Elfledas und Landos Zimmer

  • Rodrik hatte sich mehrere Möglichkeiten vorgestellt, wie dieses Gespräch verlaufen würde. In der schlimmsten Version würde sie ihn hochkant aus dem Zimmer werfen (wobei er sich sogar vorgestellt hat, wie er in diesem Moment sich wie bewegen musste, damit er sich nicht unnötig weh tat), in der besten Version würde sie sich über sein Geschenk freuen. Die beste Version trat sogar ein. Aber in keiner Version hielt sie ihn zurück, sondern er verließ dabei immer den Raum, nachdem er ihr die Brosche überreicht hatte.


    Dementsprechend verwirrt blickte Rodrik Elfleda an. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich gefangen hatte. Wie es ihm in der Schmiede gefiel? "Ähm... ja... gut." antwortete er. Brix brüllte ihn nicht mehr an, die anderen begneten ihn mit ein bißchen mehr Respekt und - das war sehr angenehm - er musste nicht mehr fegen. Aber gerade das mit dem Fegen konnte er Elfleda nicht sagen, das wäre schon etwas peinlich gewesen. "Es ist viel zu tun, weil Gerbod sich die Hand gebrochen hat. Es wird noch dauern, bis er wieder normal arbeiten kann." Er stockte kurz. "Ich möchte mir auch eine Gemmenwerkstatt ansehen, aber..." Wieder stockte er kurz. "Du weisst ja, ich kann nicht so gut mit Menschen. Und einfach in eine Werkstatt reingehen und sagen 'Salve, ich möchte mir ansehen, wie ihr das macht' kommt dann vermutlich nicht so gut an, nicht wahr?"

  • Gerbod hatte sich die Hand gebrochen? Wieso wusste sie nichts davon? Kurz überlegte Elfleda, wem sie dafür das Fell über die Ohren ziehen sollte, auf der anderen Seite: Offenbar war alles unter Kontrolle. Man musste nicht jeder Sache nachspüren, und sie konnte immer noch wie eine Walküre unter die Männer fahren, wenn es später deshalb noch Probleme geben würde.
    “Wieso sollte das nicht so gut ankommen? Du musst ja nicht unbedingt zu unseren Gegnern gehen und dich dort umschauen.“ Was hatten die duccischen Männer nur für Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein? Kein Wunder, dass Elfleda sie so herumkommandieren konnte, die schienen das ja beinahe zu erwarten. Elfleda schüttelte den Kopf. “Die Duccier werden ja wohl genug Einfluss geltend machen können, damit du dir das ansehen kannst.“
    Jetzt war sie wieder in ihrem Element. Von der vorangegangen beinahe jugendlichen Freude war nur noch ein Hauch übrig. Schimpfen lag ihrem Gemüt näher, und irgendwer hier im Haus musste ja für das nötige Selbstbewusstsein sorgen. “Am besten fragst du Gerbod, an wen man sich da am Besten wendet.“ Reden ging ja auch mit gebrochener Hand. Ja, das klang doch schonmal gut. Den Einwand, Rodrik könne nicht so gut mit Menschen, überging Elfleda dabei völlig.

  • Wieso hatte er sich nur gedacht, dass er auf irgendeine Form von Verständnis stossen würde. In diesem Moment fühlte sich Rodrik in jüngere Tage versetzt, in sein Heimatdorf, genauer: in das Haus seiner Mutter und seines Großvaters. Elfleda erinnerte ihn gerade jetzt an seine Mutter, und genau wie bei seiner Mutter senkte er den Kopf und blickte auf seine Schuhspitzen. Nur das immer folgende "Ja, Mutter" würde Rodrik nicht aussprechen.


    Statt dessen kam ein "Ja, Elfleda."

  • Für eine Frau, die mit Männern wie Rodewini großgeworden war, war es immer wieder erstaunlich, wenn andere in ihrer Gegenwart so einknickten. Nicht unbedingt negativ, Elfleda war es durchaus gewohnt, dass gemacht wurde, was sie wollte. Aber doch bemerkenswert. Wenn sie mit ihrem Onkel so gesprochen hatte, hatte er mit ihr diskutiert, seinen Willen gegen ihren ausgetestet. Da war einfach eine Wand, gegen die sie drücken konnte und ihre Stärke austesten konnte. Rodewini hatte einen sehr starken Willen, und wenn sie ihren da hatte durchsetzen wollen, hatte einiges versuchen müssen. Hier war kurz gesagt luftleerer Raum, und wenn Elfleda drückte, fiel sie am Ende noch vornüber. Hier befahl sie, und alle sagten widerspruchslos ja.
    Im ersten Moment sah sie ärgerlich zu Roderik rüber. Sie brauchte jemanden, mit dem sie zanken konnte. Sie hatte eindeutig zu viel Energie in letzter Zeit, und nichts, an dem sie diese auslassen konnte. Aber als sie sah, wie schuldig er da stand und zu seinen Füßen schaute, wurde ihr Ausdruck weicher. Das war, wie wenn man ein Kind schimpfte. Elfleda war ja nicht absichtlich gemein und herrisch.
    Sie ging zu Rodrik rüber, legte kurz ihre Hand an seine Wange, um sein Gesicht etwas anzuheben, und gab ihm einen ganz leichten, geschwisterlichen Kuss auf die andere Wange. “Die Brosche ist wirklich sehr schön.“ Sie lächelte ihn einen Moment sanft an, dann ging sie wieder zum Fenster. Genug der Sentimentalität. “Falls du unten irgendwo Naha siehst, sag ihr bitte, dass wir zu Sonnenuntergang essen und wir vorher noch baden. Sie soll also nicht so weit weg.“

