Dritte Unterrichtsstunde - von der Theorie zur Praxis

  • “Gut, dann lass uns hineingehen.“
    Innerlich lächelte Inhapy ein wenig. Bei ihrer Tochter hatte es wesentlich länger gedauert, bis das Mädchen sich getraut hatte, in dieses Haus zu gehen. Aber die war auch ein Kind, und Anthi ein erwachsener Mann. Nichts desto trotz war es ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
    Als wäre nichts weiter ging Inhapy in das Haus. Die Türe war offen, lediglich einige Schnüre mit Holzperlen daran versperrten die sicht ins Innere des doch recht einfachen Hauses.


    Das Haus hatte einen großen, lichten Innenhof, so dass es doch recht hell war. Im Hintergrund konnte man vereinzeltes Husten hören, allerdings sah man keine Kranken. Inhapy ging zielsicher in das kleine Megaron des Hauses und wartete dort. Sie würden sicher nicht lange warten müssen.


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    Neferabu war gewiss kein schöner Mann. Auch war er nie besonders erfolgreich gewesen. Und seine Eltern hatten nie verstanden, was genau ihn zu den schlangen trieb. Aber nun war er schon so viele Jahre hier im diesem Hause und kümmerte sich um die heiligen Tiere, dass er schon gar nicht mehr wusste, wie es früher war. Er hatte die fünfzig schon lange überschritten und war bestimmt seit seinem zwölften Lebensjahr bei der Priesterschaft der Isis gewesen, aber schon immer interessierte er sich mehr für die Tränke und vor allem die Schlangen als für den Tempeldienst. Also hatte man den Jungen auch recht bald hierher gesteckt, damit er hier alles lernen konnte, was er so sehr zu wissen wünschte.
    Und nun war er einer der Ältesten hier. So schnell verging die Zeit. Langsam lief er durch das Haus, schaute nach den Kranken, die hier in einigen Kammern schliefen, um so vielleicht eine göttliche Erleuchtung zu erhalten. Vielleicht fanden sie so den Grund für ihre Schmerzen heraus, Schlaf in einem heiligen Haus war oft sehr wirksam.
    Langsam ging er in den freien Innenhof des Hauses, und sah ein bekanntes Gesicht. Er lächelte nicht, denn Neferabu lächelte nie. Er kam nur langsam auf die kleine Hebamme mit ihrem großen Begleiter zu und begrüßte sie mit einer stummen, kleinen Verneigung.
    “Ich habe euch bereits erwartet.“
    Inhapy aber lächelte ganz leicht, als sie sich ebenfalls verneigte. “Ánthimos, das ist Neferabu. Ein wirklicher Heiler von großer Kunst.“

  • Anthi hatte sich aufmerksam umgeschaut, aber noch keine Schlange entdeckt. Ebensowenig wie Patienten, auch wenn ab und an Geräusche an sein Ohr drangen die die Anwesenheit von Kranken verrieten. Dann kam der alte Mann. Er war nicht wirklich schön anzusehen, strahlte aber eine gewisse Erhabenheit aus, die sofort Vertrauen einflößte.
    Er wirkte gepflegt und sauber, wie es ein Heiler zu sein hatte.


    Auch der Grieche verneigte sich kurz. "Sei gegrüßt. Es ist mir eine Ehre dich kennen zu lernen."

