Siv wusste nicht, was dem Parther gerade durch den Kopf ging, aber sie konnte es sich in etwa vorstellen. Sie hatte die Flavia ja kennen gelernt, sie konnte sich nicht vorstellen, dass es angenehm war, zu ihr zu gehen und ihr einen Fehlschlag zu beichten. Aber Siv konnte und wollte ihm nicht weiter helfen. Am liebsten hätte sie sich darüber aufgeregt, was die Flavia sich einbildete, einen ihrer Sklaven loszuschicken und sie auszuquetschen, dass sie es ihm zumutete und ihr, und normalerweise hätte sie sich auch aufgeregt. Aber sie hatte nicht die Energie dafür. Nicht jetzt. Nicht heute. Die Tatsache, dass Corvinus die Flavia heute heiratete, ihr versprach, an ihrer Seite zu sein, ließ sich nicht weit genug verdrängen, als dass ihr Temperament die Oberhand hätte bekommen können in diesem Augenblick. Genauso wenig schaffte sie es, wirklich mehr als etwas Mitgefühl für Phraates aufzubringen, geschweige denn sich etwas einfallen zu lassen, das ihnen beiden helfen könnte – was unter normalen Umständen der nächste Schritt für sie gewesen wäre. Nachzudenken, was sie sagen könnte, das nichts verriet, Phraates aber nicht mit völlig leeren Händen zu der Flavia zurückkehren ließ, so dass er nicht bestraft wurde.
Die Panik, die kurz in Phraates’ Augen aufflackerte, entging der Germanin. Die anschließende Verärgerung dagegen jedoch nicht, die sich noch steigerte, als der Parther anfing sie auch verbal auszudrücken – und mit fremden Worten um sich schmiss, die Siv zwar nicht verstand, von denen sie aber durch den Kontext eine ungefähre Vorstellung hatte, was sie bedeuten mochten. Irgendjemand, der in seinem Heimatland etwas zu sagen hatte. Jemand, der Autorität hatte – und sie in diesem Moment auch einzusetzen versuchte. Und sie wirkte auch. Auch hier wieder hätte Siv normalerweise völlig anders reagiert. Sie hätte sich entweder aufgeregt oder wäre ironisch geworden, hätte sich auf eine Art verhalten, die ihr im Grunde nur Ärger einhandeln konnte und in der Vergangenheit auch nur zu oft Ärger eingehandelt hatte. Aufgrund ihrer Schwangerschaft war Siv aber derzeit generell empfindlicher als für gewöhnlich, und der heutige Tag machte es noch einmal schwieriger für sie. So initiierte Phraates’ Verhalten in ihr in diesem Moment nicht ihren üblichen Trotz, sondern bewirkte im Gegenteil eher das, was es vermutlich bewirken sollte: Siv war eingeschüchtert. Wäre die Reling nicht in ihrem Rücken gewesen, sie hätte in diesem Moment einen Schritt zurückgetan, so presste sie sich nur gegen fester das Holz und schlang ihre verschränkten Arme in einer unwillkürlichen Abwehrreaktion enger um ihren Oberkörper. Sie starrte ihn an, aus blauen Augen, in denen zu erkennen war, dass sie in diesem Moment Angst vor ihm hatte. Sie wusste, dass er ihr nichts tun konnte, vor allem nicht hier, aber sie konnte es nicht verhindern, dass sie so empfand. Wären sie jetzt allein gewesen, Siv hätte versucht wegzukommen.
Ob es nun an ihrer zwar wortlosen, aber wohl doch merkbaren Reaktion lag oder an etwas anderem – Phraates wurde wenigstens für einen Moment wieder normal, und diesmal sah Siv einen Teil der Verzweiflung, die ihn überhaupt erst so weit getrieben hatte. Sie war immer noch vorsichtig, hatte immer noch ein mulmiges Gefühl, und gleichzeitig war auch wieder das Mitgefühl da – und trotzdem: sie weigerte sich, ihm zu sagen, was er wissen wollte. Sie konnte es ihm nicht sagen. Sie würde die Flavia nicht aufs Glatteis führen, aber sie würde ihr auch nicht erzählen, dass sie mit Corvinus das Bett teilte – sie konnte das einfach nicht. Es reichte doch schon, dass die Flavia Corvinus heiraten würde, dass sie mit ihm zusammen sein konnte, ohne es geheim halten zu müssen, und dazu noch entsprechend Zeit abging, die sie selbst mit ihm verbringen konnte – und dass sie allein damit Sivs Situation um einiges erschweren würde, selbst wenn sie eine freundlichere Herrin wäre. Davon abgesehen wagte Siv sich gar nicht vorzustellen, wie ihr Leben werden würde unter einer Hausherrin, die wusste, dass sie mit ihrem Mann das Bett teilte. Selbst wenn Celerina davon ausging, dass es nicht mehr war als eben das – ein Römer, der eine Sklavin zu sich rief, was nicht ungewöhnlich war, unabhängig davon ob er verheiratet war oder nicht –, würde sie kaum davon begeistert sein. Aber was würde passieren, wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass mehr war zwischen ihrem Mann und seiner Leibsklavin? Siv gehörte nicht Celerina, sie konnte nicht einfach über sie verfügen, zumal sie einen anderen Status hatte als die üblichen Haussklaven. Aber sie würde die Hausherrin werden, und als solche hatte sie durchaus Möglichkeiten, Siv das Leben schwer zu machen. Aber obwohl diese Überlegungen Siv durch den Kopf gingen, waren sie im Grunde höchstens zweitrangig für sie. Der Hauptgrund für ihre Weigerung war schlicht und einfach: sie wollte nicht. Sie konnte es noch nicht einmal wirklich erklären, aber etwas in ihr sperrte sich zutiefst dagegen. Sie liebte Corvinus, und was sie mit ihm und durch ihn hatte, war ihr zu wertvoll, um darüber zu tratschen, was sich bei ihnen im Bett abspielte, oder jemandem zu erzählen, was zwischen ihnen war – noch dazu jemandem, der dieses Vertrauen weder verdient hatte noch wertschätzen konnte, schon allein, weil sie sich nicht kannten, aber auch weil er vorhatte, es weiter zu erzählen. „Es tut mir leid“, antwortete sie, und man konnte ihr anhören, dass sie es ehrlich meinte, auch wenn sie das mulmige Gefühl, das sie dabei hatte, immer noch nicht ganz unterdrücken konnte. „Wirklich. Ich will nicht, dass du kommst in Loch. Aber ich kann nichts sagen. Ich…“ Hilflos zuckte sie die Achseln. Warum konnte Phraates nicht einfach das an Celerina weitergeben? Warum konnte die nicht einfach nur sauer auf sie sein? Sollte sie doch, Siv legte nicht unbedingt Wert darauf, von der Flavia gemocht zu werden, nicht wenn sie ihr im Grunde nicht mehr ankreiden konnte als die Tatsache, dass sie eine loyale Sklavin war. Oder noch besser, Phraates vermittelte es ihr auf eine Art und Weise, dass sie glauben würde, Siv wüsste tatsächlich nichts. Aber das konnte sie nicht laut sagen, weil das allein sie schon wieder verdächtig machen würde – und sie wusste nach wie vor nicht, wie loyal Phraates als Sklave war, ob er das dann ebenfalls weiter erzählen würde.