  • Anders gesagt: Rodrik war entlassen. Gerade kam ihm in den Sinn, dass es schon merkwürdig war. Sie konnte so herrisch sein und man konnte es von ihrer Abstammung als Tochter eines Führers erklären. Bei ihm war es nicht viel anders (man ersetze "Tochter" durch "Enkelsohn") und trotzdem war er das ganze Gegenteil. War deswegen seine Mutter so sehr von ihm enttäuscht? Über diese Gedanken bemerkte er fast den Kuss nicht - zum Glück für beide, denn das wäre sonst sicher wieder eine peinliche Situation geworden.


    "Mach ich." antwortete er, dann verließ er ihr Zimmer.

  • Seit Witjons Latrinengriff beim Julfest war nun bereits über eine Woche vergangen. Er hatte Elfleda vor aller Leute Augen auf äußerst respektlose Weise in die Schranken gewiesen und ihrer Autorität damit einen erheblichen Schlag verpasst, den er im Vorhinein weder ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, noch vernünftig hatte abschätzen können. Natürlich hatte er sein Handeln sofort bereut, aber das half erst einmal gar nichts. Elfleda war stinksauer gewesen und da Witjon eine Konfrontation scheute, waren sie sich die ganze Woche so weit möglich aus dem Weg gegangen. Irgendwann war es Witjon dann aber doch zu viel geworden. Er hatte sich eingestanden, dass er sich wohl oder übel bei seiner Schwägerin zu entschuldigen hatte und verspürte zudem ein großes Bedürfnis nach einer umfassenderen Aussprache mit der Mattiakerin. Nicht zuletzt war seine Reaktion beim Julfest so rüde ausgefallen, weil er sich immer mehr von Elfleda bedrängt gefühlt hatte. Zwar sah er ein, dass er zu Beginn wahrhaftig überfordert gewesen war und Elfledas Rat und Motivationshilfen immer wieder gut getan und ihm wirklich geholfen hatten. Mit der Zeit jedoch hatte er immer mehr den Eindruck gewonnen, dass sie als Fürstentochter einen gewissen Einfluss, den sie auf Witjons Entscheidungen zu Anfang haben konnte und den er auch duldete, nicht einfach fahren lassen wollte, nur weil Witjon endlich selbstbewusst und entscheidungsfreudig genug geworden war, dass er auch schonmal ohne sie klar kam. Es war einfach ein unglücklicher Umstand, dass Witjon seinem Ärger ausgerechnet in der Öffentlichkeit Luft hatte machen müssen, worauf er auch nicht sonderlich stolz war. Das hätte er ja auch wesentlich subtiler klären können.


    Und deshalb stand er jetzt vor Elfledas Zimmertür und verharrte im Stillen, während er sich zum Klopfen durchzuringen suchte. Im Haus war heute nicht so viel los. Die Kinder waren beim duccischen Hauslehrer Milacorix im Unterricht, die Männer in den Ställen der Hros oder anderweitig auf der Arbeit und Marga und die Dienstmägde bereiteten in der Küche schon das Abendessen vor, das hauptsächlich aus Resten vom Mittag oder vom Vortag bestand. Die Küche...da hatte doch eben jemand gesessen, den Witjon im Vorbeigehen wahrgenommen hatte. Er hätte schwören können, dass das Eike war, der sich da von Marga einen Teller Eintopf hatte aufschwatzen lassen. Wie dem auch war, jetzt hatte er anderes im Kopf. Witjon riss sich am Riemen und wagte es endlich an Elfledas Türe zu klopfen, was er erst zaghaft tat, dann jedoch noch einmal deutlicher wiederholte.

  • Es klopfte, und Elfleda schreckte ein wenig zusammen. Sie wollte eigentlich niemanden sehen. Nicht jetzt, nicht wie sie gerade war. Nicht, wenn man ihr noch ansehen konnte, wie sie sich fühlte.