  • Neferabu beäugte den Mann einmal skeptisch von oben bis unten. Für einen ordentlichen Priester war er zu kräftig, die mussten dünn sein. Aber Inhapy hatte ihn darum gebeten, ihm etwas beizubringen, und ihr konnte er schwerlich etwas abschlagen. Er schuldete ihr so einiges, wäre es anders, hätte er sich auch gar nicht darauf eingelassen. Und er sprach gutes ägyptisch, auch wenn er Grieche war. Etwas, das Neferabu durchaus honorierte.
    “Folge mir“, meinte er einfach schlicht in seiner ruhigen, dunklen Stimme, und wandte sich ohne ein weiteres Wort um. In würdevoller Geschwindigkeit schritt er durch den Innenhof.
    An einer Stelle blieb er stehen, wo ein großer Stein lag. Eine große, pechschwarze Schlange lag dort und sonnte sich. Als der Priester neben ihr stehen blieb, hob die Schlange den Kopf und zischte einmal leise. Er blickte nur einfach auf sie herunter, und begann dann zu erzählen, ohne auch nur irgendeine Regung zu zeigen.
    “Du solltest gar nicht hier draußen sein, kleine Schwester.
    Eine Kobra, sehr giftig, wenn sie dich beißt. Aber ein Tropfen ihres Giftes verrührt mit dem Fett eines kleinen Schafes und feinem Balsam, und die Salbe glättet jede noch so faltige Haut und nimmt jeden Schmerz von geschwollenen Gliedern. Giftiges und Gesundes liegen nahe beieinander, es kommt jeweils auf die richtige Menge an.“

    Er schritt weiter, durchquerte den Hof und öffnete eine Tür auf der anderen Seite, durch die er trat. Er sah sich nicht einmal um, ob Ánthimos ihm auch folgte. Es war seine Entscheidung, ob er lernen wollte oder nicht, Neferabu würde ihm die nicht abnehmen. Er konnte ihm nur zeigen, was ihm gezeigt wurde, nicht mehr.

  • Anthi beäugte die Schlange sehr kritisch. Eine Kobra? Mit Schlangen kannte er sich nicht allzu gut aus, aber selbst er wusste wie giftig diese Schlangenart war Aber er war außerhalb ihrer Reichweite, so hoffte er zumindest. Allerdings war er jederzeit bereit diesen Abstand wieder herzustellen, sollte sie entscheiden auf ihn zuzuschlängeln. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Wenn er tot war, würde er niemandem mehr helfen können...


    Ànthimos merkte sich die Worte des Priesters genau. Aufs Aufschreiben verzichtete er: Es war unmöglich auf die Wachstafel und die Schlange gleichzeitig zu achten. Dann folgte er schnell dem Priester...viel schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen!

  • Der alte Mann glitt dahin, als würde er über weichen Sand laufen. Jede seiner Bewegungen war ruhig und fließend wie Wasser, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Die Jahre hier hatten ihn vieles sehen lassen. Er wusste, wenn seine Zeit gekommen war, würden die Götter ihn rufen, und sich mit diesem Wissen abfindend hatte er eine innere Ruhe gefunden, die sich durch gar nichts erschüttern ließ. Nicht einmal durch den kleinen Krawall, der von der Straße her drang, als wohl einige Leute am Haus vorbeiliefen und ein paar Stimmen sich erhoben. Sie riefen etwas von „verfluchten Römern“, aber auch das kümmerte Neferabu wenig.
    Er ging bis zu einem Zimmer, welches er öffnete, und in das er leise hinein ging. Drinnen lag ein Mann, so alt wie die Zeit selbst, mit Haut dünn wie Pergament. Offenbar schwitzte er, denn seine Haut glänzte. Er lag auf einer dicken Matte aus geflochtenem Stroh, und seine Kleidung verriet, dass er wohl aus der Gegend stammen musste. Neferabu kniete sich neben ihn hin und ächzte nur einmal ganz kurz, als er sein Gewicht auf sein Knie verlagern musste. Ganz spurlos ging die Zeit auch nicht an ihm vorbei, und in den Gelenken merkte er manchmal, dass er doch älter war, als er sich fühlte. Aber der liegende Mann war noch älter und schien ihn gar nicht zu bemerken.
    “Tritt her, Ánthimos, und sag mir, was du siehst“ forderte Neferabu den jungen Mann auf.

  • Er schaute sich den Alten genau an. Er schien nicht bei Sinnen zu sein. Dann legte er ihm sanft seine Hand auf die Stirn. Er war ungewöhnlich heiß und der Schweiß war kühl.


    "Er ist sehr alt. Er fühlt sich heiß an und hat kalten Scheiß, also hat er offenbar Fieber. Zudem ist er nicht ansprechbar. Woher es kommt, kann ich so noch nicht genau sagen, aber wegen seines Alters und seiner dünnen Haut, würde ich sagen er liegt im Sterben."


