den dicken Stoff eng um mich und verharrte vor dem Schrein. Die Augen blicklos auf die Göttin gerichtet, sah ich die Gesichter meiner vielen, vielen gefallenen Kameraden, und unter ihnen immer wieder das von Lucullus.

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Krähenkreis, Niemandsland,
    fahr ich zur Unterwelt,
    ruh ich mich endlich aus...

    Der Refrain hallte mir in den Ohren, erklang im Rhythmus meiner Schritte, wurde immer schneller, als ich diese beschleunigte.
    ...brech ich den Rudergriff
    tanz ich den Totentanz
    ruh ich mich endlich aus...

    Ich hastete durch die Strassen. Der Regen war stärker geworden, klatschte mir kalt ins Gesicht.
    Warum... warum lebte ich noch... Ausgerechnet ich, während so viele andere gefallen waren, nur noch Asche waren, und Erinnerung, vielleicht ein Name, eingemeisselt in einer Gedenktafel. Andere, die doch viel bessere Soldaten als ich gewesen waren, mutiger, erfahrener und stärker... Mich hätte es genauso treffen können, oder viel eher, jedoch ich lebte, Lucullus aber war tot, die Parther hatten ihm den Hals durchgeschnitten, Lucullus der von Anfang an nicht an einen Sieg geglaubt hatte, der nicht in unser aller Roma Victrix-Geschrei eingestimmt hatte, Lucullus der warme braune Augen gehabt hatte, und zugleich etwas Unberechenbares, dazu einen trockenen Humor und kräftige Schultern, perfekt um den Kopf daran zu lehnen.
    Alles das war vergangen. Er war tot, ich lebte, und ich hatte das nicht verdient...
    Und so viel von dem was ich früher geglaubt hatte, hatte ich über Bord geworfen, statt dessen heulte ich jetzt mit den Wölfen... polierte täglich meine Rüstung, sang den Rekruten Loblieder auf den blinden Gehorsam und hoffte eines Tages Centurio zu werden. Der Faustus von früher hätte sowas verachtet.
    Andererseits... der Faustus von früher war echt ein Versager gewesen.


    Ich kam auf eine Brücke, und folgte ihrem breiten Bogen bis zum höchsten Punkt. Es war der Pons Cestius, ausgerechnet. Unter mir rauschte der Tiber, über mir brauste der Wind, er peitschte den Regen und riss mir die Kapuze vom Kopf, er stemmte sich gegen mich, und wirbelte hoch am Himmel die Wolken umher, so dass die Mondsichel immer mal wieder kurz zu sehn war, um abermals zu verschwinden. Dann wurde es ganz dunkel, und es war, als stünde ich im Nichts, sturmumtost.
    Ich machte einen Schritt zum Rand der Brücke, lehnte mich gegen die Brüstung, und wandte den Blick nach unten. Ein leichter Widerschein liess das Strömen des Wassers erahnen, tief - wirklich tief! - unter mir. Ich schauderte, und das nicht wegen dem kalten Regen. Der Faustus von damals war doch ziemlich dumm gewesen. Auf einmal verspürte ich eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem unbekannten Zwischenrufer, dessen Spott der ganzen Aktion ein Ende gemacht hatte.
    Fröstelnd richtete ich mich auf, wischte mir mit beiden Händen den Regen aus dem Gesicht. Es verlangte mich mit einem Mal nach Wärme, nach Stimmen und nach Gesellschaft, vielleicht könnte das diese ganzen Albtraum- und Erinnerungsfetzen endlich vertreiben...

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Es war mitten in der Nacht. Manche Menschen glauben, das würde für mich sowieso keinen Unterschied machen, weil die Schwärze vor meinen Augen nicht dunkler werden kann. Es ist einer dieser typischen Gedanken, die Sehende manchmal haben, so als würde sich die ganze Wahrnehmung eines Menschen nur auf seine Augen beschränken. Natürlich sehe ich in der Nacht genau so viel wie am Tag, nämlich gar nichts, aber meine Nacht ist trotzdem ebenfalls völlig anders als der Tag. Die heimlichen Geräusche der Dinge sind in der Nacht viel deutlicher zu hören als am Tag. Das Knacken eines Astes etwa, das Plätschern eines Brunnens, das Schwanken eines Baumes oder ein Fensterladen, der sich leise im Wind bewegt. Genau genommen, sind alle Geräusche deutlicher, weil die Gesamtmenge aller Geräusche geringer ist. Auch die Tierwelt hat andere Geräusche zu bieten, Nachtvögel und schleichende Ratten am Wegesrand. Außerdem ist es nachts grundsätzlich kälter als tagsüber, manchmal sind diese Temperaturschwankungen extrem, manchmal kaum zu spüren. Und natürlich werde ich auch irgendwann am Ende eines Tages müde. Zumindest manchmal.
    In dieser Nacht war ich kein bisschen müde. Am frühen Abend war ich mit Tuktuk aufgebrochen, um mich ins Nachtleben Roms zu stürzen. Wir waren tief eingetaucht, in ein ausgesprochen deftiges Essen, eine Menge Wein und eine göttliche, griechische Hetäre. Ich zumindest, Tuktuk hatte natürlich eine andere Frau abbekommen und wie üblich auch keinen Wein getrunken. Als wir aus der lachenden Kalypso hinaus schwankten - ich schwankte, Tuktuk wies mir nicht nur den Weg, sondern stützte mich auch noch - nieselte es leicht und mein Sklave behauptete steif und fest, er wüsste, wie wir nach Hause kämen. Zum Glück hatten wir dicke Umhänge dabei.


    Denn irgendwann regnete es und Tuktuk hatte keinen blassen Schimmer, wo wir waren.
    "Verdammter Regen!"
    "Sei nicht immer so negativ, Tuktuk. So ein bisschen Wasser wird dich nicht umbringen. Außerdem könnte es nach diesem Abend Ozeane vom Himmel schütten, es wäre immer noch eine wundervolle Nacht!" Mittlerweile war mein Kopf wieder halbwegs klar und ich hielt mein Gesicht nach oben. Dicke Tropfen platschten auf meine Haut und der darüber streichende Wind hinterließ eine angenehme Frische.
    "Wenigstens eine Laterne hätten wir mitnehmen sollen."
    "Das ist deine Welt, nicht meine."
    "Nachts sieht alles gleich aus in Rom."
    Ich lachte laut auf. "Na dann nehmen wir einfach die erstbeste Villa und quartieren uns ein. Komm schon, Tuktuk, es muss doch irgendwer unterwegs sein, den du fragen kannst."
    "Nur Betrunkene oder dunkle Gestalten, die nicht aussehen, als ob man sie etwas fragen sollte."
    "Himo huli reedu", neckte ich meinen Sklaven, denn es bedeutete in seiner eigenen Sprache, dass er ein Feigling sei. Tuktuk zog seinen Arm zur Seite weg, ließ mich allein im Regen stehen und schwieg. Ich stolperte einen Schritt vorwärts und blieb ebenfalls stehen. "Komm schon, wer findet den Weg nicht?"
    "Du auf jeden Fall nicht ohne mich."
    "Mit dir aber auch nicht."
    Tuktuk hakte sich wieder ein und wir gingen im Regen weiter.


    Bald drängte sich ein anderes Wassergeräusch als das des Regens in den Vordergrund. Allmählich fühlte ich mich wieder ziemlich ausgenüchtert und so langsam wollte ich nur noch irgendwo hin, wo es warm war.
    "Hör' doch mal." Vor uns war ein Fluss und zum Glück gab es nur einen in Rom. "Da ist der Tiber. Da waren wir doch schon mal, vielleicht findest du etwas, an das du dich erinnerst."
    Ich erinnerte mich deutlich an einige Tabernen, die wir nach dem Festzug der Fors Fortuna aufgesucht hatten. Eine davon würde sicherlich noch geöffnet haben und nach einem Becher Wein zum aufwärmen würde Tuktuk von dort auch bestimmt nach Hause finden.
    "Es steht jemand auf der Brücke."
    "Na wunderbar, da er nicht singt, ist er vielleicht nicht zu betrunken, um uns den Weg zum Forum zu erklären."
    "Er sieht ziemlich finster aus."
    "Gut, dann werde ich ihn fragen, mir es es gleich, wie er aussieht. Schwanke einfach ein bisschen und sag mir, wenn wir nahe genug an ihn heran sind."
    Ich rechnete fest damit, dass Tuktuk mir widersprechen würde, doch anscheinend hatte auch er genug vom Umherirren.


    Wir näherten uns Decimus Serapio, gerade als er sich aufrichtete. Ein paar Schritte vor ihm flüsterte Tuktuk leise, dass wir nahe genug an ihm dran wären. Ich begrüßte ihn, als wäre es mitten am Tag.
    "Salve! Entschuldige bitte, könntest du uns vielleicht sagen, wie wir von hier zum Forum kommen? Mein Freund hier hat ein bisschen über den Durst getrunken und ich selbst kenne mich leider überhaupt nicht in Rom aus." Im Grund hätte das schon gereicht, aber wenn ich schon fragte, dann richtig. "Oder vielleicht kennst du eine Taberna hier in der Nähe, die um diese Zeit noch geöffnet hat?"
    Ich spürte, wie Tuktuk neben mir zuckte. Eine weitere Taberna war nicht nach seinem Geschmack, aber in diesem Falle war mir das völlig egal. Er hätte mich immerhin schon längst nach Hause gebracht haben können.

  • Mit beiden Händen fuhr ich mir übers Gesicht, wischte mir die Regentropfen ab. Das Fallen des Regens und das Rauschen des Tibers erfüllte meine Ohren, ich war in mich selbst versunken, achtete kein Stück mehr auf meine Umgebung, und als ich die Hände wieder sinken liess, stand da, wie aus dem Boden gewachsen, wie aus der Schwärze der Nacht geformt, eine dunkle Gestalt, nur ein paar Schritt vor mir.
    Lucullus?! Mit einem unartikulierten Laut des Erschreckens zuckte ich vor dem Schatten zurück, wich nach hinten bis ich das kalte Brückengeländer in meinem Rücken spürte, was dem Zurückweichen ein Ende machte. Wirklich, im ersten Moment dachte ich, mein Freund wäre zurückgekommen, nach Jahresfrist, um mich auch auf die andere Seite zu holen! Wie er es gesagt hatte: 'Faustus! Wir sehen uns dann auf der anderen Seite!'
    Mein zweiter Gedanke war schon etwas weltlicher: Strassenräuber. Da stand nämlich noch jemand bei dem Mann, und der war schwarz wie die Nacht, hatte sich anscheinend vermummt. Meine linke Hand zuckte an den Gürtel, aber da war nur Gürtel, denn ich hatte bei meinem überstürzten Aufbruch glatt vergessen meinen Pugio mitzunehmen. Ganz toll, Faustus, ganz schlau. Kein vernünftiger Mensch läuft nachts unbewaffnet durch die Strassen von Rom, weil es praktisch eine Einladung ist - kommt her und überfallt mich - nur der Princeps Prior Decimus, vergisst seinen Dolch und lässt sich abstechen. Sie würden zwar nichts wertvolles bei mir finden, diese Ganoven, aber das könnte mir ja dann egal sein, sie würden meinen toten Körper von der Brücke werfen, und ich würde als hässliche Wasserleiche dem Meer entgegentreiben. (Vielleicht war es mein Schicksal auf dem Pons Cestius zu sterben, ein Schicksal welches man zwar herauszögern, dem man aber letzlich nicht entkommen konnte?)
    All das zuckte mir im Bruchteil eines Atemzuges durch den Kopf. Ja, ich gebe zu, ich war in jener Nacht ein wenig überspannt.