    Als Eike heute am Vormittag gekommen war, hatte sie sich erst noch gefreut. Sie hatte ihn umarmt und fast wie eine Jugendliche auf ihn eingeredet. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen, und irgendwer hatte ihm erlaubt, ein paar graue Strähnen zu bekommen, die ihm aber ganz und gar nicht standen. Was Elfleda ihm auch gleich gesagt hatte, ohne dass er zu Wort gekommen wäre. Es war ein halbes Leben her, dass sie ihn gesehen hatte. Das letzte Mal war bei ihrer Hochzeit gewesen, wo er mit ihrem halben Dorf mitgereist und nach ein paar Tagen wieder zurück über den Fluss nach Hause gegangen war. So viel Zeit, die so gnadenlos verging...
    Doch er war nicht nur hier hergekommen, um Elfleda eine Freude zu machen. Natürlich war er das nicht, welcher vernünftige Mensch entfernte sich schon von seinem Heim und seinen Lieben, wenn es nicht notwendig war. Elfleda hatte das anstehende Frühjahrsthing als Grund vermutet, dass Rodewini einige Dinge im Vorfeld schon einmal besprechen wollte. Ihr Onkel hatte gern einige Trümpfe in der Hand, ehe er irgendwo einen Vorschlag machte.
    Aber Rodewini war nicht der einzige Grund gewesen. Zwar hatte ihr Onkel durchaus ein paar Punkte, die er auf diesem Weg gleich mitteilen ließ, aber der eigentliche Grund für die Reise war ein anderer. Einer, der Elfleda das Herz schwer machte. Einer, der sie dazu gebracht hatte, Eike in die Küche zu schicken, um sich nach der langen Reise aufzuwärmen und etwas zu essen, während sie sich erst einmal zurück zog. Zum Glück waren ihre Kinder heute beschäftigt, und zwar alle. Die, die sie geboren hatte, und die, die sie nicht geboren hatte. Vor den Kindern gab sie sich keine Blöße, niemals. Vor den Kindern war Elfleda immer stark, wusste immer Antwort und hatte immer alles im Griff, selbst wenn das nicht so war. Ihre Kinder konnten sich darauf verlassen, dass sie wusste, was zu tun war. Sie weinte nicht vor ihren Kindern. Sie war eine Mama. Und Mamas weinten nicht, oder wurden krank.
    Aber hier im Zimmer war sie allein. Hier hatte sie ihre Ruhe. Ein Luxus, den sie in ihrer Jugend nie gehabt hatte, und den sie immer noch zu schätzen wusste. In ein paar Stunden, wenn ihre Kinder wieder lärmend um sie herumtobten, oder etwas anderes anstand, dann musste sie wieder stark und auf alles vorbereitet sein. Aber jetzt, diesen einen Moment der Ruhe, diese kleine Auszeit, die hatte sie es nicht gemusst. Und in der hatte sie geweint, einfach nur sich auf das Bett gesetzt und geweint.


    Sarwolf war tot. Ihr Vater war gestorben. Ein Fieber, an dem auch einige andere im Dorf erkrankt waren, und das ein paar wenige das Leben gekostet hatte. Hauptsächlich kleine Kinder. Und ihren Vater, dessen Lungen sich mit Wasser gefüllt hatten, trotz aller Kräuter, und der vor wenigen Wochen seine Reise nach Hel angetreten war.
    Ihre Stiefmutter Smilla war mit ihm gegangen, hatte Eike noch erzählt. Ihr jüngstes Kind, Elfledas Halbbruder, den sie nach Elfledas Hochzeit mit Lando bekommen hatte, war nun auch kurz vor dem Mannesalter. Er war nun auch unter Rodewinis Fittichen. Aber das hatte Elfleda schon nicht mehr interessiert. Nicht mehr wirklich.
    Sie war nur nach ein paar Worten gegangen, hatte sich zurückgezogen, und hatte geweint. Geweint um ihren Vater, an dessen Gesicht sie sich nach so viel Zeit nicht immer erinnern konnte. Geweint um Lando, der auch nicht mehr bei ihr war. Geweint um die Zeit, die sie einfach verloren hatte.


    Und jetzt saß sie hier, auf dem Bett, mit geschwollenen Augen, und wischte sich bemüht, über die Augen, um alle verräterischen Spuren zu beseitigen. “Einen Moment“, meinte sie nur und bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie wusste, es würde nichts nützen, ihre Augen würden sie wohl verraten. Dennoch wollte sie sich diese Blöße nicht geben.
    Wer klopfte da überhaupt? Ihre Kinder waren es wohl nicht, die hatten von Anklopfen noch nie etwas gehört. Oder vergaßen es mit regelmäßiger Beständigkeit gerne wieder. “Was ist denn?“ fragte sie durch die geschlossene Tür hindurch und hoffte, die schlimmsten Spuren beseitigt zu haben.

  • Einen Moment? Was machte Elfleda denn da drin? Witjon wartete geduldig, wollte er doch bloß keinen Grund bereits im vorhinein liefern die Schwägerin weiter gegen sich aufzubringen. Die Sekunden vergingen schleichend, bis endlich die nächste Frage erklang, die Witjon als Erlaubnis einzutreten interpretierte. So öffnete er behutsam die Türe und lugte durch den sich verbreiternden Türspalt, seine Bitte im Tonfall eines Mannes vortragend, der sich einer gewissen Schuld bewusst ist, die er nun begleichen will. "Heilsa, ich bin's Witjon..." brachte er hervor, verstummte jedoch beim Anblick der Mattiakerin. Was er sah, ließ ihn erschrecken. Was war passiert, dass Elfleda mit derart geröteten und geschwollenen Augen da saß? "Öh...ich...alles in Ordnung?" Der Erklärungsversuch seines Besuchs blieb ihm im Hals stecken, als er sich entschied lieber erstmal nach ihrem Befinden zu fragen. So hatte er sie das letzte Mal bei Landos Beerdigung gesehen. Was nun? Sollte er eintreten? Abwarten, was sie sagte? Sich lieber zurückziehen und sie allein lassen? Er entschied sich für ersteres und öffnete die Tür also so weit, dass er seinen schlanken Körper geschickt ins Zimmer schieben konnte, um die Tür leise hinter sich zu schließen, während er Elfledas Antwort erwartete.