    Das war sein erster Eindruck, und natürlich noch nicht sein endgültiges Urteil. Aber Neferabu wollte ja wissen, was er sah und nicht wie sein endgültiges Urteil war.

  • Keine Regung ließ erkennen, ob Neferabu mit dieser Antwort zufrieden war oder nicht. Er nickte nur leicht und winkte mit einer Hand Ánthimos zum Kopfende der Liege, wo er sich auf seine Knie niedergelassen hatte.
    “Der Patient ist nicht ansprechbar, also kann er uns nicht sagen, woher sein Leiden kommt und ob er Schmerzen hat. Das müssen wir als Heiler also auf andere Weise herausfinden.“
    Er nahm seine Hand hoch und führte sie zu den Augenlidern des alten Mannes, die er sanft anhob. Das Weiße der Augen hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung angenommen, so dass es beinahe eitrig aussah.
    “Die Augen spiegeln uns sehr viele Dinge, deshalb lohnt sich ein Blick in sie immer. Sind sie matt, ist das ein Hinweis auf eine Schädigung am Gehirn, glänzen sie übermäßig, lässt das auf Fieber in den inneren Organen schließen. Hier ist das Weiße deutlich gelb verfärbt.“
    Er wartete, bis Ánthimos es auch sicher gesehen hatte, und ließ dann das Augenlid des Patienten los. Mit sicherer Hand öffnete er dem Mann den Mund. Der Atem roch süßlich, und der Mann hatte kaum noch Zähne im Mund. Und die, die er hatte, waren leicht braun eingefärbt.
    “Zähne verraten uns auch vieles. Wie gut man isst, wie abwechslungsreich man Essen kann. Menschen, die jeden Tag nur Brot essen, haben schlechte Zähne. Die, die auch Gemüse essen, haben seltener blutendes Zahnfleisch, und damit auch meistens mehr Zähne. Fleisch ist teuer, daher wird nicht jeder immer genügend davon essen. Aber es kräftigt ebenfalls das Zahnfleisch und stärkt damit den Zahn. Fisch gibt auch viel Kraft und stärkt die Knochen von innen. Das hält die Zähne davon ab, zu schnell zu faulen. Alten Menschen fallen zwar immer Zähne aus, egal wie gesund sie sich ernähren, aber man kann es verlangsamen. Und Frauen verlieren mehr Zähne als Männer, wenn sie viele Kinder bekommen.“
    Neferabu wartete auch hier wieder, bis Ánthimos den Mundraum in Augenschein nehmen konnte, und wandte ihm dann sein Gesicht zu.
    “Nachdem du das gesehen hast, was denkst du nun?“

  • Er hörte dem Heiler gespannt zu und beobachtete alles sehr genau. Anthi hatte sich schon seine Meinung zum Zustand und der Krankheitsursache gebildet, denn wenn die Augen gelb waren, war das ein eindeutiges Zeichen.


    "Er scheint in seinen Organen zu viel cholé, also gelbe Galle, zu haben. Da würde ich auf die Leber tippen, denn dort kommt die gelbe Galle her. Deswegen haben sich auch seine Augen gelb verfärbt. Cholé gilt als heiß und trocken, was meine Theorie bestätigen würde, denn ich sehe weder an der Nase noch am Mund irgend einen Ausfluss. Da die gelbe Galle weiblich ist, herrscht wohl ein Ungleichgewicht im Körper des Patienten und wir sollten versuchen dieses, durch zuführen einer Medizin die dem männlichen zugeordnet wird, zu heilen. Alternativ wäre eine Kühlung durch Wasser, etwa auf der Stirn und den Waden sinnvoll, denn dieses ist ein Übergangselement und kann zusätzlich helfen den Zustand in Richtung Ausgleich zu verschieben."


    Anthi war stolz auf sich, dass er den Zustand des Patienten so gut auf Hippokrates' Säftelehre angewandt hatte.