    Die Worte, die der Fremde an mich richtete, klangen allerdings sehr manierlich. Ach so, das waren nur zwei verirrte Zecher! Und der andere war gar nicht vermummt, nur sehr dunkel im Gesicht. Ich atmete tief durch.
    "Taberna. Ja. Taberna. Da gibts ein paar. Den 'alten Stiefel' zum Beispiel, die 'Bacchus-Laube'... oder die 'Amphore' oder 'Bei Charis', die haben alle ziemlich lang auf."
    Taberna - viele Menschen, warmer Würzwein, genau das brauchte ich jetzt. Die beiden Fremden schickte wohl ein guter Genius.
    "Ich wollte mich auch gerade zu einer davon aufmachen, da kann ich euch gern den Weg zeigen", schlug ich vor, versuchte auch mein Gegenüber genauer auszumachen, doch in der Dunkelheit sah ich ihn nur undeutlich. "Ist doch ein mieses Wetter, wirklich. Man meint, die Unterwelt hat ihre Pforten geöffnet, heut nacht..." Ich lachte nervös, und redete schnell weiter. Reden war gut. "Also, die Bacchus-Laube ist gar nicht schlecht, und gleich da drüben beim Circus Flaminius, da, wo man den Porticus sehen kann. Ach so, wenn ihr aber zum Forum wollt, geht's da entlang" - ich deute mit der Hand zum Ufer - "beim Marcellustheater rechts, dann, ähm, die erste links, und immer geradeaus. - Dann bist Du nicht von hier? Hört man gar nicht, woher kommst Du denn?"

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Fortuna liebte uns in dieser Nacht, im Nachhinein betrachtet vielleicht sogar übermäßig. Tuktuks finstere Gestalt war überhaupt nicht finster, zumindest soweit ich das nach seinen Worten beurteilen konnte. Mehr noch, als mich darüber zu freuen, dass wir nicht direkt einem Mörder in die Arme gelaufen waren, freute ich mich darüber, gegenüber meinem Sklaven Recht behalten zu haben. Dass es eben doch die beste Idee gewesen war, einfach jemanden zu fragen. Über die Gefahr bei Nacht in Rom machte ich mir zu dieser Zeit sowieso keinerlei Gedanken. Zugegeben, diesbezüglich war ich ziemlich naiv, aber in Ravenna gab es kaum Kriminalität, weder bei Nacht noch bei Tag. Ein paar Taschendiebe, kleinere Diebeszüge oder mal eine angeheuerte Schlägertruppe, die dem Geliebten der Ehefrau oder einem lokalpolitischen Konkurrenten Angst einjagen sollte, mehr nicht. Natürlich kannte ich die Schauermärchen über Rom bei Nacht, doch ich hielt sie für eben dies - Schauermärchen, die brave Ehemänner davon abhalten sollten, ihren am Tag schwer verdienten Lohn bei Nacht zu verzechen. Also hatte ich nichts zu befürchten, denn ich war weder eine Ehemann, noch verdiente ich meinen Lohn schwer.


    Der Mann vor uns schien sich von diesem Gerede ebenfalls nicht abhalten zu lassen. Entweder würde er also am nächsten Morgen Streit mit seiner Frau bekommen, oder er war eben auch kein Ehemann oder verdiente genug. Für mich jedenfalls schien Fortuna ihn persönlich gesandt zu haben, um uns den Weg ins nächste Gasthaus zu weisen.
    "Wunderbar, dann bringst du uns in die Taberna, Bacchus-Laube klingt gut, und ich zahle die erste Runde." Da ich nicht viel von Weingenuss mit Unbekannten hielt, stellte ich uns vor und löste auch gleich die Maskerade auf. "Ich bin Tucca, und der schweigsame hier heißt Tuktuk. Tatsächlich hat er auch nicht zuviel getrunken, er wollte nur nicht nach dem Weg fragen." Ich grinste und ignorierte den leichten Stoß in die Seite. Ich war zugegeben etwas redselig, was an dem Wein in meinem Blut lag. Andererseits war ich auch nüchtern nicht gerade verschwiegen und redete gern, wenn andere schwiegen. Stille mochte ich nicht. Wenn man nichts sieht, gibt es in der Stille wenig, mit dem man sich beschäftigen kann, außer mit sich selbst, und ich war kein Mensch, der gerne grübelte.


    "Wir sind aus Ravenna." Dass man das nicht hörte, lag vorwiegend daran, dass man bei Patriziern grundsätzlich nicht hörte, woher sie stammten (ganz davon abgesehen, dass sowieso alle Patrizier, die etwas auf sich halten, immer irgendwie aus Rom stammen und überall anders nur vorübergehend sind). Ausführliche Bildungsoffensiven und rhetorische Schulungen verhinderten dies, da es in unseren Kreisen als extrem provinziell galt, in provinziell gefärbtem Latein zu sprechen. Ich mochte die regionalen Unterschiede und freute mich immer, wenn ich irgendwo eine neue lateinische 'Unart' aufschnappte, aber natürlich nahm ich sie nicht an. Allerdings war der regionale Einschlag in Ravenna auch nicht sonderlich ausgeprägt und man musste schon längere Zeit dort verbracht haben, um ihn in allen Einzelheiten zu bemerken.


    "Dann stammst du wohl hier aus Rom, wenn dir dieser Regen als Ausguss der Unterwelt vorkommt? In Ravenna zieht manchmal der Sturm noch weitaus heftiger vom Meer herein. Das ist zwar eher selten, da das Mare adriaticum eines der ruhigeren Sorte ist, aber wenn, dann ist es unvergleichlich. Außerdem regnet es weitaus öfter, der Sommer hier war doch ziemlich trocken. Und das obwohl man mir versichert hat, dass das noch gar nichts sei und der Sommer erst dann als trocken gilt, wenn die Stadt im Gestank des Tiberschlicks versinkt." Dieser verpassten Erfahrung weinte ich nicht unbedingt nach.

  • Mir fiel auf, wie ausnehmend höflich der Fremde war. Und beherrscht. Über mein erschrockenes Zusammenfahren ging er einfach hinweg, so als hätte er es gar nicht bemerkt.
    "Ja sehr gut! Dagegen habe ich nichts einzuwenden.", antwortete ich grinsend. Da hatte ich unversehens schon einen sympathischen Zechgenossen gefunden - der noch dazu spendabel war - bessergesagt zwei. Aber der andere war wirklich schweigsam. Ich verbiss mir ein Grinsen, bei der Vorstellung, 'Tucca' und 'Tuktuk', das klang in der Kombination ziemlich drollig. Vielleicht waren es Künstlernamen?
    "Ich bin Serapio. Ach, Ravenna, da war ich auch schon mal. Zwei Mal. Da war aber gutes Wetter. Ist unglaublich schön mit den ganzen Kanälen, wirklich. Aber soviel habe ich von der Stadt leider nicht sehen können. - Nein, ich komme nicht aus Rom, ich bin Hispanier. Aus Tarraco!"
    Das brachte ich natürlich mit den gebührenden Stolz vor. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob man mir diese meine Herkunft eigentlich noch anhören konnte. Aber es hatte sich schon sehr abgeschliffen, ich glaube der Akzent kam nur noch dann durch, wenn ich wütend war, oder sonst in Aufruhr.
    "Mhm, ja die Stadt stinkt im Sommer oft wie die Pest. Echt bestialisch, in den tieferen Lagen. Aber trotzdem, sie ist mir lieber als jede andere. Rom ist einfach das Herz der Welt, man kann es schlagen hören..."
    Ich machte eine ironisch übertriebene, einladende Geste, sprach feierlich: "Hier entlang bitte", und setzte mich in Bewegung, den leicht abschüssigen Brückenbogen wieder hinunter. So im Dunkeln erwischte ich, schon nach ein paar Schritten den Rand eines Schlagloches, mein Fuss rutschte ab und landete platschend knöcheltief in der Pfütze.
    "Verdammt!" fluchte ich, "Finster wie in Plutos Arsch ist es hier!", und zog meinen Fuss rasch wieder zurück, wackelte mit ihm hin und her um das Wasser loszuwerden. Es lief zwischen den Riemen der Caligae hindurch - wenigstens waren die gut gefettet - und setzte den Weg fort.
    "'Tucca'...", fragte ich schliesslich, und blickte ihn neugierig von der Seite an. "...wie der Dichter, ja? Schmiedest Du auch Verse?"
    Sowas hätte ich normalerweise wohl nicht gefragt, aber ich sah ihn kaum, es war mitten in der Nacht, und er war ein Wildfremder, dem ich in der Menschenflut dieser Metropole wahrscheinlich nie wieder begegnen würde - das alles war ziemlich losgelöst.

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • "Aus Hispania!" rief ich begeistert aus und kassierte von Tuktuk sogleich einen weiteren Rippenstoß. Im Tagesrummel der Stadt wäre es vermutlich kaum aufgefallen, doch in der Nacht hallten meine Worte lauter durch den Regen, als ich beabsichtigt hatte. Meine Neugier und sicher auch der Wein im Blut ließen mich über Tuktuks Missmut hinweggehen. Wenn ich getrunken hatte, konnte er sich ziemlich viel erlauben. Außerdem beanspruchte ich ihn wirklich viel, seit wir in Rom waren, deswegen war er schon eine ganze Weile etwas gereizt. Da ich beschlossen hatte, über den Winter zu bleiben, würde ich mir diesbezüglich noch etwas einfallen lassen müssen. Aber ganz sicher nicht an diesem Abend. "Wenn wir im Trockenen sind, musst du mir alles darüber erzählen. Wie Tarraco ist, wie die Menschen dort sind, das Land und das Meer. Tarraco liegt doch am Meer?"
    Ich kannte bis dahin nicht sehr viele Menschen persönlich, die aus Hispania stammten. Genau genommen fiel mir kein einziger ein.


    Tuktuk ruckte an meinem Arm und ich folgte ihm. Er war einen Kopf kleiner als ich, weshalb ich normalerweise lieber meine Hand auf seine Schulter legte, um ihm zu folgen. Nachts allerdings, wenn er selbst nicht alles sah, und wenn ich schon etwas angetrunken war, hakte ich mich lieber ein. Wenn ich dann stolperte (natürlich nur wegen des Weines), konnte er mich immer noch aufrecht halten. Wir gingen nicht ganz so schnell, denn anscheinend sah Serapio genauso viel oder wenig wie Tuktuk. Ich versuchte mich gerade zu orientieren und zu hören, wo Serapio vor oder neben uns war, als sein Fluch es ziemlich deutlich machte.
    "Er hat auch keine Lampe, mh?" fragte ich meinen Sklaven etwas leiser.
    "Nein."
    "Siehst du, wären wir in Ravenna, würde ich dir den Weg zeigen. Wir müssen also doch öfter schon bei Tag durch die Tabernen ziehen, damit ich die Wege kennen lerne."
    Tuktuk brummte nur unzufrieden. Aber auch darüber ging ich hinweg. Er hatte seine Chance für diesen Abend verspielt, da er den Weg zurück zur Villa Claudia nicht gefunden hatte. In diesem Fall hätte er schon längst in seinem Bett liegen können.


    Wir bewegten uns auf einer Geraden, was im Stadtkern Roms nicht ungewöhnlich war, und ab und an zog oder schob mich Tuktuk wortlos in die eine oder andere Richtung, vermutlich um Pfützen zu umrunden. Der Regen ließ nicht nach und ich zog die Kapuze meines Umhangs etwas tiefer ins Gesicht. Ich mochte es nicht, wenn das Wasser an meiner Nase herab rann und sich in Tropfen an ihrer Spitze sammelte, was leider immer ziemlich schnell passierte. Serapio war es, der das Plätschern des Regens mit seiner Nachfrage durchbrach.
    "Wie der Dichter, ja", bestätigte ich. Leider hatte der dichtende Tucca nichts wirklich Bestechendes hinterlassen und war uns vermutlich nur noch deswegen bekannt, weil er in einer Satire von Plotius neben seinem Freund Vergil genannt wurde. Obwohl die meisten Menschen mich mit meinem Cognomen ansprachen, war es der langweiligste Teil meines Namens, denn er hatte niemals zu einem Kaiser gehört.


