Komm, süßer Schlaf!

  • Ob der schrecklichen Vorkommnisse der letzten Tage, litt ich nicht nur unter dem Verlust meines Sklaven. Auch der Frevel, den die Geflohenen, Marcus, mir und auch dem Rest der Familie angetan hatten, nagte an mir, was sich offenkundig in Schlaflosigkeit in der Nacht abzeichnete. Am Tage versuchte ich, meine wahren Gefühle zu verbergen, damit ich nicht vollkommen an ihnen zugrunde ging.


    Mit offenen Augen lag ich da, starrte die Decke an und hoffte, diese niemals enden wollende Nacht hätte ein Einsehen mit mir und wäre bald vorbei. Regentropfen klopften an das Fenster und draußen stürmte es, was ein Einschlafen umso schwieriger machte. Dies war nicht die erste Nacht, in der ich wachgelegen hatte. Ihr waren schon viele vorausgegangen. Der Saft des Schlafmohnes sollte in dieser Nacht Abhilfe schaffen und mich in Morpheus Arme treiben. Neben meinem Lager stand ein Teller mit Opium getränkten Konfekt. Die Süße des Honigs sollte den herben Geschmack der Droge überdecken.


    Langsam begann der Schlafmohn seine Wirkung zu entfalten. Meine Glieder wurden schwerer und schwerer. Die Augenlider schlossen sich. Allmählich versank mein Körper in der Tiefe meines Lakens.
    Plötzlich fühlte sich auf einmal alles so leicht und unbedeutend an. Ich spürte, wie eine schwere Last von mir genommen wurde, wie ich wieder durchatmen konnte und der Knoten gelöst wurde. Es war, als wäre ich an einen anderen, besseren Ort getragen worden. An einem Ort der Glückseligkeit, einem Platz meiner Phantasie, nach dem man nie aufhörte, zu streben.


    Meine nackten Füße wandelten durch das grüne saftige Gras, das durch den Morgentau noch ganz feucht war. Junge Knaben und Mädchen in hellen Gewändern und Blumen bekränzten Häuptern sprangen lachend und feixend umher. So wie sie, war auch ich, darauf hoffend, mein Geliebter würde mir heute die Ehre geben und mich mit seiner Anwesenheit beglücken.
    Flötenspieler stimmten eine fröhliche Musik an. Ich ließ mich anstecken durch ihre Fröhlichkeit und stimmte in ihren Reigen mit ein. Erschöpft sank ich auf ein weiches Lager nieder, welches sich in einer grünen Laube befand. Hier fand ich Ruhe und Schlaf.


    Nachdem ich wieder aufgewacht war, hatte sich alles um mich herum gewandelt. Die grüne Laube und das Lachen der Kinder war verschwunden. Es schien, als hätte sich alle Häßlichkeit der Welt um mich herum versammelt. Eine Schlange kroch auf dem Boden davon. Todeskälte um mich herum und Todeskälte in mir.
    "Orpheus, Geliebter?"


    edit: kursiv

  • Voll des Glückes legte Orpheus den letzten Rest des Weges zurück, sein Herz war vor Liebe erfüllt und seine Hand griff die Lyra ein wenig fester. Heute würde er seine geliebte Gattin wieder in die Arme schließen und ihre Schönheit mit seinen Liedern preisen, dass selbst die Steine zerfließen würden.
    Er erreichte den Fluss, an dem sie mit ihren Freundinnen gespielt hatte, von weitem schon erblickte er die Gestalten der holden Frauen, die alle um jemanden herumstanden. Gut gelaunt beschleunigte er seine Schritte, bis er das Wehklagen hörte. Die Frauen weinten und klagten, einige liefen weinend von dannen. Im Gras, unweit des plätschernden Wassers lag seine Eurydike, sein holdes Weib, auf der Erde und war so blass wie das Morgengrauen. Die letzten Schritte rannte er, fiel bei seiner Gattin auf die Knie und ergriff ihre Hand. Erschrocken ließ er sie fallen, so kalt und leblos war sie. Doch dann nahm er sie wärmend in die seinen und hielt sie fest.
    "Eurydike, Geliebte, so sprich doch, was ist geschehen?"

  • Längst war das Kinderlachen dem Wehklagen alter Weiber gewichen. Eine gespenstisch anmutende Szenerie war dem Idyll gewichen.
    Die glasig toten Augen, mein bleicher Körper, er lag da. Ich sah ihn genau vor mir und erschrak. Das war ich, Eurydike! Orpheus, meinem Geliebten entrissen und beinahe geschändet von Aristaios, dem Sohn Apolls, der doch so viel Gutes getan hatte unter den Menschen. Oh ihr Nymphen, rächt mein Schicksal, da ich durch ihn ins Unglück gestürzt wurde und schließlich den Tod fand, durch den Biß der Schlange.
    "Oh Geliebter, komm zurück zu mir!" ,schrie ich ihm entgegen. Doch er hörte mich nicht, wandelte er noch auf der Welt, während ich schon die letzte Reise antrat. Ich stimmte ein in das Wehklagen der Klageweiber. Charon, der Fährmann hatte seinen Obolus erhalten, damit er mich, Eurydike hinüber auf die andere Seite brachte, um als ewiger Schatten meine Zeit im Hades zu fristen. "Oh Orpheus, nie mehr werde ich dem Spiel der Lyra lauschen können! Nichts wird mehr sein, wie zuvor! Warum? Warum nur, hast du mich verlassen, Orpheus?"


    Der Schlafmohn hatte seine ganze Wirkung voll entfaltet. Mein Schlaf war tief und unruhig. Die Träume hatten mich sehr mitgenommen. Mein Körper war schweißgebadet. Im Traum hatte ich ihn gesehen. Selbst dort verfolgte er mich. Wieso konnte ich noch soviel für ihn empfinden? Hatte er mich doch so enttäuscht! Er war wertlos geworden. Sein Leben war verwirkt. Er würde es sein, der im Hades sein Dasein als Schatten fristen mußte, nicht ich. Der Tag würde kommen! Drohend stand er bereits am Horizont!

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