  • Die Jugend, immer so vorschnell, und immer gleich sämtliches Halbwissen verbrauchend. War er einst auch so gewesen, als er noch jung und unerfahren war? Neferabu schloss kurz die Augen, um seine Gedanken zu sammeln.
    “Hippokrates weiß nicht alles, und das, was er weiß, hat er aus den Büchern des Lebens übernommen. Gelbe Augen lassen nicht sofort auf gelbe Galle schließen. Man sollte sich mit seinem Urteil Zeit lassen, und es nicht vorschnell fällen, weil man eine Sache gesehen, gehört oder gelesen hat. Wissen verleitet dazu, Lösungen zu präsentieren, die nur halb fertig sind. Aber du solltest erst das ganze Bild gesehen haben, ehe du dir eine Lösung überlegst.“
    Der alte Heiler nahm die Hand seines Patienten in die seine. Der Alte zitterte, das konnte er fühlen, und Neferabu fühlte nach dem Puls.
    “Patienten sagen uns viele Dinge, wenn wir nur richtig hinsehen, ohne dass sie ein Wort darüber verlieren. Das Feld, aus dem sie kommen, ist für die Heilung ebenso wichtig wie die Krankheit selbst. Liegt die Ursache der Krankheit nämlich dort, nützt es nichts, nur die Symptome zu behandeln. Dann kehrt die Krankheit nach kurzer Zeit wieder.“
    Neferabu griff nach Ánthimos Hand und führte sie zum Handgelenk des alten Mannes. Seine Hand war zwar auch alt, aber noch immer ruhig und präzise. Er hoffte, das würde noch eine weile so bleiben. Aber sein Knie zeigte ihm schon, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, vielleicht noch zwei oder drei Jahre, dann würden seine Finger zittern, wenn er sie biegen wollte. Aber noch war es nicht so weit, und er führte Anthis Finger zielsicher zu der Stelle, wo man den schwachen Puls messen konnte.
    “Der Puls sagt uns auch vieles. Seiner ist schwach, aber regelmäßig. Sein Blut ist also geschwächt, aber nicht verdorben, und sein Herz ist noch nicht betroffen.“
    Im Gegensatz zu anderen Lehren der Medizin kannten die Ägypter sehr wohl die Tatsache, dass das Herz mehr als nur Sitz der Seele war, sondern auch dafür da war, das Blut in den Körper zu pumpen. Dass dieses Wissen verlorengehen könnte, nur weil einige Gelehrte daran nicht glaubten, das wusste Neferabu nicht. Und so nahm er auch an, dass Ànthimos diese Tatsache wohl bekannt war und dachte nicht weiter darüber nach.
    “Du musst mehr Geduld haben, Ánthimos, durch Eile macht man Fehler. Sorgfalt ist der Schlüssel zum Heilen, und wir haben Zeit. Also sag noch einmal, was du beobachtet hast und was du dabei denkst. Du hast doch mehr gesehen als das Gelbe der Augen, oder?“

  • Wie, seine Diagnose stimmte nicht. Aber die gelben Augen waren doch eindeutig! Hippokrates hatte Wissen aus den Büchern des Lebens übernommen? Das konnte er schon zweimal nicht glauben. Aber was slls, dachte er sich. Er wollte hier etwas lernen und nicht diskutieren, wer bei wem gespickt hatte.
    "Also gut. Er hat einen langsamen aber regelmäßigen Puls. Dazu die gelben Augen. Sein Atem riecht süßlich, und er hat Fieber. Außerdem ist er alt und seine Zähne sind offenbar faul. Vielleicht leidet er unter einer Entzündung der Zähne, die sich nun langsam ausbreitet und ihn zusehends schwächt. Oder er hat sich falsch ernährt. Vielleicht auch beides. Das würde wohl auch das geschwächte Blut erklären. Allerdings verstehe ich nicht wie du aus dem Blutfluss schließen kannst, ob das Herz betroffen ist oder nicht."


    Anthi gefiel dieses Fischen im Trüben ganz und gar nicht.