    "Aber ich dichte nicht, nein. Wenn ich anfange zu reimen, dann treibt das auch den letzten Gast aus meinem Haus." Bei der Vorstellung musste ich lachen, denn sie war wirklich nicht übertrieben. "Ich spiele nur die Kithara. Und manchmal singe ich dazu. Und manchmal singe ich auch ohne die Kithara." Ich grinste immer noch breit. "Aber erzähl das bloß niemandem!"
    Bezüglich Musik und Gesang, wie auch Tanz, waren wir Römer irgendwie ein bisschen verklemmt, insbesondere die höheren Schichten. Während in den Tabernen und auf bäuerlichen Festen durchaus auch in diesem Sinn gefeiert wurde, gestatteten wir es uns nur, dass Sklaven oder sogenannte 'Künstler' (oft Peregrine aus Achaia, das war besonders vornehm) uns mit ihrer Musik erfreuten und für uns Tanzten. Ich wusste nicht, weshalb das so war, es ziemte sich einfach nicht für einen Patrizier. Vermutlich deswegen, weil gutes Spiel viel Übung erforderte und er besseres mit seiner Zeit anzufangen wissen sollte, Politik treiben oder sich sonst für das Imperium einsetzen. Ich hatte in dieser Hinsicht, wie auch einigen anderen, den Vorteil der Narrenfreiheit. Nicht nur, dass ich meine Zeit nicht mit dem Politik treiben verschwenden musste; weil ich nichts sah, gestand man mir auch innerhalb meiner Schicht mehr Macken zu als üblich (außerhalb meiner Schicht war es nicht so gravierend, dem Adel gestand man sowieso ziemlich viele Macken zu). Andererseits würde es auch kaum einen Unterschied machen, wenn Serapio es irgendwem erzählte. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich gering, dass er irgend wen kannte, der mich kannte. Nicht nur, weil Rom ein riesige Stadt mit tausenden Einwohnern war, sondern auch, weil ich hier sowieso immer noch kaum jemanden kannte. Das Herumkommen in Rom war nicht so einfach, wie ich mir es vorgestellt hatte, was vermutlich auch an meiner Verwandtschaft lag, die mehr in sich ruhte, als dass sie sich irgendwo zeigte.
    "Und dir, Serapio, was liegt dir mehr, das Dichten oder das Singen?" Einen nächtlichen Zecher konnte man das ohne weiteres fragen. Nach genügend Wein fing jeder Mann an zu singen oder zu reimen - wenn er nicht vorher schnarchend unter dem Tisch lag.

  • Das Rauschen des Tibers verklang hinter uns. Schon konnte man die Arkaden des Circus Flaminius ausmachen, dort schimmerten ein paar Lichter, gedämpft durch die Regenschleier. Ich ging langsam die Strasse entlang, setzte vorsichtig die Füsse um nicht auszugleiten, und grinste dabei in mich hinein, denn ich war geschmeichelt darüber dass Tucca aus Ravenna die Erwähnung meiner Heimat mit solcher Begeisterung aufgenommen hatte. Breiter noch wurde das Grinsen, als er von seiner künstlerischen Betätigung sprach, gleich hatte ich eine Horde Gäste vor Augen, die gequält, die Hände auf die Ohren gepresst, die Gesichter schmerzverzerrt, vor einem selbstvergessen deklamierenden Tucca das Weite suchte.
    "Nein, meine Lippen sind versiegelt!", lachte ich. "Die Kithara, ah, ja das ist ein tolles Instrument!"
    Das war schon eine sehr vertrauliche Information. Ich glaube, er war doch betrunkener, als ich zuerst gedacht hatte, und anscheinend auch nicht mehr so sicher auf den Beinen, so beflissen wie sein Kumpel ihn am Arm stützte. Aber diesen Vorsprung gedachte ich bald aufzuholen.
    " Ja also, das Singen liegt mir nicht so. Eher das Mit-Singen. Aber ich dichte..."
    Es war gar nicht einfach, das jemand anderem gegenüber zuzugeben. Ich war gewohnt meinen Hang zur Poesie sorgfältig für mich zu behalten, und meine eigenen Kreationen versteckte ich immer tief in meinem Strohsack, denn wenn die Soldaten das gewusst hätten, hätte ich einen schweren Stand gehabt. (Ausser meine alten Contubernales, die kannten eh fast alle meine dunklen Geheimnisse und ich ihre.)
    "...manchmal, ein paar Zeilen.", schwächte ich diese Aussage darum gleich ab. "Und Musik mache ich auch. Die Syrinx spiele ich, und die Tibae, also einigermassen, ich bin halt ausser Übung, leider, ich habe zu wenig Zeit dafür. Aber das darfst Du natürlich auch keiner Menschenseele verraten.... - Und was für eine Art von Liedern spielst Du, Tucca, oder welches am liebsten?", wollte ich nach diesem Geständnis jetzt neugierig wissen.


    Etwas vor uns öffnete sich eine Türe, ein breiter Lichtstrahl fiel hinaus, und entriss der Dunkelheit ein Stück nasses Pflaster und vom Regen aufgewühlte Pfützen. Im Rinnstein trieben schlaffe, durchweiche Abfälle gen Tiber. Fetzen von Lachen und von fröhlichem, nicht gerade sehr melodischem Gesang, wehten zu uns, als ein paar Leute hinauswankten, kurz zeichneten sich ihre Schatten langgezogen in dem Lichtschein ab, dann fiel die Türe wieder zu und die Männer torkelten weinselig in die Nacht hinein.
    "Da ist es schon."
    Ich beschleunigte meine Schritte, trat unter das Wirtshausschild, von dem ein fetter, bekränzter Bacchus uns schelmisch zuwinkte, schlug die Kapuze zurück und stiess meinerseits schwungvoll die Türe auf.
    Aah! Licht und Wärme, Stimmengewirr und Würfelgeklapper, Becherklirren und und naja, Leben eben. Es roch nach Wein und erhitzten Menschen, nasser Wolle und dem Rauch der Öllampen, die flackernd und russend an Ketten von der Decke herunterhingen. Bunte Fresken, auch schon ziemlich abgenutzt und fleckig, zierten die Wände - pralle Trauben, Bauersleute bei der Weinernte, und so weiter, hübsche Mädchen die mit bloßen Füssen die Weinbeeren zerstampften, ithyphallische Satyren die lüstern aus dem Gebüsch lugten, und darüber thronte wieder der allgewaltige Bacchus, soff und kratzte sich mit dem Thyrsosstab, und betrachtete wohlgefällig das Treiben.


    Sogar ein Feuer brannte im offenen Kamin. Ich erspähte da in der Nähe einen freien Tisch, und drängte mich schnell dahin, und eroberte ihn für uns, in einem kühnen Handstreich. Zu den anderen beiden zurücksehend, meinte ich "Hier?", mit lauter Stimme um durch den Lärm zu dringen. Meine Paenula, die vom Regen ganz schwer war, zog ich mir über den Kopf und hängte sie an eine Haken neben dem prasselnden Feuer, da konnte sie in Ruhe vor sich hintropfen.

  • "Syrinx und Tibia - aber doch nicht auf einmal, oder?" feixte ich gut gelaunt. "Wir sollten einmal zusammen spielen, die Syrinx passt ausgezeichnet zur Kithara." An diesem Tag konnte ich das frei heraus vorschlagen. Nach dem Zechen würden wir uns vermutlich sowieso nie wieder sehen. "Ich hatte mal eine Sklavin, Imamé, die spielte die Syrinx ganz wundervoll." Leider war es genau genommen nicht meine Sklavin gewesen, sondern die meiner ersten Ehefrau Philonica. Sie war auch nicht nur im Spiel auf der Syrinx ganz wundervoll gewesen, sondern auch in so manchen anderen Dingen, die einen Mann erfreuten. Nach der Scheidung hatte ich sie Philonica abkaufen wollen, aber sie hatte es mir aus reiner Bosheit verweigert und sie anderweitig verschachert. Leider fand ich nie heraus, an wen, doch wie meine Exfrau mir mit größter Freude mitgeteilt hatte, lebte sie nun am Ende der Welt. Manchmal dachte ich noch an die wundervolle Imamé und ihr Spiel, aber tief in meinem Inneren befürchtete ich, dass sie längst ihren Tod gefunden hatte.
    An diesem Abend dachte ich nicht weiter über sie nach. Mein Kopf wackelte unbestimmt hin und her, was im Dunkeln aber vermutlich nicht auszumachen war. "Ich versuche mich an allem, was mir irgendwann an die Ohren kommt, ich habe ziemlich viel Zeit zum Üben. Mein Repertoire umfasst alles mögliche, angefangen bei Hirtenliedern aus Achaia, über raetische Feiertagsgesänge und Liebeslieder aus Aquitania, bis zu etruskischen Klageliedern. Letztere gehören zu meinen Favoriten, mit der richtigen Spannung kann die Kithara herrlich düstere Töne von sich geben."


    Vor uns wurde es lauter, in dieser regnerischen Nacht hätte man fast von 'lebhaft' sprechen können. Lachen, Musik und das Schlagen von Holz auf Holz drangen an meine Ohren und Tuktuk legte einen Schritt zu. Serapio trat vor uns ein.
    "Stufe auf", sagte Tuktuk leise, und ich spürte, wie er die Tür geöffnet hielt. "Zwei Stufen ab", folgte, und wir standen im warmen Inneren der Taberna. Ich konnte den Wein riechen, den Rauch von billigem Lampenöl, jede Menge Kundschaft und etwas zu Essen, vermutlich ein Eintopf aus den Resten des Tages. Die Kundschaft war auch nicht zu überhören, in einer Ecke wurde zielich schief gesungen und im Takt dazu auf den Tisch geschlagen, in einer anderen Ecke freute sich gerade jemand lauthals über drei liegende Hunde beim Würfelspiel, und dazwischen hing das beständige Wabern aus etlichen Gesprächsfetzen. Ich schlug die Kapuze zurück und fuhr mit meiner Hand durch das trotz des Stoffes feuchte Haar.
    "Zu eng", murmelte Tuktuk neben mir.
    Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir, etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen, und suchte seine Schultern. Er half mit seiner Hand nach, dann schoben wir uns im Gänsemarsch zwischen Tischen und Stühlen hindurch. Auf engen Wegen war die Polonaise die einzige Möglichkeit des Durchkommens für mich. Um sich hinter mich zu stellen und mich von hinten zu dirigieren, dazu war Tuktuk zu klein, und vermutlich hätte es auch im anderen Fall nicht funktioniert. Tuktuk mochte diese Art der Fortbewegung gar nicht, sie zog anscheinend mehr Aufmerksamkeit auf uns, als wenn ich nur eine Hand auf seiner Schulter hatte und schräg hinter ihm ging. Mir war die Art der Fortbewegung ziemlich egal, solange wir voran kamen. Dumme Sprüche hörte ich selten und merkwürdige Blicke sah ich sowieso nicht.