  • Es reichte ein Blick, und Elfleda wusste, dass ihre Bemühungen zu kläglich gewesen waren. Verdammte Axt! Sie hasste es, wenn irgend jemand sie so sah. Dass es ausgerechnet Witjon war, war natürlich doppelt und dreifach schlimm. Sie hatte gehofft, dass er in der letzten Woche vielleicht das ein oder andere gelernt hatte, dass er vielleicht erkannt hätte, dass er sie irgendwo auch brauchte. Es gab viele Dinge, die sie ihm einfach vom Hals hielt, indem sie sie selbst regelte. Sie war hier die Hausherrin, und so verwaltete sie ihren Hof auch. Sie war es nicht anders gewohnt und nicht anders erzogen. Vielleicht hatte sie ihm sogar weit mehr abgenommen, als sie hätte müssen. Nein, bestimmt hatte sie ihm mehr abgenommen, als sie hätte müssen, und sie hatte gut daran getan.
    Bis auf die letzte Woche, in der sie keinen Finger gerührt hatte. Gar nichts hatte sie getan. Wenn es ein Problem gegeben hatte, war ihre einfache, durchaus zickige Antwort gewesen: ''Fragt Witjon.''


    Und jetzt war es ausgerechnet er, der hier nicht eine selbstbewusste Frau vorfand, sondern ein Häuflein Elend, das mit rotgeweinten Augen dasaß. Und Elfleda hasste sich für diese Schwäche, die sie besser in sich vergraben hätte müssen, noch besser unterdrücken und verbergen müssen. Und nicht ihr nachgeben wie ein kleines Kind, das noch nicht verstand, dass das verdammt noch mal zum Leben dazu gehörte.
    Sie wischte sich noch einmal leicht mit der flachen Hand über die Wangen, wischte noch verbliebene Reste von Tränen weg und drehte sich ganz leicht seitlich. Sie wollte sich diese Schwäche nicht geben, und vor allem nicht zeigen. “Ja, mir geht es gut. Alles in Ordnung. Es ist nur...“ Früher oder später erfuhr er es ja ohnehin. Spätestens, wenn er Eike in der Küche fand und sich zum Abendbrot allerspätestens mit ihm unterhielt. “Es gab ein Fieber in Rodewinis Dorf, das einige Tote gefordert hat. Mein Vater ist auch daran gestorben.“ Sie atmete einmal sehr tief durch, um nicht Gefahr zu laufen, wieder zu weinen anzufangen. Wobei es jetzt, wo jemand bei ihr im Raum war, weitaus einfacher war, sich selbst zu einem Stein zu machen.
    “Was gibt es?“ fragte sie dann schnell, um Witjon in die Defensive zu drängen. Jetzt musste er antworten, und konnte so nicht weiter nachbohren. Zumindest, wenn er so höflich war und ihre Frage nicht einfach beiseite wischte.

  • Elfledas Antwort hätte nicht typischer ausfallen können. Natürlich war alles in Ordnung, sah ja jeder Depp. Den Grund, den sie daraufhin vorbrachte, bestürzte Witjon allerdings sehr. Er hatte Sarwolf zwar nie wirklich gut kennen gelernt, aber Elfleda hatte in diesem Moment dennoch sein tiefstes Mitgefühl. "Das tut mir leid," sagte er daher, obwohl ihm in solchen Situationen generell jedes Wort deplaziert vorkam. Da war es ihm gar nicht so unrecht, dass Elfleda knallhart und mit der üblichen Maske der Beherrschtheit nach dem eigentlichen Grund für sein Kommen fragte. Und wenn sie seine Antwort auf diese Frage für Höflichkeit hielt, war es ihm umso lieber, auch wenn er mehr aus Verlegenheit und Sprachlosigkeit den abrupten Themenwechsel gern annahm.
    "Äh...ich bin eigentlich gekommen, weil..." ...ich mich scheiße fühle und dir das beichten will, damit du mir endlich verzeihst, damit ich mich besser fühlen kann und wir endlich wieder normal zusammen leben können. "...ich mich entschuldigen möchte." Seine Worte klangen nicht sonderlich kraftvoll, nicht stolz, nicht selbstbewusst. Witjon hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, das ihm nicht erlaubt hatte seinen kleinen Triumph über Elfledas Einfluss im geringsten auszukosten.

  • Jetzt sein Mitleid zu ertragen war doch noch einmal schwer für Elfleda. Sie wollte nicht, dass irgendwer sie bemitleidete. Sie war eine Fürstentochter, sie hatte zwei gesunde, kräftige Kinder, hatte mehr Einfluss, als sie sich je erträumt hatte (zumindest, wenn Witjon hier ihr den nicht in aller Öffentlichkeit streitig machte); es hätte sie wahrlich schlechter treffen können. Sie brauchte kein Mitleid. Auch nicht wegen des Todes ihres Vaters, der ein erfülltes und gutes Leben gehabt hatte. Er hatte acht Kinder gezeugt, von denen noch fünf lebten. Er hatte zwei Frauen gehabt, die ihn geliebt hatten. Er hatte gekämpft. Er hatte gelacht. Er hatte gelebt. Das einzige, worüber man traurig sein sollte, war, dass er nicht mit dem Schwert in der Hand gefallen war.
    Und doch nützte all dieses Wissen nur, die Fassade aufrecht zu erhalten. Es war hilfreich, allen Schmerz in sich zu begraben und sich hart und kalt zu machen. Es nützte aber rein gar nichts, es wirklich zu fühlen.