  • “Das Blut in unserem Körper ist wie das Wasser von Vater Nil. Ähnlich wie das Wasser des Nils über viele Kanäle fruchtbares Ackerland versorgt, mag wohl das schlagende Herz Luft und Blut, Schleim, Nahrung, Samen und Ausscheidungen in die peripheren Organe tragen.“
    Die Wortwahl allein schon verriet, dass Neferabu diesen Satz wohl häufiger schon gebraucht hatte und selbst auswendig gelernt hatte. In einer der Schriften, die später einmal als Papyrus Ebers bekannt werden sollten, war dem Herzen und seiner Bewegung ein ganzes Kapitel schließlich gewidmet.
    “Das Schlagen des Herzens kannst du in den Adern, die den Körper durchlaufen, fühlen. Du kannst auch mit dem Ohr an der Brust horchen, aber so geht es einfacher, und du fühlst auch die Stärke des Herzschlages.“
    Neferabu sah Ánthimos einmal kurz prüfend an, und sah wohl ein wenig den Missmut, der sich in den jungen Mann breitmachte.
    “Zu lernen ist ein langsamer Prozess. Man lernt nichts, wenn man sofort ganz ans Ende springt und die ganzen Schritte, die zur Erkenntnis führen, überspringt. Der Weg, den man geht, ist es, der einen guten Heiler von einem schlechten unterscheidet. Schnelle Entscheidungen kann jeder treffen, und die können dann richtig oder falsch sein. Um zu überlegen, und aufgrund dessen Entscheidungen zu treffen, braucht mehr Zeit. Wenn du lernen willst, wie man heilt, musst du lernen, wie man denkt und wie man sieht. Die meisten Menschen denken, sie können das schon. Aber das ist etwas, das man erst lernen muss. Also nimm dir die Zeit, die es benötigt, denn nur so wirst du lernen.“

  • Das Herz pumpte also das Blut? Laut Sokrates war das Herz dazu da mathematische Probleme zu lösen! Natürlich war das veraltet, aber sowohl Herophilos als auch Erasistratos lehrten, dass Luft durch die Venen und Arterien strömte. Nur wenn diese verletzt waren bluteten sie. Das war ja auch logisch, schließlich sah man den Adern ja an, dass sie blau waren wie der Himmel und nicht rot wie das Blut-also musste darin ja Luft sein! Folglich war das Herz eine Luftpumpe...


    Aber der Alte war ein erfahrener Heiler, also versuchte er ihm einfach mal zu glauben, auch wenn es ihm schwer fiel.
    "Gut, ich werde geduldiger sein. Ich bin nur ein bisschen aufgeregt, weil ich so viele verschiedene Dinge gelesen habe und nun hier bin, vor einem richtigen Patienten, dem es schlecht geht."

  • Und zum ersten Mal schlich sich so etwas wie ein Lächeln auf das Gesicht des Heilers, als er Ánthimos zunickte. Selbsterkenntnis war der erste Schritt, und dieser fiel meistens nicht leicht. Immerhin wollte man helfen, wollte Lösungen finden, wollte etwas bewirken. Man wurde ja nicht deshalb Heiler, weil man dann besonders reich oder angesehen wurde. Man wurde Heiler, weil man in erster Linie kranken Menschen helfen wollte. Da den Schritt zu gehen und sich selbst zurück zu nehmen, geduldig zu sein und ruhig zu bleiben, das war etwas, woran viele Menschen scheiterten. Aber Ánthimos schien endlich anzufangen, zu lernen.
    “Du möchtest helfen, und das ist nobel. Daran ist an sich nichts falsches. Aber du musst dabei immer die nötige Zeit dir nehmen. Egal, wie eilig es scheint, und egal, wie sehr der Wunsch in dir brennt, zu helfen. Das ist schwer, ich weiß das.“
    Och immer ließen ganz leicht nach oben verrückte Mundwinkel so etwas wie ein Lächeln erahnen, als sich der Heiler seinem Patienten wieder zuwandte und endlich auch seine Meinung sagte zu dem, was Anthi diagnostiziert hatte.
    “Seine Zähne sind schlecht, er hat nicht gut gegessen. Seine Haut ist dünn und scheint rissig, sein Körper ist ausgetrocknet. Er hat Fieber und kalten Schweiß, was an seinen Kräften zehrt. Sein Puls ist schwach, er hat viel Kraft verloren. Seine Augen haben eine gelbe Farbe, und er ist nicht ansprechbar. Du hast gut die Symptome erkannt.
    Ich habe ihn noch weiter untersucht. Er hat keine Bisse von Tieren, weder von Schlangen, noch entzündete Mückenstiche. Die Krankheit ist in seinem Inneren, und auch von dort gekommen. Vielleicht sogar durch das Essen, oder weil er zu unausgewogen gegessen hat und damit anfällig war gegen bösen Atem.“