    "Hier" antwortete mein Sklave auf Serapios Frage und sprach damit gleichzeitig überhaupt das erste mal mit ihm. Allerdings blieb es bei diesem einen Wort. "Dein Umhang, njaatigi."
    Ich löste die Fibel (eine in sich geschlungene Seeschlange, die sehr fein gearbeitet war) und hielt meinem Sklaven den Umhang nach links hin. Dann stand ich kurze Zeit tatenlos in der Gegend herum und wartete, während Tuktuk was auch immer damit tat. Schließlich tauchte er rechts neben mir wieder auf, schob mich ein Stück weiter nach vorn, nahm meine Hand und zog sie nach unten. Ich fühlte groben Stoff unter meinen Fingern.
    "Oha, sogar gepolsterte Bänke. Dann kann der Wein auch nicht schlecht sein." Vorsichtig tastet ich ein Stück über die Bank und dann zur Seite, wo der Tisch stand, bevor ich mich dazwischen schob und Platz nahm.
    "Du musst weiter hineinrücken, njaatigi."
    Ich tastete die Bank ein Stück weiter und rückte auf. Neben mir setzte sich Tuktuk. Da er keine Anstalten machte, mich noch weiter zu schieben, ging ich davon aus, Serapio würde uns gegenüber Platz nehmen.


    Wir mussten nicht lange warten, da kam auch schon Bacchus' Helferlein in Form einer Frau mit einer rauen, aber nicht unangenehmen Stimme. "Willkommen in Bacchus' Laube, die Herren. Was darf's sein?"
    Tuktuk stieß mich leicht in die Seite, um mir anzudeuten, dass sie uns meinte. "Wein. Ich lehnte mich ein Stück nach vorn. Meine Nase wies vermutlich nicht einmal mehr annähernd in die Richtung, in der etwa das Gesicht der Frau sein musste, denn zu fortgeschrittener Stunde vergaß ich immer völlig, dass der sehende Mensch auf Blickkontakt aus war. Viel wichtiger für mich war in diesem Geräuschgewirr sowieso, dass mein Ohr zu ihrem Mund gewandt war. "Aber nicht den billigen, er soll schon nach etwas schmecken."
    "Wir haben einen angenehm süffigen Tropfen aus Latium, drei Jahre gelagert. Oder soll's etwas exotisches sein, dann hätten wir auch noch einen Wein aus Dalmatien, ist etwas herber."
    Dalmatia fand ich nicht unbedingt exotisch. "Latium klingt gut. Bring uns davon eine Kanne und zwei Becher, und dazu einen Becher Milch."
    "Milch?" Die Skepsis war förmlich aus ihrer Stimme herauszuhören.
    "Ja, Milch."


    Da keine weitere Frage mehr zu vernehmen war, schien sie die Bestellung so hinzunehmen und sich aufgemacht zu haben, die Getränke zu holen. Ich lehnte mich wieder zurück und rieb meine Hände aneinander. Die Bildfläche des Siegelringes rieb über die Innenseite meiner Rechten, denn wenn wir um die Häuser zogen, trug ich ihn immer nach innen. Obwohl ich mir einiges auf meine Herkunft einbildete, musste man sie mir zu solchen Gelegenheiten nicht gleich ansehen.
    "Ich hoffe, der Wein aus Latium ist für dich in Ordnung, Serapio? Ansonsten können wir danach immer noch eine Kanne aus Dalmatia ordern. Hispania ist immerhin ziemlich groß, das reicht sicher auch für zwei Kannen", grinste ich über den Tisch hinweg.

  • Was machten die beiden denn da?? Irritiert sah ich, wie sie sich hintereinander, Tucca die Hände auf Tuktuks Schultern durch den Schankraum hindurch bewegten, als würde sie ein Gespann spielen, oder wären ein Fragment eines Reigens... Ich hätte das für einen Scherz oder eine scherzhafte Huldigung an den Schutzpatron der Kneipe gehalten, aber auf ihren Gesichtern war kein Grinsen zu sehen, sie hatten eine Selbstverständlichkeit an sich, die das ganze um so bizarrer machte. Ich setzte mich, verwundert, und auch von anderen Tischen trafen sie ein paar komische Blicke als sie vorübergingen. Ein paar gute Manieren hatte ich mir aber auch, trotz der Legion, bewahrt, weshalb ich darüber hinwegging und nicht zu sehr starrte, so wie Tucca zuvor von meinem Erschrecken, als er so plötzlich aus dem Dunkeln getaucht war, keine Notiz genommen hatte. Noch ordnete ich es unter 'Künstler sind manchmal seltsam', oder 'Künstler glauben seltsam sein zu müssen' ein.
    Sein Repertoire klang interessant, und der Gedanke mal mit jemand anderen zusammenzuspielen, auch wenn es wahrscheinlich nur so dahingesagt gewesen war, gefiel mir sehr. Mit meinem Centurio hatte ich ja auch ein paarmal zusammen musiziert, nachdem ich zu meinem Erstaunen herausgefunden hatte dass er auch die Kithara spielte, und das hatte mir wirklich Spass gemacht, leider hatten wir nur sporadisch die gemeinsame Zeit dazu gefunden. Immer der Dienst. - Unser Cornicen war ja auch ein verkappter Künstler, ich wusste dass er darunter litt, immer nur immer wieder die selben Signale zu schmettern, wo doch sein Instrument so viel mehr Möglichkeiten bot. Er probte schon eifrig ein Abschiedsständchen für Aristides. Aber Cornu und Flöte passten für mein Empfinden nicht so besonders gut zusammen. - Ich streckte die Beine unter dem Tisch aus, und liess den Blick durch den Schankraum wandern, der mich kurz ein bisschen an die Kneipe erinnerte, in der ich mir mal schlecht und recht was mit meinem Flötenspiel dazuverdient hatte, in diesen verschwommenen Zeiten damals, aber es war wohl mehr das Gespräch das mich darauf gebracht hatte, denn die Bacchuslaube war eindeutig ein sehr viel solideren Lokal.


    Tucca stand ja immer noch. Erst als er sich, tastend und mit Anweisung Tuktuks, auf die Bank niederliess, kam mir der Gedanke, er könnte möglicherweise nichts sehen? Halb betroffen, halb neugierig ob das wirklich so war, betrachtete ich ihn, der mir nun gegenübersass. Irgendwie hatte ich Hemmungen ihn direkt zu fragen. Er sah gut aus, soviel war schonmal klar, und war gediegen gekleidet. Seine Züge waren, auf eine vergeistigte Weise, schön... - seine Augen grau, und schienen an sich ganz normal, aber ihr Blick war irgendwie vage. Jedenfalls sah er mich nicht an, und auch nicht die Schankfrau, obwohl deren Ausschnitt sehr dazu geeignet war, alle Blick auf sich zu ziehen. Auch meinen, obwohl ich mich für den Inhalt nicht begeistern konnte, und sich mir eher die Frage aufdrängte: Wie hält das??
    Jedenfalls entsprach Tucca nicht meinem Bild von einem Blinden... so jemandem wie dem Bettler der immer am Herculesbrunnen rumsass und schnorrte (wobei das vielleicht nur seine Masche war), oder dem mageren Blumenmädchen das man oft in der Via Nomentana sah, oder meinem uralten iberischen Grossonkel der in seinen letzten Jahren immer weniger gesehen hatte und dafür verbiestert, von der Ofenbank aus, Magd und Knecht terrorisiert hatte. - Dass der, über den ich da so mutmasste, mich auf einmal wieder ansprach, schreckte mich aus den Spekulationen auf.
    "Latium. Latium ist wunderbar. Die zweite Runde geht dann aber auf mich."
    Ich streifte seinen stillen Begleiter mit einem Blick - wie konnte man bloss Milch trinken, scheusslich, ganz und gar barbarisch - und stützte mich mit den Unterarmen auf die Tischplatte, beugte mich ein Stück zu Tucca vor.
    "Tucca, dann kennst Du vielleicht dieses Lied? Es kommt, glaube ich, aus Ägypten. Das geht so..." Ich summte ein paar Takte, unterbrach mich, es war eine eintönige, fremdartige, aber irgendwie auch aufpeitschende Melodie, die nicht so leicht wiederzugeben war. Schon gar nicht in einer Taverne wo von allen Seiten Lärm erklang. "Nein, warte, das war nicht richtig. Eher so..." Noch einmal versuchte ich es, traf es jetzt besser. Ruderhand, Krähenkreis, Niemandsland. "Das geht mir die ganze Zeit im Kopf herum. Es ist aber nur ein Teil. An das Ganze kann ich mich nicht mehr erinnern..."
    Mit den Fingern trommelte ich auf die Tischplatte, und hielt meine Augen auf die seltsam unbestimmten grauen mir gegenüber gerichtet um mich dann schliesslich doch, vorsichtig, zu erkundigen: "Entschuldige die Frage, aber kann das sein, dass Du, ähm, nicht so gut sehen kannst?"

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Ich konzentrierte mich auf Serapios Summen. Er hatte ein schöne Stimme, melodisch, ein bisschen rau, aber sicherlich konnte er auch gut damit singen. In diesem Moment allerdings kam er aus dem Takt und fing noch einmal von vorne an. Bald summte ich mit, ohne das Lied zu kennen, im Versuch in die Melodie zu finden. Alle Lieder folgten einer Harmonie und bei vielen konnte man sich das Ende zusammen reimen, wenn man den Anfang kannte. Dann trommelte Serapio, und ich glaubte fast, dass ich das Lied vielleicht doch kannte, als er plötzlich die Frage nach meinem Sehvermögen stellte. Ich musste lachen. Ich konnte es einfach nicht zurückhalten. Die Frage kam auf einmal so unvermittelt zwischen das Summen und Trommeln, dass sie irgendwie grotesk war. Beinahe so, als müsste man sehen können, um summen zu können. Andererseits konnte ich es Serapio nicht verdenken, früher oder später kam sie immer, diese Frage.
    "'Nicht so gut' wäre noch eine Untertreibung. Ich sehe nicht das geringste, nicht einmal Licht und Schatten."
    Ich vermied es, von Schwärze oder Dunkelheit zu sprechen, denn um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mehr genau, was es war. Ich konnte mich erinnern, mich anfangs vor der Dunkelheit gefürchtet zu haben. Aber das war alles schon so lange her, dass ich nicht einmal mehr wusste, ob meine Erinnerungen an das Sehen tatsächlich Erinnerungen an das Sehen waren oder nur etwas, wovon ich glaubte, dass so das Sehen gewesen war. Dennoch war mir war das Thema ganz und gar nicht unangenehm. Meine Blindheit war immerhin ein Teil von mir und es war für mich ganz natürlich, nichts zu sehen.


    Allerdings gab es etwas, das mir diesbezüglich unangenehm war, und da ich keine Acht darauf gehabt hatte, wohin meine Nase wies, keimte eine Befürchtung in mir auf. Ich wandte den Kopf ein Stück, so dass meine Augen Serapio nicht anschauten, egal wohin sie gerichtet waren.
    "Ich habe doch nicht etwa gestarrt, oder? Das tut mir leid, es war keine Absicht. Ich kann das nur schlecht koordinieren."
    Ich grinste ein bisschen verlegen. In der ersten Zeit als ich nichts mehr gesehen hatte, hatte ich immer versucht, mein Gegenüber anzublicken ohne es zu sehen, weil ich glaubte, dass dann niemand bemerken würde, dass ich blind war. Eines Tages aber hatte mir mein Onkel gesagt, ich würde starren, und das wäre ein ganz unguter Blick. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass es wie der böse Blick der alten Hexe Perictione war, die früher unter den Arkaden des Circus Maximus Flüche verkauft hatte, und manchmal für uns Kinder als furchterregende Drohung herhalten musste ('Wenn du nicht aufhörst bei Tisch zu zappeln, wird dich irgendwann noch der Blick der Perictione treffen!'). Deswegen hatte ich danach versucht, meine Augen nicht mehr meinem Gegenüber zuzuwenden. Mit der Zeit allerdings war mir der ganze Gedanke fremd geworden. Blicken und angeblickt werden lag nicht mehr in meinem Bewusstsein, und das eine war so schwer wie das andere. Wenn ich daran dachte, hielt ich meine Nase immer ein bisschen gesenkt, um nicht zu starren, allerdings doch immer in die Richtung meines Gegenübers, um anzuzeigen, mit wem ich sprach. Aber manchmal vergaß ich es einfach, denn im Grunde war es mühselig, und manchmal wollte ich mich auch einfach nicht in diese sehende Welt mit ihren ganzen Vorgaben einpassen, die überhaupt keinen Sinn mehr für mich ergaben.