    “Entschuldigen?“ griff Elfleda Witjons Worte auf, und es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht den spitzen und spöttischen Ton anschlug, den er üblicherweise nun erhalten hätte. Es klang wirklich nach einer Aufforderung, sich etwas mehr darüber auszulassen, und nicht wie der Vorwurf, der es eigentlich hätte sein müssen. Sie wurde weich.
    “Ich bin mir sicher, dass du ganz wunderbar ohne meine Hilfe ausgekommen bist“, folgte also doch noch eine sarkastische Spitze. Eigentlich war Elfleda nicht nach streiten, aber auf irgendein Ziel musste sie ihre Kälte lenken. Und Witjon hatte sie wirklich gekränkt mit seinem Tun.

  • Na wunderbar. "Entschuldigen," wiederholte er. Ihre bissige Erwiderung überging er dabei mehr oder minder erfolgreich, wobei er das Gesicht verzog. Das hatte gesessen. Aber er konnte jetzt nicht einfach sagen: "Alles klar, dann geh' ich halt wieder", oder "Na, dann rutsch' mir doch den Buckel runter." Statt dessen gab er nach. "So ist es nicht. Ich bin dir sehr dankbar für deine Unterstützung und die Hilfe, mit der du mir bestehst. Und bitte dich um Verzeihung dafür, dass ich das nicht zu schätzen wusste." Das beschreib seinen momentanen Gedanken- und Gefühlswust zwar nicht im geringsten auch nur in grober Weise, aber es war wohl ein Anfang für einen jungen Mann, der nicht einmal mit seiner Frau über gewisse Dinge gesprochen hatte, die ihm am Herzen gelegen hatten. Nicht zuletzt, weil Callista früh gestorben war, aber das war ein anderes Thema. Jetzt stand er hier vor seiner Schwägerin und gab klein bei. Und fürchtete, dass die Mattiakerin das ausnutzen würde, ihn ungespitzt in den Boden zu rammen...

  • Dass er das nicht zu schätzen wusste. Soso. Also dachte er, dass es ein Danke war, was sie hören wollte? Natürlich sollte er Dankbarkeit zeigen für das, was sie tat. Aber viel wichtiger war, dass er ihr Respekt entgegen brachte und sie in ihrer Stellung stützte, und nicht selbige untergrub! Dieses... Kind hier vor ihr bemühte sich so sehr darum, ein Mann und ein Anführer zu sein, dass es nicht einmal sah, dass es nicht der einsame Wolf an der Spitze sein musste, sondern sehr wohl ihren Schultern auch eine gewisse Last zutrauen konnte.
    Am liebsten wollte Elfleda das tun, was er befürchtete: Ihn mit Anlauf und Effet unangespitzt in den Boden rammen, in der Hoffnung, dass ihn das auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte und er vielleicht endlich einmal zugeben konnte, dass er ihre Hilfe nicht nur bemerkte, sondern dass er sie brauchte. Verdammte Axt!
    Und doch blieb er ziemlich heil, als Elfleda nur einen genervten, schrillen Knurrlaut von sich gab und sich aufs Bett setzte. “Weißt du, ich hätte nach Landos Tod so ziemlich jeden Fürsten der Umgebung heiraten können. Wenngleich sich die meisten meine Munt kaum hätten leisten können, aber und denen, die es gekonnt hätten, hätte ich die freie Wahl gehabt. Und doch bin ich geblieben, hab meine Kinder – und auch dein Kind! - hier großgezogen und hab alles getan, um die Macht dieser Familie zu erhalten. Und du stößt mich in aller Öffentlichkeit von deiner Seite, weil das deine Familie ist und deine Angelegenheit. Jetzt will ich dir mal was sagen, Witjon: Das ist es nicht. Ich habe lange und hart dafür gearbeitet, dass alles so ist, wie es jetzt ist. Und was ich dafür haben will, ist nicht deine Wertschätzung! Ich will deine Unterstützung.“
    Bäm! Dass man Männern immer alles haarklein erklären musste, bis sie es verstanden! “Und ich dachte, dass du das vielleicht in den letzten Wochen gelernt hättest. Aber bitte, mach du nur allein weiter. Vielleicht fängst du mal damit an, dich nicht länger vor den überfälligen Entscheidungen zu drücken.“

  • Witjons Herzschlag begann sich zu beschleunigen, als Elfleda zu einer Antwort ansetzte, die ihn in unerwartete Konflikte mit sich selbst brachte. Er hätte am liebsten geschrien, dass es nicht so war. Dass er alles für die Familie tat, dass er unter all dem litt und, dass er sich das alles ganz anders vorgestellt hatte. Dass er Callista schmerzlich vermisst hatte und immer noch nicht ganz über ihren Tod hinweggekommen war und, dass er es satt hatte ständig von Elfleda reingeredet zu bekommen.
    Aber das stimmte so ja nicht und das wusste er auch. Er tat nicht alles für die Familie, denn Elfleda war ja da und machte so viel für ihn und mit ihm und vermutlich noch so vieles was er gar nicht mitbekam. Und er hatte eigentlich nur unter dem Tod seiner Frau und vor allem unter Landos Tod gelítten. Unter dem Tod seines Vetters, der zuerst Vorbild und irgendwann Wegbegleiter und vor allem eins geworden war: Ein verdammt guter Freund. Tja. Aber was sollte er tun? Er war ein Mann und er konnte Elfleda jetzt hier nicht das Bild eines heulenden Waschlappens abliefern. Nein. Unmöglich. Völlig unvorstellbar.