    Der Heiler legte noch einmal seine Hand auf die Stirn des alten Mannes, als kontrolliere er die Temperatur.
    “Der Mann hat Gelbfieber. Also wasch dir gleich die Hände, wenn wir hinausgehen. Wir müssen das Fieber senken und den Körper kräftigen. Das mit dem Wasser war also schon gar nicht schlecht, damit und mit Bandagen aus Essig, Linsenbrei und Alraune um Arme und Beine ziehen wir die Hitze aus seinem Körper. Und wir werden Weihrauch hier drinnen entzünden, um den bösen Atem zu bekämpfen, damit er entweicht und nicht zurückkehrt.“
    Neferabu erklärte die Wirkweisen der Bestandteile seiner Medizin nicht. Inhapy meinte, sie habe Ánthimos schon das beigebracht, und wenn nicht, würde er fragen. Die jungen Menschen fragten immer.
    “Und jetzt leih mir kurz deinen Arm zum Aufstehen, ich fürchte, ich bin älter, als mir lieb ist.“

  • Anthi half dem Alten auf und ärgerte sich: Das mit dem Austrocknen hatte er nicht bemerkt. Er hatte bemerkt, dass die Haut des alten Mannes brüchig war, aber hatte nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Jetzt wusste er was sein Lehrer damit meinte, wenn er sagte man soll erst richtig schauen.


    "Für was sind die Alraune und der Essig? Ich meine, was bewirken die? Also der Linsenbrei ist zur Stärkung, soviel hat Inhapy mir schon beigebracht. Die müssen ja noch einen anderen Zweck erfüllen, sonst würde es ja auch Wasser tun, oder liege ich da falsch?"


    Als sie nach draußen gingen, wusch er sich sorgfältig die Hände.