    Die Getränke wurden auf dem Tisch abgestellt, wortlos, aber unüberhörbar. Irgendjemand schenkte ein, vermutlich Tuktuk, denn er stellte kurz darauf einen Becher vor mir ab.
    "Der Wein, njaatigi." Er klopfte mit dem Finger gegen den Becher, damit ich hören konnte wo er war.
    Ich tastete dennoch vorsichtig, denn es war zu laut, um mich nur auf mein Gehör zu verlassen. Außerdem wollte ich Serapio nicht noch verschrecken, indem ich den Wein über den Tisch kippte. Zugegeben, so etwas passierte mir wirklich selten, aber gerade spät am Abend, beziehungsweise früh am Morgen doch ab und an, auch wenn es so spät noch nicht war (das glaubte ich zumindest). Es war ein Tonbecher und ich spürte die Vertiefung einer Verzierung unter meinem Daumen. Da ich davon ausging, dass mein Sklave auch Serapio eingeschenkt hatte, hob ich schließlich den Becher.
    "Auf die Lieder aus allen Ländern des Erdkreises und darauf, dass sie uns niemals ausgehen mögen!"
    Zugegeben, ein etwas seltsamer Trinkspruch, aber es war zugegeben auch eine seltsame Nacht, irgendwie.

  • Was geschah? Er lachte. Dabei hatte ich ja schon Bedenken gehabt, ihm mit der Frage zu nahe zu treten. Perplex lehnte ich mich wieder zurück, und er bestätigte ganz unbefangen meine Vermutung. Bona Dea, wie entsetzlich, der arme Mann! Betreten von so viel Unglück, gerührt von solcher Würde es zu tragen, betrachtete ich Tucca voll Mitleid, dann warf ich unwillkürlich einen Blick in die Runde, durch den Raum der Taverne, beim Gedanken daran was ihm alles entging! Weder die Gesichter der Menschen konnte er sehen, noch ihre Gestalt, nicht die Linien im Holz der alten Balken, die Formen der Schatten an den Wänden oder die komischen Fresken, nicht die züngelnden Schattierungen von Rot und Gelb und Glutweiss in der Feuerstelle, wo gerade knackend ein Scheit zerbarst. - Andererseits entgingen ihm natürlich auch die hässlichen Bilder des Lebens, aber das war es wohl kaum wert. Obwohl... ein blinder Sänger, jemand der sich von Äusserlichkeiten, vom Trug der Oberflächen nicht im Geringsten täuschen liess... das hatte schon etwas mythisches an sich, und etwas tragisches zugleich!
    "Nein nein, gar nicht", meinte ich schnell, etwas nervös auch, denn ich wollte nichts falsches sagen und ihn womöglich beleidigen, "Du hast mehr so an mir vorbeigesehen..." - konnte man da 'sehen' sagen? Eigentlich nicht. - "...äh, gestarrt - nein, nicht wirklich gestarrt meine ich, will sagen es hat so ausgesehen als würdest Du an mir vorbeisehen."


    Glücklicherweise kam jetzt, bevor ich mich weiter in meinen eigenen Worten verstricken konnte, der Wein, mit dem man sich beschäftigen konnte, und Tuktuk schenkte mir freundlicherweise mit ein.
    "Danke." Ich ergriff den Becher und prostete Tucca zu. "Auf die Lieder... und die Musiker, die sie spielen, und auf die Sänger - die ihre Kehle immer gut feucht halten müssen!"
    Grinsend prostete ich auch dem Bacchus an der Decke noch zu und opferte ihn einen kleinen Schluck, den ich mit ausgestrecktem Arm über den Rand meines Bechers hinweg in die Feuerstelle schwappen liess. Dann trank ich selbst. Das tat gut! Ich setzte den Becher erst ab als er halb leer war. Ich bin ja kein Säufer, wirklich nicht, aber mehr als früher trinke ich schon, das bleibt irgendwie nicht aus beim Soldatenleben, und ausserdem verlangte diese Nacht nach einem Rausch.
    "Nicht schlecht!", lobte ich den Wein, der etwas erdiges, dunkles an sich hatte, und kostete noch den Nachgeschmack aus. In einer Ecke der Kneipe schwoll gerade der Gesang an, schief aber fröhlich hörte man da von der lustigen Romanze des durstigen Wandersmannes mit dem Wirtstöchterlein. Das hatten wir auch manchmal gesungen. In die Einsamkeit hinausgegröhlt, in die Hügel, das Schwemmland, in die Steinwüste deren grenzenlose Weite einen so verloren machen wollte. Eine fremde Leere, die die Stimmen verschluckte... eine Ebene rostbraunen Staubes. Mit Schakalen die das Blut der Gefallenen leckten. - Ich blinzelte. Schluckte und starrte in meinen Becher. Trank noch einen tiefen Zug, um dann unvermittelt, mit übertriebener Munterkeit, ziemlich hastig weiterzureden.


    "Hispania! Sagtest du nicht Du interessierst Dich für Hispana? Nun es ist - naja, das sagen viele von ihrer Heimat, aber in diesem Fall ist es schon wahr - der schönste Fleck auf der Welt den man sich nur vorstellen kann. Das Licht dort ist klarer als anderswo, es erfüllt alles, durchdringt die Dinge, und umgibt ihre Konturen mit einer Art... Glanz. Das Meer, bei Tarraco an der Küste ist von einem so irrsinnig tiefen Blau, dass man es nie vergisst wenn man es einmal gesehen hat..."
    Gesehen. Ich versuchte es mir anders vorzustellen, anders zu schildern.
    "Man hört die Möwen kreischen, und die Wellen branden und bekommt Sehnsucht selbst zur See zu fahren. Wenn der Wind von den Bergen kommt - wir haben hohe, schroffe Berge, gleich im Hinterland - bringt er den Duft der Kräuter, und der Steineichenwälder, und die Wärme der Sonne auf den Felsen mit sich, und wenn er den Hafen erreicht, spielt er in der Takelage der Schiffe, zupft auf den Wanten wie auf Saiten, lässt die Segel rauschen, die Taljen klimpern und die Masten knarren... wie eine Melodie.
    Mhm, und die Leute dort sind ziemlich entspannt, im Vergleich zu hier geht alles etwas langsamer. Aber, naja, es ist eben Provinz, viele sind etwas rückständiger in ihrem Denken... also, nichts gegen die alten Werte und die Tugenden die unser Imperium gross gemacht haben, ich meine damit eher so eine gewisse Muffigkeit, wenn Du verstehst was ich meine."

    Noch ein Schluck - schon war der Becher leer.

  • Den ersten Schluck Wein spülte ich durch den Mund und versetzte ihn mit der Zunge in Bewegung, bevor ich ihn den Gaumen hinab rinnen ließ. Er hatte eine schwere Note, die pelzig auf der Zunge liegen blieb, mit einem leicht süßen Abgang, der den Magen wärmte. Er war vielleicht nicht besser als der erste Becher, den ich an diesem Abend getrunken hatte, aber ganz sicher besser als der letzte zuvor. Unter dem Tisch begann mein Fuß im Takt des Liedes zu wippen, das durch den Raum zog. Es war eines dieser Lieder, die man bei ungezwungenen Landpartien mit ungezwungenen Freunden anstimmte. Ich kannte einige von diesen ungezwungenen Kerlen, die in Ravenna ihr Leben nur so in den Tag hinein lebten, die Taugenichtse ihrer Familien, Abenteurer wie mein Freund Platorinus einer war, Faulpelze wie Crepereius Asper oder Einfaltspinsel wie Herminius Rullus. In so einer Gesellschaft begann man auch am Tag schon zu Singen. Ein bisschen vermisste ich sie wohl, doch Platorinus war auf Reisen und Asper hatte die Familie am Ende doch noch nach Gallia abbeordert, wo sie in irgendwelche Handelsgeschäfte involviert war, so dass in Ravenna nur der Einfaltspinsel verblieben war.


    Mit einem Mal legte Serapio los und berichtete über Hispania. Natürlich interessiert es mich und er konnte sich meiner vollsten Aufmerksamkeit sicher sein. Ich versuchte mir das klare, durchringende Licht vorzustellen, und es war keine Helligkeit, die dabei heraus kam, sondern etwas widerstandsloses, weiches, vielleicht flüssig-warmes Wasser, in das der Körper eintaucht , oder zitroniger Rauch, der einen umgibt. Ich habe das Meer nie gesehen, doch Tuktuk beschreibt es wie den Himmel, nur unter den Füßen und ohne dass man darauf gehen kann. Ich erinnerte mich an den Himmel, wenn auch nicht mehr an die Farbe, die Blau heißt. Ich stellte mir daher den Himmel vor einer Küste (steinige, schroffe Felsen) vor, den salzigen Geschmack auf den Lippen, das fast schwerelose Dahintreiben auf den Wellen, den Geruch nach Tang und dem Gefühl, auf Sand und Steinen hinaus ins Wasser zu waten. In dieses un-sichtbare Bild flogen Serapios Möwen, brandete das Rauschen der Wellen, zog der Wind mit dem Duft der Kräuter und mischten sich seine weiteren Beschreibungen. Er schien nicht nur ein guter Beobachter, sondern generell mit allen Sinnen aufmerksam zu sein.


    "Das hört sich nach einem wundervollen Land an. Irgendwann sollte ich es besuchen." Das sagte ich immer. Irgendwann. Immerhin war ich nun schon bis nach Rom gekommen. Vielleicht würde ich 'irgendwann' doch auch noch einmal einen Fuß in die weite Welt setzen.
    "Kennst du das hier, es scheint mir genau auf dein Hispania zugeschnitten zu sein."
    Ich setzte den Becher ab und begann, nicht ganz so laut, zu singen, das Lied aus der anderen Ecke des Raumes ignorierend. Meine Sing-Stimme war tatsächlich nicht schlecht, und mit ein bisschen Wein geölt hätte sie vielleicht sogar ausgereicht, ein Heroenlied auf der Rostra zu schmettern.
    "Hispania im Sonnenschein, / schöne Frau'n und wilder Wein, / die See so blau, das Land so grün, / im Felde bunte Blumen blüh'n.
    Hispania, oh Heimatland, / nie hätte ich mich abgewandt / hätt' ich gewusst wie sonderbar / es hier ist in Italia!
    Hispania, bald komm' ich heim, / will fortan nurmehr bei dir sein. / Kauf' mir ein Haus und leb' famos, / dann wirst du mich nie wieder los!"


    Ich zog das letzte Wort in die Länge, dann hob ich grinsend meinen Becher wieder an und leerte ihn ebenfalls. Eigentlich war das Lied auf Dalmatia zugeschnitten, zumindest hatte mir ein durchreisender illyrischer Händler das glaubhaft versichert. Ich wusste auch nicht, ob es wirklich ein dalmatisches Lied oder ob es ihm nur im Suff eingefallen war, aber es hatte einen so einprägsamen Rhythmus, dass ich es mir gemerkt hatte (was vielleicht auch daran lag, dass wir es damals über Stunden hinweg in allen möglichen Tonarten und Geschwindigkeiten gesungen hatten).