    Und deswegen sagte er auch nichts dergleichen. Aber das brauchte er auch gar nicht, denn seine Schwägerin sagte noch viel mehr, das ihn berührte, so sehr er sich das auch nicht eingestehen wollte. Die Duccii waren seine Familie, gewiss. Aber Elfleda hatte Recht, sie war ebenso Teil dieser Familie geworden. Er musste sich wohl eingestehen, dass er sie sich auch nicht wegdenken konnte. Was wäre dieses Haus auch ohne Elfleda? Und er erst? Nein, was hatte er sich nur gedacht? Ihr Götter, fühlte er sich jetzt schlecht. Sein Magen war schon völlig verkrampft und seine Augen fühlten sich an, als müsste er gleich heulen. Aber das wollte er nicht, das würde er nicht. Statt dessen hallten in seinem Kopf nur noch Elfledas letztgesagte Worte wider, alles andere war bereits verdrängt. Vielleicht fängst du mal damit an, dich nicht länger vor den überfälligen Entscheidungen zu drücken.


    Witjon schluckte hart, als er sich zu einer Entscheidung durchrang, die er lange aufgeschoben hatte, dann sagte er: "Eine überfällige Entscheidung, ja..." Zwei zögerliche Schritte auf sie zu, stoppen, dann ein paar weitere Schritte. Endlich raffte er seinen ganzen Mut beisammen, als die folgenden Worte seinen Mund verließen. "Elfleda...ich möchte...dich zur Frau nehmen..." Die letzten Worte gingen in einem piepsigen Krächzen unter, als seine Stimme versagte. "Örrgch!" räusperte er sich hastig, um schnell und undeutlich eine Wiederholung zu nuscheln. "Ich will dich ehelichen."

  • Er sagte nichts und hörte zu. Elfleda war sich ziemlich sicher, dass sie einen Nerv bei ihm getroffen hatte, sie war sich lediglich nicht sicher, wie er reagierte. Eine Möglichkeit wäre gewesen, dass er wie ein bockiges Kind nun zu greinen anfing und sie anschrie, dass sie unrecht hatte. Oder kurz, so weitermachte wie auf dem Fest, nur etwas lautstarker. Eine andere Möglichkeit war, dass er doch entschloss, wieder auf sie zu hören, brav kuschte und sich erst einmal aus der unangenehmen Situation mit einer Entschuldigung wand. Die Möglichkeit, die allerdings eintrat, die hatte Elfleda nicht so ganz vorhergesehen.
    “Du willst was?“ fragte sie sichtlich perplex nach. Ein Zustand, der äußerst selten passierte, meistens hatte sie sich doch gut unter Kontrolle. Selbst als Naha verkündet hatte, sie wolle in kindlichem Alter heiraten, hatte sie das nicht sprachlos gemacht. Dass Witjon aber so auf sie zutrat und ihr einen Antrag machte, und das, nachdem sie ihm eine Woche aus dem Weg gegangen und jetzt hier den Kopf zurecht gerückt hatte – das war so nicht geplant gewesen.
    Gut, Elfleda war eigentlich nicht böse darum. Vor Urzeiten hatte sie diesen Gedanken bei ihm angestoßen. Allerdings hatte er damals recht eindeutig darauf reagiert: Mit Ablehnung, besser mit panischer Flucht. Und auch ein paar folgende Anspielungen waren im Sande verlaufen, bis Elfleda das schließlich aufgegeben hatte. Natürlich hatte sie es versuchen müssen, um die stellung ihrer Kinder nach außen zu sichern und noch mehr, um die Macht zu konsolidieren und nach außen größte Einigkeit zu zeigen. Direkt nach Landos Tod war das wichtig gewesen. Nur hatte sich Witjon geschickt davor gedrückt und war auf Abstand geblieben.
    Schließlich hatte Elfleda sich darauf beschränkt, ihm junge hübsche Mädchen vorzuschlagen, die ihm bestimmt ein Dutzend Kinder schenken würden. Es war einfach undenkbar, dass Witjon unverheiratet blieb in seiner Stellung. Eine Hochzeit war ein zu wichtiges, politisches Mittel, um es ungenutzt Brach liegen zu lassen. Und sie hätte Witjon des öfteren erschlagen können, weil er nicht gewillt war, es einzusetzen. Weil er lieber allein bleiben wollte. Weil er... Elfleda hatte keine ahnung,w arum er sich so dagegen gesträubt hatte, nochmal zu heiraten. Daher war ihre Anspielung eben sicher gezielt gewesen, um ihn dazu zu bringen, über das Thema nachzudenken und sich endlich zu entscheiden. Aber doch nicht für SIE!
    Auch wenn sie bei näherer Überlegung dem ganzen nicht abgeneigt war.