  • Nachdem Neferabu wieder stand und die Schmerzen in seinem Knie nachgelassen hatten, ging er mit Anthimos nach draußen und wusch sich ebenfalls gründlich die Hände in dem Essig-Wasser-Zwiebelgemisch, das hier in einem Eimer vor jeder zweiten Türe zu finden war.
    “Die Linsen sind zur Stärkung, das stimmt. Alle Hülsenfrüchte haben diese Eigenschaft, aber die Linsen haben noch einen anderen Effekt. Sie saugen sehr viel Wasser, auch wenn man sie mahlt und einen Brei daraus macht. So halten sie die Feuchtigkeit gut, mit der man sie begießt, und saugen im Trocknen den Schweiß von der Haut. Und gleichzeitig geben sie das Wasser an die trockene Haut gut weiter, so dass diese nicht mehr so sehr reißt.“
    Er ging langsam und bedächtig. Nicht, weil er das immer machte, in diesem Fall, um das Wasser, das sich in seinem Knie von Zeit zu Zeit sammelte, zu verbergen. Er würde sich das Gelenk mit einer Salbe einreiben, die die Feuchtigkeit herausziehen würde. Aber zunächst ging er mit Ánthimos den Gang weiter entlang.
    “Der Essig senkt das Fieber sehr gut. Auch desinfiziert er gleichzeitig den Schweiß und verhindert weitere Ausbreitung. Essig und Wein haben eine reinigende Wirkung auf das Blut, wenn sie in Maßen angewandt werden. Sich zu betrinken ist nicht förderlich für das Blut, und noch weniger für den Kopf. Aber im Feld verwendet man oft Wein und Essig, um Wunden zu waschen. Also wirkt er ebenfalls zweifach, einmal zur Eindämmung des Fiebers, und zur Eindämmung des bösen Atems.“
    Sie kamen schließlich bei einer Türe an, die der Heiler wieder öffnete. Diesmal traten sie in einen großen Raum, wo einige Männer – aufgrund der Schlichtheit der Kleidung mochte man annehmen, es waren Sklaven – scheinbar Essen zubereiteten. Aber wenn man genauer hinsah, sah man auch einzelne Pötte und Töpfchen, die mehr nach Salben aussahen denn nach etwas essbarem. Neferabu durchquerte den Raum mit Ànthimos bis zum hinteren Ende, wo er zielsicher in ein Regal griff und sich die Schmerzsalbe für sein Knie nahm. Er hatte noch vor, heute viel zu arbeiten, da störte ihn sein Bein.
    “Die Alraune hingegen ist eine magische Pflanze, und sie verstärkt die guten Geister, die durch den Weihrauch gerufen werden. Auch wirkt sie gegen Schmerzen und wird den Guten ruhiger schlafen lassen, und ist dabei nicht so aggressiv wie Schlangenextrakte, und nicht so unberechenbar und schwer wie Mohn.“
    Er stellte das Bein kurz auf eine Bank, zog sein Gewand über sein Knie und trug mit einem Holzspachtel eine dünne Schicht der Salbe auf sein Knie auf, ehe er den Pott wieder fein säuberlich wegräumte.

  • Anthi merkte sich alles. Wein und Essig also...aber diese Alraune, darunter konnte er sich im Moment rein gar nichts vorstellen. Er folgte dem Alten aufmerksam und schaute sich um. Hier schien es eine richtige Medizin- und Salbenküche zu geben. Gerne hätte er den Sklaven noch beim Kochen zugeschaut und was sie da noch so trieben, aber der Alte blieb nicht stehen. Natürlich hätte er ihn gleich wieder eingeholt gehabt, aber das hätte er als unhöflich empfunden.


    Offenbar hatte Neferabu Probleme mit seinen Knien, denn er trug dort eine Salbe auf. Das Gelenk war dick geschwollen. "Wenn ich dir bei was helfen kann, weil du Probleme mit deinem Knie hast, dann gehe ich dir gerne zur Hand."

  • “Das ist nur das Alter, dagegen kann kein Heiler etwas ausrichten. Die Salbe enthält ein wenig Gift, das betäubt das Gelenk und zieht das Wasser heraus. In einer halben Stunde ist es wieder hergestellt. Solange können wir uns hier setzen und bei der Herstellung der Salben helfen.“
    Neferabu setzte sich bereits hin und sofort kam ein ganz junger Bursche, höchstens vierzehn Überschwemmungen alt, herbeigelaufen und brachte ihm einen Becher mit dünnem Bier. Als er Anthi sah, lief er noch einmal und brachte auch ihm einen Becher davon, den er auf den Tisch stellte.
    “Bei einer Salbe kommt es zum einen auf die richtige Dosierung an, zum anderen auf die richtige Körnung. Alles muss geschmeidig ineinander übergehen, sonst hast du überall Klümpchen und erzielst keine gleichmäßige Wirkung. Alle diene Zutaten sollen etwa die gleiche Größe hinterher haben, so dass sie sich gleichmäßig verteilen und nicht die großen Teile nach unten sinken und oben nur flüssiges Öl schwimmt.“
    Er winkte einen der Männer heran und fragte nach Mörser, Stößel und Linsen. Zwar könnten das auch die anderen hier machen, aber Anthimos sollte seinen ersten Patienten ruhig vollkommen behandeln und die Paste für die Bandagen selbst herstellen. Das war ein weitaus erhebenderes Gefühl als die meisten anderen Dinge.