  • "Ja unbedingt!" Allerdings fragte ich mich schon, wie, oder ob, ein Blinder so eine Reise bewerkstelligen konnte. Sicherlich nur mit viel Hilfe - das musste ganz schön lästig sein, immer auf andere angewiesen zu sein. Entsetzlich! Was war ich froh, dass mit meinen Augen alles in Ordnung war. Vielleicht hatten mir die Götter den blinden Tucca heute nach über den Weg laufen lassen, damit ich mir gewahr wurde, was ich doch alles hatte. Vielleicht lag ich auch immer noch auf meinem Lager in der Castra, und träumte bloss, ich träfe einen blinden Sänger... auf dem Scheitel des Brückenbogens, einen blinden Mann, der von einem schwarzen Mann geführt wurde, und mit dem ich aus dem wüsten Wetter in die einladende Taverne ging... so betrachtet, schien mir das alles von tieferer Bedeutung, ich wusste bloss nicht von welcher. Was Musca wohl dazu sagen würde, der mir auch meinen Traum von der Hundemeute so sachkundig gedeutet hatte?
    Ich stützte das Kinn auf die Faust, und hing diesem Gedanken nach, mit einem vagen ironischen Lächeln, und geriet so in einen dieser seltenen, seltsamen Augenblicke, in denen ich mir weder der Welt um mich, noch meiner selbst in ihr, noch ganz gewiss bin. Der Tavernenlärm verschmolz zu einem flachen Rauschen, ich fühlte mich wie losgelöst, etwas unangenehm dabei, einfach merkwürdig. Ich selbst - was heisst das überhaupt ich selbst - Faustus, könnte auch von jemand ganz anderem geträumt werden, vielleicht von Hannibal, daran hatte ich schon häufiger gedacht. Geträumt, leider nicht erträumt. Wenn er die Augen aufschlug, würde ich dann verlöschen, ohne Spur, oder im Licht des Tages nach und nach verblassen, oder würde ich erhalten bleiben, als ein Bewohner des Landes hinter der hörnernen Pforte? Vielleicht fand man dort alles, was jemals ein Mensch geträumt hatte...


    Tucca sang wunderschön. Sollten wir wirklich alle nur Traumgespinste sein, musste sein Träumer ein wahrer Poet sein, oder der, der den Träumer geträumt hatte, oder der davor, oder... Nein, genug, das führte bloss ins Endlose. So klangvoll war seine Stimme, dass es mich wie zurückzog, und das merkwürdige Gefühl verging. Ich legte den Kopf schräg, lauschte andächtig, und schmunzelte über die charmante Mischung von Nostalgie und Humor in dem Lied.
    "Bravo!", rief ich begeistert als er geendet hatte, "Das trifft es genau, da bekomme ich richtig Sehnsucht gleich das nächste Schiff zu nehmen. - Du hast eine wundervolle Stimme, Tucca! Sag mal, trittst Du eigentlich auf? Ach, nein, Du sagtest ja ich soll keinem verraten dass Du singts. Aber Du solltest auftreten, unbedingt! Du bist ein Demodokos - nein ein Orpheus! Und das Lied musst Du mir beibringen."
    Ich ergriff den Krug und schenkte uns beiden die Becher wieder voll, und da sich das Ende dieser Kanne schon abzeichnete, und die Bedienung gerade in der Nähe war, winkte ich sie gleich an unseren Tisch. "Wir hätten gerne noch einen Krug. Habt ihr auch einen guten hispanischen Wein, einen feurigen?"
    "Ja, einen neuen Segovier haben wir anzubieten.", antwortete die dralle Person.
    "Dann probieren wir den - oder doch den Dalmatier? Na erst mal den Segovier, einverstanden Tucca?"


    Wer aber keinen Wein trank, das war sein exotischer Begleiter. Wenn ich den so sah, mit seiner Milch, lief es mir kalt über den Rücken. Ausserdem hatte er so gut wie gar nichts gesagt, die ganze Zeit.
    "Schmeckt das denn?" fragte ich freundlich, um ihn auch ein bisschen ins Gespräch zu ziehen, und drängelte grinsend: "Probier doch lieber auch was hiervor! Wein ist eine Gottesgabe, komm, nimm doch wenigstens einen Schluck Bacchus' zu Ehren!"
    Der Bedienung rief ich hinterher: "Und noch einen Becher bitte!" Oder ob er nichts trinken durfte, weil er Tucca führen musste? Nun ja, ein Schluck zum Anstossen würde ihn ja wohl nicht umhauen. "Woher kommst Du eigentlich, also abgesehen von Ravenna, ich meine von woher stammst Du, Tuktuk? Was macht man in Deiner Heimat für Musik?"

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Ich lachte vergnügt und schüttelte zugleich den Kopf.
    "Nein, nein, ich kann mir zwar einiges erlauben, aber nach einem öffentlichen Auftritt würde mich meine Familie schnurstracks aus der Stadt hinaus jagen. Oder gleich auf eine Insel vor der Küste verbannen!"
    Oder eben zurück nach Ravenna, was für einen Stadtrömer sicherlich genauso schlimm war, auch wenn es für mich einen gewaltigen Unterschied machte. Ich stellte mir vor, wie der ehrenwerte Senator Claudius Menecrates aus dem Gebäude der Curia Iulia hinaus trat und über die Menschenmenge auf dem Forum Romanum hinweg irgendwo seinen Vetter Tucca auf einem Fass stehen und voll Inbrunst ein paar Lieder schmettern sah und hörte. Diese Vorstellung ließ mich überaus belustigt in mich hinein grinsen.


    "Ein feuriger Hispanier ist nie verkehrt" antwortete ich noch immer grinsend auf Serpios Frage und war mir der Doppeldeutigkeit meiner Worte dabei bewusst. Mir stand der Sinn keinesfalls nach Jünglingen oder Männern, um diesem vielleicht nahe liegenden Gedanken direkt vorzubeugen, es war nur eine Neckerei, durch den erhöhten Weinkonsum und meine lockere Zunge begünstigt. Ich bevorzugte Frauen, schon immer und mein Leben lang, diese jedoch in allen möglichen Varianten.


    Danach war ich mir erst nicht sicher, ob Serapios weitere Frage mir galt. Der Sinn seiner anschließenden Worte machte jedoch deutlich, dass er auf Tuktuks Milch anspielte. Ich hatte mich längst an diese Unart gewöhnt und respektierte sie, und obwohl auch ich immer wieder versuchte, meinen Sklaven bei einem nächtlichen Streifzug zum Weinkonsum anzustiften, war es vielleicht besser für mich, wenn er nüchtern blieb.
    "Es schmeckt nach Milch", antwortete Tuktuk neben mir, keinesfalls unfreundlich, sondern der Nüchternheit der Tatsache mit seiner nüchternen Stimme Rechnung tragend. Seine Ablehnung war auch nicht unfreundlich, aber bestimmt. "Danke, aber ich möchte wirklich keinen Wein."
    Tuktuks Götter sahen es nicht gern, wenn ihre Gläubigen vergorene Früchte aßen oder den Saft davon tranken. Vielleicht waren Tuktuks Götter in dieser Hinsicht tatsächlich schlauer als unsere, denn außer den Genuss brachte der Weinkonsum schließlich nicht viele Vorteile.


    "Meine Familie gehörte zum Stamm der fulani. Wir lebten an einem Fluss in Africa, der in der Sprache meiner Eltern bah djimma, 'Fluss', heißt. Er liegt noch weiter im Süden als der große Strom, der hier Bambotus oder Nias heißt. Aber ich bin schon sehr lange in römischem Besitz, an dieses Leben habe ich nur wenig Erinnerung."
    In dieser Hinsicht waren wir uns sehr ähnlich, Tuktuk und ich. Die Parzen hatten uns beide aus unserer Welt gerissen, Tuktuk aus den Tiefen Africas und mich aus der Welt des Sehens. Beide erinnerten wir uns nur schemenhaft an diese vergangenen Welten und üblicherweise teilten wir diese Erinnerung vorwiegend miteinander. Es kam selten vor, dass Tuktuk einem Außenstehenden von seiner Heimat erzählte. Hauptsächlich deswegen, weil sich sonst kaum ein Römer mit einem Sklaven unterhielt oder sich für dessen Geschichte interessierte.
    Vielleicht war es das, was Tuktuk dazu bewog, weiter zu sprechen. "Mit Rasseln und Trommeln wird dort musiziert, und dazu gesungen."
    Das war auch mir neu. "Rasseln und Trommeln, Tuktuk? Das hast du mir ja noch nie erzählt. Was meinst du, Serapio, eine Trommel würde doch sicherlich gut zu Syrinx und Kithara passen?"
    Natürlich war der Gedanke an so etwas immer noch unrealistisch, doch je mehr Wein ich trank, desto besser gefiel er mir. Obwohl der Abend eher dazu bewog, den Becher als halb voll anzusehen, so war mein Becher schon wieder halb leer.

  • Holla, flirtete der etwa mir mir? Ich war mir nicht sicher... nicht dass ich etwas dagegen gehabt hätte, im Gegenteil, aber dann war der Moment auch schon wieder vorbei... Vielleicht hatte er ja doch nur vom Wein gesprochen?
    Ich lauschte Tuktuks Erzählung von seiner Heimat, und versuchte mir das vorzustellen. Die Worte, die da einflossen, klangen ausserordentlich exotisch; ich hatte mal gehört dass Hanno der Seefahrer angeblich einen Fluss 'Bambotus' entdeckt hatte, aber ich hatte keine Vorstellung wo, und ein Fluss noch weiter jenseits lag für mich vollends im Reich der Mythen.
    "Bona Dea, so weit weg", staunte ich, "gibt es viele Ungeheuer dort? Löwen, Chimären... oder den Basilisken, oder das Katoblepas?"
    Man wusste ja, dass sich, weit entfernt von der Zivilisation, an den schattigen Rändern der Welt, so manches Getier herumtrieb, das es hier längst nicht mehr gab. Wie die Löwen, die früher in Thessalien gehaust hatten, und die heute ausgerottet waren.
    Zuerst hatte ich ja gedacht, Tuktuk wäre eher ein Freund von Tucca, da der ihn vorgestellt hatte, und so zwanglos mit ihm sprach, aber jetzt offenbarte er sich doch eindeutig als Sklave. Ich fand das nett, diesen freundschaftlichen Umgang, ja, ich wünschte ich könnte auch so locker mit meinem Sklaven sein - aber der würde das natürlich nicht verstehen, der würde das nur für Schwäche halten.
    "Unbedingt!", meinte ich auf Tuccas Vorschlag zu dritt zu musizieren, und musterte ihn unverhohlen, um dann übermütig hinzuzufügen: "Ich bin sicher, eine Trommel macht so ein Duett noch viel interessanter, und feuriger, das könnte wirklich eine aufregende Kombination sein!"