  • Huch! So platt hatte Witjon seine Schwägerin ja noch nie gesehen. Die hatte er ja völlig überrumpelt! Wäre Witjon guter Laune gewesen, hätte er jetzt wohl über beide Ohren hinaus gegrinst. War er aber nicht. Deshalb nickte er nur bekräftigend und nahm Elfledas Hand, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, während er seinem Antrag eine Erklärung folgen ließ.


    "Du hast schon richtig gehört. Du forderst von mir, endlich längst überfällige Entscheidungen zu treffen und das tue ich jetzt. Es war doch dein wichtigstes Anliegen, dass ich wieder heiraten solle, ist es nicht so? Also, ich habe mich entschieden: Ich will den Bund zwischen Ducciern und Mattiakern erneuern und dich zur Frau nehmen. Sollen unsere Söhne und Töchter doch Verbindungen zu reichen Kaufmannsfamilien oder Politikern eingehen, ich will jedenfalls dich. Punkt."


    Diese Überlegung war durchaus nicht falsch. Naha, Landulf und Audaod würden in wenigen Jahren ein Alter erreichen, in dem man sie bereits der Brut der Reichen und Mächtigen Mogontiacums und der Umgebung vorstellen könnte. Oder besser gesagt: Mit deren Eltern über eine gewinnbringende Verbindung würde verhandeln können. Witjon allerdings wollte das für sich selbst nicht. Er war bereits einmal Landos Willen gefolgt und hatte jene Verbindung mit den Prudentii geschlossen, die so früh wieder erloschen musste. Jetzt wollte er einfach das tun, was sich in seinem Kopf seit längerer Zeit bereits unterbewusst festgesetzt hatte: Er wollte die intelligente bildschöne immer noch junge Frau vom Stamm der Mattiaker für sich, wollte sein Leben mit ihr verbringen. Warum auch nicht? Er begehrte sie und sie hatte schon lange zuvor den Wunsch geäußert, sich mit ihm zu vermählen, auch wenn das möglicherweise auch einfach rein machtpolitische Gründe gehabt haben mochte. Witjon war das egal. Er stand jetzt vor Elfleda, den Blick erwartungsvoll auf sie gelegt und war mit hoffnungsvoller Spannung geladen. Sein Herzschlag ging rasend schnell und vor lauter Aufregung hielt er unbewusst den Atem an. Wer genau hinhörte, mochte das entfernte Gelächter einer Norne hören, die seinen Faden für den Bruchteil eines Augenblicks in Entscheidungsunfreudigkeit zwischen den Finger hin und her drehte. So rum oder anders herum? Was würde die duccische Hausherrin nun sagen? Der Bruchteil des Augenblicks verflog und die Norne begann wieder Witjons Geschicke zu lenken...

  • Das konnte nicht der Grund sein, oder doch? Elfleda ließ ihren Blick auf Witjons Gesicht liegen, musterte ihn, während er beinahe nervös ihre Hand ergriff und seinen Antrag wiederholte. Schlimmer noch, er wiederholte es nicht nur, er gab dem ganzen eine Erklärung, die so vollkommen unlogisch und gleichzeitig so bestechend schlüssig war, dass Elfleda sich fragte, ob das wirklich sein konnte. Witjon klang verliebt. In sie. Er sagte es zwar nicht so, aber dennoch klang es so. Der Bund zwischen den Mattiakern und den Ducciern musste man nicht zwangsläufig erneuern. Als Elfleda ihn um das gebeten hatte, waren Landulf und Naha noch in einem Alter, bei dem man annehmen musste, dass sie nicht sehr alt werden würden. Jedes zweite Kind starb, ehe es fünf Jahre alt war. Selbst bei Familien, die so wohlhabend waren wie die ihre, starb dennoch jedes Fünfte. Damals hätte eine Ehe den Bund gefestigt, hätten weitere Kinder den Bund gesichert. Irgend eines hätte sicher überlebt. Aber jetzt waren die Kinder älter, und sie waren gesund. Es war nicht mehr so zwingend.
    Und doch sagte Witjon, dass er sie wollte. Er unterstrich es sogar mit einem Punkt. Elfleda sah ihn also nachdenklich an und überlegte, ob er wirklich in sie verliebt war. Und wenn ja, seit wann. Schon früher? Hatte er sich deshalb gegen eine Ehe mit ihr gesträubt, weil er gedacht hatte, Lando damit zu betrügen? Hatte er sich später gegen andere Ehen gesträubt, weil er doch eigentlich sie wollte? War das wirklich der Grund? Es klang so furchtbar schlüssig.
    Ein klein bisschen regte sich Elfledas Gewissen. Ja, sie hatte eines. Sie hatte Witjon wirklich sehr, sehr gern, aber sie hatte nicht so ein Gefühl von Verliebtheit. Und da er auf ihre Kinder zu sprechen kam, Elfleda wusste nicht, ob sie noch so viele haben würde. Sie war kein junges Mädchen mehr. Witjon hatte definitiv größere Chancen auf Nachwuchs, wenn er sich ein hübsches, vierzehn Jahre altes Kaufmannstöchterchen suchte, die ihm noch zwanzig Jahre lang Kinder gebären könnte, wenn sie nicht vorher starb. Elfleda hatte erst recht spät geheiratet, und ihre Kinder waren nun auch schon älter. Sie hatte keine zwanzig Jahre mehr, um Kinder auf die Welt zu bringen.
    Und doch würde es ihren Kindern in jedem Fall ihre Stellung sichern, wenn sie zustimmte. Keine neue Frau würde neue Ansprüche stellen und versuchen, ihre Kinder über die von Elfleda zu stellen. Es würde Einigkeit in der Familie bringen, Streit vermeiden, ihre eigene Stellung sichern. Und es würde Witjon wohl glücklich machen. Und sie selbst hätte auch wieder einen Mann...
    “Einverstanden“, meinte sie vorsichtig, nicht wissend, wie Witjon reagieren würde. Sie hatte schon nicht mit dem Antrag gerechnet, da wollte sie nicht voraussagen versuchen, wie er auf dessen Annahme reagierte. “Eike könnte noch bleiben, um es für meine Familie zu bezeugen. Aber... vielleicht sollten die Kinder vorher ein neues Zimmer bekommen.“ Elfleda war sicher nicht spröde geworden oder gar so verrückt wie die Römer. Aber Naha und Landulf schliefen bei ihr im Bett, und das könnte mit Witjon zum einen etwas voll werden. Und zum anderen hatte Elfleda das Gefühl, dass Naha nicht sehr erfreut sein würde.