  • "Wirkt jedes Schlangengift so betäubend, oder nur das der Kobra?" fragte er, während er anfing die Linsen zu mahlen. Das fiel ihm nicht allzu schwer, denn Kraft hatte er mehr als genug. Eigentlich musste er hauptsächlich aufpassen, keine Linsen aus dem Mörser zu schießen.


    Während er sich noch abmühte, mit der Zeit war es doch ganzschön anstrengend den Stößel immer so fest zu halten, kam ihm noch eine Frage in den Sinn: "Was meinst du eigentlich mit diesem bösen Atem?"

  • “Die meisten Schlangengifte wirken stark betäubend. Du musst wissen, so mächtig Schlangen auch sind, sie sind faule Tiere. Es ist für sie um einiges einfacher, ihre Beute zu fressen, wenn diese betäubt ist, denn manchmal braucht ihr Gift sehr lange, bis ihr Opfer wirklich tot ist. Und wenn sie sich verteidigen müssen, sind sie ebenfalls darauf angewiesen, dass ihr Gegner rasch außer Gefecht ist und sie nicht noch nach ihrem Biss erwischt. Denn Schlangen haben nur genug Gift in sich, um ein oder vielleicht zwei Mal zuzubeißen. Daher tun sie das sehr mit bedacht, da sie diese Waffe dann die nächsten Tage nicht einsetzen können.“
    Neferabu mochte die Tiere, sie waren so ruhig und besonnen, und solange man ihnen gegenüber keine Fehler machte und keine Aggressionen zeigte, waren sie weitaus ungefährlicher als so mancher Mensch. Aber ein Fehler ihnen gegenüber, und sie griffen einen an. Sie kannten keine Freundschaft. In vielerlei Hinsicht erinnerte ihn das doch an so manchen Mitbürger.
    “Der böse Atem ist eine Möglichkeit, wie wir krank werden können. Da gibt es verschiedene Ursachen. Die meisten kommen durch das Essen, dass man etwas falsches zu sich genommen hat oder ein Mangel entstanden ist. Dann gibt es Krankheiten, die durch Verletzungen kommen, wie Mückenstiche, Tierbisse und Verwundungen, die dann Eitern oder gar Wundbrand bilden. Oder auch Dreck, der in Wunden gerät. Dann gibt es die Krankheiten, die die Götter schicken und die nur sie auch wieder heilen können. Da kann ein Heiler dann auch nichts dagegen ausrichten. Manchmal hilft der heilsame Schlaf im Tempel, so dass der Betroffene träumt und von der Gottheit erfährt, wie er geheilt werden kann.
    Und dann gibt es den bösen Atem. Im Atem eines Menschen steckt sein Geist, daran glauben wir Ägypter. Und wenn nun der Geist von bösen, unsichtbaren Geistern verunreinigt wurde, wird man ebenfalls krank. Dann kann der eigene Atem auch einen anderen Menschen anstecken. Das sind tückische Krankheiten, wie beispielsweise das Gelbfieber. Da muss man dann die Luft um den Betroffenen auch säubern und behandeln, damit sich niemand ansteckt.“

  • Wunderbar. Da liess der Alte ihn bei dem Patienten am Atem riechen, und jetzt sagte er ihm, dass darin wohl böse Geister lauern. Anthi war sich zwar keiner Schuld bewusst, weswegen er davor Angst haben müsste, aber ein wenig unheimlich war das schon


    "Dann kann man also die Krankheiten mit dem bösen Atem nicht mit dem Ausgleich der Säfte behandeln, sondern nur die Sachen, die durch falsche Nahrung entstanden sind?"


    Dann lag ihm noch eine Frage ganz besonders auf der Zunge.


    "Nun, meine Frau erwartet ein Kind. Was muss ich tun um zu verhindern, dass ich mich anstecke und es dann auf sie übertrage?"
    Das sie ja noch nicht verheiratet waren, brauchte der Alte nicht zu wissen. "Nicht das ich anfällig wäre für Krankheiten, aber muss ich noch etwas beachten, außer mir gut die Hände zu waschen?"

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