    Mein Becher war schon wieder leer, und als ich mir nachschenkte, gab der Krug nicht mehr viel her. Doch just kam die Rettung, in Form des Segoviers, der in einem bauchigen Krug vor uns auf den Tisch gestellt wurde. Auch ein weiterer Becher war dabei. Tuktuk hatte zwar sehr bestimmt abgelehnt, aber ich fand immer noch, dass er da eine Menge verpasste, und angetrunken wie ich mittlerweile war, versuchte ich es unverdrossen, man könnte auch sagen penetrant, weiter, ihn zu seinem Glück zu animieren.
    "Sieh mal, Tuktuk", begann ich verschmitzt, nahm den Krug und schwenkte ihn huldigend hin und her, "dies ist die Essenz der saftigen Trauben aus dem wundervollen Segovia, Du findest darin eine Erinnerung an den fruchtbaren Boden, der sie hervorgebracht hat, und an die hohe Kunst des Winzers, und Du schmeckst darin die Kraft der Sonne, und die ganze Leichtigkeit des Sommers! Wein ist Kultur! Lebenselixier! Er belebt den Körper, erfrischt das Blut und erhellt das Gemüt! - Komm, nur ein einziger kleiner Schluck, um wenigstens mit uns anzustossen!" In einem schmalen Strahl goss ich diesen einen (grossen) Schluck in den Becher, und schwärmte: "Hör nur wie temperamentvoll er gluckert, sieh nur wie flammend er funkelt, dieser Wein will getrunken werden - von Dir!"
    Ich schob den Becher vor den Widerstrebenden, beugte mich vor und sah ihm in scherzhaftem Ernst in die Augen.
    "Askese", verkündete ich ihm, "und Verzicht, sind eine ehrenwerte Sache, keine Frage - aber...", und hier hob ich pompös die Hand wie ein Rostraredner, um meinen Punkt zu unterstreichen, "aber wirklich wertvoll sind sie erst dann, wenn Du genau weisst was Dir entgeht! Du musst die Dinge erst ganz auskosten, ihren Wert kennen, und die Freude die sie spenden - um dann wirklich bewusst auf sie verzichten zu können. So ist das, und nicht anders. Ergo musst Du einfach von diesem Wein probieren!"

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Tuktuk war nicht gerade redselig, doch das war er selten, wenn wir uns in Gesellschaft anderer freier Bürger befanden.
    "Löwen, Basilisken und auch das Katoblepas habe ich selbst gesehen. Dazu erinnere ich mich an einige Tiere, für die ich in unserer Sprache nicht einmal einen Namen kenne, vor allem Vögel und Fische. Aber eine Chimäre ist mir nie begegnet."
    Ich kannte Tuktuks Erinnerungswelt wie die meine. Es war eine faszinierende Welt, geprägt von Extremen. Von dürrer Steppe und dem fruchtbaren Boden am Fluss, von langanhaltender Trockenheit und langanhaltendem Regen, von tagelangen Märschen durch das öde Land, von bequemen Reisen mit einem Boot auf dem Fluss, von süßen Früchten und scharfem Gewürz, von Tieren mit Punkten oder Streifen im Fell, Hörnern auf der Nase oder Schuppen auf der Haut. Ich wusste nicht, wie viel davon aus Tuktuks Erinnerung stammte, und wie viel er darum herum erdichtete, ähnlich wie ich, wenn ich eine Welt um meine halb verblassten Erinnerungen ersponn. Aber das war auch nicht wichtig. Ich würde diese Welt niemals sehen und vermutlich würde ich sie auch auf keine andere Weise je erleben. Doch ich liebte sie so, wie Tuktuk sie erzählte, denn es war ein ganz anderes Leben und eine ganz andere Welt als die unsere. Sogar das Meer, das Tuktuk einst am Ende des Flusses, der in der afrikanischen Sprache nur Fluss hieß (weil es der einzige Fluss weit und breit war), gesehen hatte, war ganz anders als das Meer in Italia. Das wiederum fand ich nicht verwunderlich, denn was er gesehen hatte, das musste der Okeanos am Rand der Welt sein, und die Welt wäre schön langweilig, wenn der Okeanos aussehen würde wie das Mare internum.


    Vielleicht versuchte Serapio Tuktuk zum Weinkonsum anzuregen, damit er etwas redseliger würde. Der Versucht ließ mich auf alle Fälle weiter vor mich hin grinsen. Ich hatte das wahrlich selbst schon oft versucht, mit aus dem Weingenuss erwachsener Hingabe, Zorn oder Verzweiflung, aber geschafft hatte ich es nie (zumindest wüsste ich nichts davon). Ich persönlich geriet bei Serapios Schwärmen in regelrechte Verzückung, nach dieser Lobeshymne hätte der Segovier auch eine billige Plörre sein können, es hätte mir trotzdem geschmeckt wie der köstlichste Nektar der Götter.
    "Also mich hast du überzeugt, Serapio! Auf den Wein und seine zarte Seele! Stoß' an, Tuktuk!"
    Ich hob meinen Becher und hielt ihn ein Stück zur Seite. Es klackte tatsächlich, was mich zögern ließ.
    "Wenn das deine Milch war, die meinen Becher voll sonnigem Wein berührt hat, dann gibt es morgen kein Frühstück!"
    Mein Sklave lachte ungezwungen. "Es gibt morgen sowieso kein Frühstück, weil dir schlecht sein wird, njaatigi, und du schon beim Geruch nach Essbarem jammern wirst."
    Ich stumpte Tuktuk meinen Ellenbogen in die Seite. "Hör' nicht auf ihn, Serapio! Er will mir nur meinen Wein madig machen. Aber selbst wenn, was ist schon der Verlust eines Frühstücks gegen den ausgiebigen Genuss dieses edlen Tropfens!" Darauf erst einmal einen kräftigen Schluck. "Ah, herrlich! Wenn er seinen Wein nicht will, ich bin sicher, wir leeren diesen Krug auch zu zweit schneller als Tuktuk 'In den Wein weinend weint Veiento in den Wein rein' sagen kann."
    "Ich bleibe bei Milch."
    Ich konnte hören, dass da ein resignierter Unterton in Tuktuks Stimme mitschwang. War ich schon so weit? Zugegeben, der erste Krug war ziemlich schnell geleert. Wie üblich ignorierte ich jedoch alles, was mich vom Trinken abhalten könnte, inklusive meines Sklaven.
    "Du solltest Weinhändler werden, Serapio. Ich würde dir jede Amphore abkaufen, wenn du sie mit so schönen Worten garnierst." Vielleicht war Serapio ein Redenschreiber, oder aber ein Poet. Das würde gut passen, Dichter und Philosophen schlugen sich gerne die Nacht um die Ohren, das wusste ich. Zumindest die aufregende Sorte, die langweiligen fielen schon beim Abendessen halb in den Schlaf. "Du bist doch nicht etwa Weinhändler, oder?"

  • Die beiden waren urkomisch. Ich lachte herzlich, bei dem kleinen Wortgefecht, das sie sich lieferten, und rief voll Überzeugung: "Klar machen wir den leer! Aber ich muss auch in meinen Wein weinen, wenn ich sehe, wie Tuktuk hier die Gabe des Bacchus so kaltherzig verschmäht. Pah!"
    Mit den Augen rollend, seufzte ich übertrieben. "Ich geb's auf..." Dieser Sklave war nicht nur weit herumgekommen, er war auch ausgesprochen standhaft.
    "Aber ich sehe, Du verstehst mich, Tucca!" Überschwänglich legte ich ihm die Hand auf den Arm und schwadronierte: "Nein, wir lassen uns nicht beirren. Nieder mit der Askese. In den Staub mit dem faden Verzicht! Auf den Rausch, in dem einzig die Wahrheit liegt!"
    Ich schenkte uns nach, und trank tief von dem Segovier, der mir gut mundete, auch wenn man etwas Phantasie benötigte, um wirklich die Sonne darin zu schmecken.
    "Weinhändler!" Wieder musste ich grinsen. "Gut, meine Familie hat Weinberge, deshalb habe ich einen Bezug dazu, aber nein, ich bin kein Weinhändler. Aber ich denke, ich behalte das im Hinterkopf, falls ich mal eine Alternative brauchen sollte. Eine guten Kunden hätte ich ja schon!"
    Eine Alternative, das war so dahingesagt, aber es durchfuhr mich siedendheiß - womöglich würde ich bald wirklich nach einer anderen Arbeit Ausschau halten müssen, wenn Bibulus seine Drohung wahr machte. Oh je... Ich stützte den Kopf auf die Hand, und schwenkte meinen Wein im Becher hin und her.
    "Ich bin Soldat." erklärte ich dann, fast wie ein Geständnis, weil es so schlecht zu dem passte, wovon ich eben noch so geschwärmt hatte, Musik und Dichtung und so weiter.


    In dem Moment schwang die Türe auf, und ein paar weitere Gäste kamen herein, tropfend und schwatzend, mit Kapuzen auf dem Kopf, dazu wehte ein kalter Wind in die Schankstube, und liess das Feuer im Kamin kurz zusammensinken und flackern, bevor es um so heller wieder aufflammte. Einen Augenblick lang sah ich die Regenschleier da draussen, die dunkle stürmische Nacht, bevor die Türe wieder zufiel. Ich fröstelte. Langsam verbreitete sich wieder die Wärme des Feuers, erfüllte das Stimmengewirr den leeren Zwischenraum zwischen den Personen in dieser Kneipe, aber ich musste auf einmal wieder an meine toten Kameraden denken, und die ganze exaltierte Fröhlichkeit bekam Risse, begann zu bröckeln, und fiel von mir ab, während darunter wieder die Unruhe, und diese mir so unerklärliche Angst ihre Schlangenhäupter reckten.
    "Wisst ihr eigentlich was heute für ein Tag ist?..." fragte ich leise. "Oder war. Er ist ja schon vorüber... Der Tag der Victoria. Der Tag des grossen Sieges von Edessa. Scheiße, da sitze ich hier und saufe, und trinke auf alles mögliche, aber nicht auf meine toten Kameraden..."
    Abrupt stürzte ich den Rest meines Bechers hinunter, und verlangte mit schwerer Zunge: "Tucca, trink aus. Ich will, dass Du mit mir den neuen Becher auf meine gefallenen Freunde erhebst. Sie waren Helden, sie waren wirkliche Helden, Söhne des Mars, und sie haben ihr Leben für Rom gegeben, und für jeden einzelnen hier... FÜR JEDEN EINZELNEN HIER!"
    Befremdete Blicke wendeten sich mir zu - hatte ich denn so laut gesprochen? Ich starrte finster zurück, bis sie wieder wegsahen. Ja, auf einmal hatte ich nicht übel Lust, mich mit irgendwem anzulegen. Ich goss die Becher voll, so unwirsch, dass sie überschwappten.
    "Ich trinke auf APPIUS IUNIUS LUCULLUS!" rief ich, und riss den Becher hoch. "Der nicht an den Sieg geglaubt hat, und sich trotzdem unerschrocken gegen die Panzerreiter gestellt hat! Der dem Tod ins Gesicht gelacht hat! Zum Wohl, mein toter Freund, zum Wohl! Wir sehen uns auf der anderen Seite."

    cp-tribunuscohortispraetori.png decima.png

    SODALIS FACTIO AURATA - FACTIO AURATA

    Klient - Decima Lucilla

  • Nach Serapio war es wieder an mir zu lachen. Er war an Tuktuks Starrsinn gescheitert, und ganz ehrlich wäre ich schon ein bisschen beleidigt gewesen, wenn er es geschafft hätte, meinen Sklaven zum Weintrinken zu bewegen, nachdem ich mich seit Jahren erfolglos abmühte. Für einige Augenblicke spürte ich Serapios Hand auf meinem Arm und sie hinterließ einen warmen Fleck auf der Tunika als er sie wieder fort nahm, um uns mehr Wein einzuschenken. Ich wusste nicht mehr, der wievielte Becher es war, doch das war längst nebensächlich. Vereint im Kampf gegen Askese und Verzicht waren wir an diesem Abend die größten Helden, die Rom je hervorgebracht hatte. Ich genoss das, denn vermutlich war es die einzige Art und Weise, bei der ich je zu Ruhm kommen würde.


    "Auf Verzückung und Entrückung!" kommentierte ich den nächsten Becher ausgelassen und trank ihn gleich wieder zur Hälfte aus. Weinberge hatte Serapios Familie also, was mir in diesem Augenblick nicht weiter verwunderlich vorkam. Natürlich besaßen nur die oberen Schichten des Imperium solche Ländereien, aber da die meisten meiner Bekannten dieser Schichten entstammten schien es mir nur einleuchtend, dass auch Serapio, den ich irgendwo mitten in Rom aufgegabelt hatte, eine Familie mit solchem Hintergrund hatte. Im Nachhinein betrachtet war auch dieser Gedanke mitten in Rom sehr naiv und es purer Zufall, dass es tatsächlich so war.


    Serapios Profession wollte dagegen gar nicht in mein Bild von ihm passen. Wortkarg, schroff, hart und wenn auch nicht abweisend, dann doch auf ihre Art eigen, so stellte ich mir Soldaten vor. Die meisten, die ich getroffen hatte, ließen nicht tief in sich hinein blicken. Sie erzählten von Heldentaten, vom Rausch des Kampfes oder von fremden Ländern, die sie erobert hatten. Vermutlich sangen sie alle, wenn sie um ein Feuer herum saßen, aber kaum einer gab das außerhalb des Lagers zu, und schon gar nicht, dass er ein Musikinstrument spielte. Allerdings kannte ich die meisten Soldaten auch nur sehr flüchtig. Und diejenigen, die in meinem Haus als Gast gewesen waren, das waren Offiziere gewesen, die die Tischgesellschaft mit ihren Abenteuern unterhalten hatten.


    Dennoch war ich im ersten Augenblick regelrecht sprachlos und wusste nichts auf Serapios 'Geständnis' zu erwidern. Wie es immer ist, öffnete sich genau in diesem Moment die Tür der Taverne und eine merkwürdige Stille zog mit der kalten, einströmenden Luft durch den Raum, so als würden alle Gäste nur auf meine Erwiderung warten. Ich habe das oft erlebt, dass Stille eintrat, wenn irgendetwas von mir erwartet wurde. Jemand sprach mit mir, doch da er meinen Namen nicht genannt hatte, hatte ich es nicht mitbekommen und nicht zugehört, und wartete auf eine Antwort. Oder jemand reichte mir etwas, ohne darauf hinzuweisen, und wartete darauf, dass ich es nahm. Jemand bot mir eine Auswahl und wartete auf meine Entscheidung, oder ich war an der Reihe beim Würfelspiel, bei Tabula oder Ludus Latrunculorum, doch keiner sagte mir etwas. In solchen Situationen trat oft eine erwartungsvolle Stille ein, die schlussendlich dadurch unterbrochen wurde, dass ich nachfragte, oder aber mein Gegenüber sich mit einem Mal bewusst wurde, dass ich blind war (es war anscheinend nicht unbedingt offensichtlich) und mir einen Hinweis gab.


    Die Stille im Schankraum wurde jedoch zu meinem Glück schnell durch das Klappern einiger Würfel und das Schlagen eines Würfelbechers auf einen Tisch vertrieben. "Vier räudige Hunde! Her mit den Münzen, mein Freund!" lachte darauf eine heißere Stimme irgendwo hinter Serapio und ein paar Münzen klimperten. Das Verbot von Glücksspiel mit Gewinn schien auch in Rom nicht ganz so streng genommen zu werden, oder aber die Besitzer der Taverne entrichteten regelmäßig einen Obolus an die Stadtkohorten, der sie vor Razzien verschonte.
    Die gute Stimmung breitete sich schnell wieder aus und auch ich hatte endlich eine heitere Antwort gefunden, doch dafür war es zu spät. Serapio sprach so leise, dass ich ihn fast den unbedeutenden Hintergrundgeräuschen zugeordnet hätte. Mit einem Mal schien er unendlich weit weg und er verriet auch gleich, wo er war. Edessa. Ich wusste, dass ich den Namen dieser Stadt schon gehört hatte, brauchte aber noch etwas, bis ich auf Parthien kam. Das war nicht allzu lange her. Lange genug, um in Rom aus dem allgemeinen Fokus der Aufmerksamkeit zu entwischen, aber sicher nicht lange genug für einen, der dabei gewesen war, um es zu vergessen (konnte ein Feldzug dafür überhaupt je lange genug her sein?).

    Ich trank hastig aus. Nicht nur, weil ich sowieso schon so viel getrunken hatte, dass ich beinah alles tat, was man mir sagte. Nein, ich war auch durch und durch ein Römer und durch und durch ein Patriot. Für Rom würde auch ich als letzte Bastion der Verteidigung mit dem Gladius in der Hand sterben (und wenn mein Körper nur als Bollwerk dienen würde). Aus diesem Grund verdiente jeder Soldat, der je sein Leben für Rom geopfert hatte, meinen größten Respekt, und jeder andere Soldat meine Bewunderung. Etwas Wein schwappte über den Rand des Bechers als Serapio eingoß und rann mir über die Finger, wie das Blut der Gefallenen, das an meinen makellosen, patrizischen Händen klebte.


    "Auf deine gefallenen Freude! Auf Appius Iunius Lucullus! Mögen sie unvergessen bleiben!"
    Den Becherfuß über die Holzplatte schabend suchte ich den Rand des Tisches und vergoss einen Schluck Wein auf den Boden. Erst dann hob ich selbst an zu trinken und leerte den kompletten Inhalt. Als ich den Becher wieder abstellte bemerkte ich, dass der Tisch langsam anfing zu schwanken, denn das Gefäß wollte sich nicht mehr so einfach auf der Platte abstellen lassen. Vielleicht hatte sich aber auch die Standfläche gebogen, das sollte durchaus ab und zu vorkommen. Am Wein konnte es unmöglich liegen, denn dieser schmeckte noch immer fabelhaft.
    "Erzähl mir von ihm", forderte ich Serapio auf und war mir in diesem Augenblick nicht mehr ganz so sicher, ob dieser eher rechts oder eher links mir gegenüber saß. "Von Appius Iunius Lucullus, was war er für ein Mensch?"

  • Was Tucca da sagte, das war ganz genau das richtige! Nein, Tucca war keiner von diesen undankbaren Zivilisten, die über die Männer schlecht sprachen, von denen sie sich beschützen liessen, vor den Barbarenhorden, die unsere Grenzen bedrohten, Tucca hatte das Herz noch auf dem rechten Fleck!
    "Unvergessen!" wiederholte ich feierlich, und vergoss aus meinem Becher ein Trankopfer für die Gefallenen, kippte Schluck um Schluck von dem Wein in die Flammen des Kamins, und wieder zischten sie, stieg Dampf auf.
    "Für Dich, Lucullus! Für Dich, Camerinus! Auch Du Rusticus, trink!" Seit er tot war, trug ich sogar diesem Ekel nichts mehr nach. "Hier, Aquilius Primus, Tapferster der Tapferen! Pius! Cotius Carus! Scaeva! Tempanius Phaon..."
    Dann trank ich selbst, den Rest der noch im Becher war, schluckte mit dem Wein auch die Tränen herunter, die mir in die Augen steigen wollten, bei der Erinnerung an die Schlacht, an all die Toten, an mein Entsetzen, und schenkte uns beiden dann schnell nach, da war der Krug schon wieder leer, und ich rief quer durch die Kneipe:
    "He Bedienung, das selbe noch mal!"


    Mit der Handfläche fuhr ich mir fest übers Gesicht, stützte den Kopf auf die Fäuste, sah Tucca an, der an mir vorbei auf die Mäntel am Haken starrte, und auf ein Stück angemalte Wand, wo eine rosige Nymphe auf einem Stein hockte. Jedenfalls sah es so aus als würde er darauf starren.
    "Er war sehr freundlich. Aber trotzdem ein Einzelgänger... - Und hilfsbereit. Als ich ihn kennengelernt habe, da war ich noch Probatus, da hat man es halt nicht leicht unter den ganzen alten Soldaten, und da hat er mir sehr geholfen." Es waren ja nicht so sehr die Caligae an sich gewesen, die er mit mir zusammen geputzt hatte, mehr das Gefühl nicht allein gelassen zu werden.
    "Er mochte nicht das Roma Victrix- Geschrei. Du musst wissen, wir waren damals, es war zu Beginn des Feldzuges, wir waren gerade am Euphrat angelangt, alle ganz aufgeputscht, und siegesgewiss, randvoll mit markigen Phrasen, und wild darauf endlich dem Feind zu begegnen, fast fiebrig. Da wurde ständig Roma Victrix geschrien, beim Trinken, bei Ansprachen, bei jedem Appell, wenn einer Niesen oder Rülpsen musste - nein, ich gebe zu, das letzte ist jetzt übertrieben, aber man hörte es wirklich die ganze Zeit...
    Ja, und Lucullus hat nicht geglaubt, dass der Feldzug so eine gute Idee ist. Er hatte braune Augen. Wenn die Sonne direkt darauf schien, mit einem goldenen Schimmer darin. Die Sonne sticht dort mit brutaler Härte vom Himmel... vielleicht waren wir deshalb so fiebrig. Und braunes Haar hatte er. Und breite Schultern. Er war mal in ein Mädchen verliebt gewesen, namens Luciana, die blaue Augen hatte, und er war traurig, dass sie ihm nicht geschrieben hat. Auch von seiner Familie hat er nichts gehört, das trug er ihnen nach... - Er war auch mehr für die Entrückung, als für den Verzicht."

    Diese Erinnerung liess mich melancholisch lächeln. Ich redete und redete immer weiter, gehetzt und wirr, die Worte brachen einfach aus mir heraus.
    "Aber er hatte auch etwas an sich, ich weiss nicht wie ichs beschreiben soll, etwas Unberechenbares, das einem beinahe Angst machen konnte... Wie er gestorben ist, habe ich nicht gesehen. Ich kann mich erinnern, dass er meinen Namen gerufen hat, in der Schlacht, aber ich war eine Zeitlang weggetreten, weil ein Panzerreiter auf mich gefallen ist. Aber erstochen habe ich das Partherschwein vorher noch, mit meinem Pugio... Jemand hat mich dann weggeschleppt, ich dachte irgendwie, es wäre Lucullus, hat mich zum Adler getragen, wir wurden da heftig bestürmt, aber es war nicht Lucullus sondern Sparsus. Er hat das überlebt, und ich auch wegen ihm. Lucullus habe ich später gefunden, nachdem die Verstärkung unter dem Praefectus Matinius kam, und die Parther geflohen sind, da habe ich ihn gefunden, mit aufgeschnittener Kehle. -
    Am Abend wurden sie alle verbrannt. Es gab eine Art Wald da, mit trockenem Gestrüpp, der war danach völlig abgeholzt. Überall waren Scheiterhaufen. Und man hörte die Schakale, wie sie die toten Parther gefressen haben. - Ich frag mich, wie das berechnet wird, wie viele Urnen auf einen Feldzug mitgeführt werden. Ob es da einen festen Schlüssel gibt, meine ich. - Später hat Lucullus postum Armillae verliehen bekommen, aus der Hand des Imperators... Tja, und solche Geschichten gibt es noch unzählige andere, bloss die meisten ohne Armillae."

    Bitter lachte ich auf. "Von wegen 'auf nach Ktesiphon', 'Roma Victrix'."
    Dann wischte ich mir schnell mit dem Ärmel die Augen, denn bei der Erinnerung daran wie ich Lucullus tot gefunden hatte, liessen die Tränen sich nicht mehr herunterschlucken. Wenigstens konnte Tucca mich nicht heulen sehen. Noch ein tiefer Schluck, ein tiefes Durchatmen, ich versuchte meine Fassung zurückzugewinnen.
    "Entschuldige. Ich bin heute nacht nicht so ganz bei mir. Ich glaube ich habe noch nicht genug getrunken."

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!