  • "Einverstanden," sagte sie und Witjon nickte erleichtert. Er hatte jedoch keine Gelegenheit, gleich etwas zu antworten, denn Elfleda redete weiter. Eigentlich war Witjon ganz dankbar darum, denn so konnte er sich zunächst einmal sammeln und die Erleichterung, die sich in ihm ausbreitete, verarbeiten. "Ja," erwiderte er auf ihren Vorschlag hin. "Ja, das ist eine gute Idee." Einen Augenblick lang stand er still da, dachte nach. So richtig wusste Witjon nicht, wie er jetzt weitermachen sollte. Er blickte zu Boden, peinlich berührt ob seiner eigenen Ratlosigkeit. Dann lächelte er, sah Efleda an und breitete die Arme aus. "Schön, dass du zustimmst." Hm, ja. Das waren klare Worte, absolut. Und jetzt konnte er Elfleda seine Lebensplanung darlegen. Dass er Kinder von ihr wollte, endlich wieder eine 'richtige' Familie haben wollte, Vater ihrer gemeinsamen Kinder sein wollte. Dass er mit ihr glücklich werden wollte und so unglaublich erleichtert war, dass er sich mit ihr aussprechen wollte. Und er wollte endlich diesen Machtkampf beenden, der so unendlich lange in der Casa Duccia geherrscht hatte.
    Oder aber...
    Spontane Entschlossenheit bemächtigte sich seiner, in der er sich einfach zur ihr herunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte, der es in sich hatte. Zumindest fand Witjon das, als er sich wieder aufrichtete und Elfleda ernst fixierte. "Hatte ich dir eigentlich schonmal gesagt, wie schön du bist?" fragte er, ein zögerliches Lächeln auf den Lippen.

  • Zunächst blieb die überschwängliche Reaktion auf ihre Antwort aus, und Elfleda wollte schon erleichtert sein. Die ganze Situation war doch etwas seltsam, vor allem, wenn man den Anfang des Gesprächs und den eigentlichen Grund nicht aus den Augen verlor. Witjon war gekommen, um sich zu entschuldigen, und nun ging er mit einem Eheversprechen. Unter anderen Gesichtspunkten wäre dies wohl eine Konstellation gewesen, die von Elfleda mit tiefstem Spott bedacht worden wäre.
    Doch die Erleichterung hielt nur kurz, als Witjon sich schon einen Vorgeschmack auf das Eheleben einfach holte und sie küsste. Und nicht nur flüchtig und kurz, wie es unter Verlobten schon gestattet wäre, nein, sondern so, dass Elfleda glaubte, er würde sie gleich vollständig in die Federn drücken und noch ein wenig mehr kosten wollen. Und er küsste ja gut, Elfleda müsste lügen, wenn sie etwas anderes behaupten würde. Dennoch kam das für sie nicht in Frage, heute schon gar nicht.
    Als Witjon sie wieder los ließ, bedachte er sie mit diesem speziellen Blick. Elfleda kannte den schon. Wenn Lando diesen gehabt hatte, hatte sie entweder sehr energisch nein sagen müssen, oder eben... tja. Aber Witjon war nicht Lando, sie beide (noch) nicht verheiratet und das hier sicher weder Ort noch Zeit dafür. “Ja, hast du“, antwortete Elfleda ruhig und sah Witjon streng an. “Und habe ich dir vorhin gesagt, dass ich heute erfahren habe, dass mein Vater gestorben ist?“ Das Mannsvolk hatte schon sehr seltsame Vorstellungen davon, wie Erregung bei einer Frau funktionierte. Selbst wenn sie beide verheiratet gewesen wären, wäre so ein Tag sicher nicht dafür prädestiniert, mit unverhohlener Leidenschaft zu enden.
    Elfleda stand auf und strich sich ihr Kleid glatt. Vielleicht sollte sie doch noch eine Sache klarstellen. Sie meinte es ja nicht einmal böse, aber sie wollte nun die Zeit bis zur Hochzeit, so sie denn stattfand – so ganz traute sie Witjon da noch nicht – nicht damit verbringen, Annäherungsversuche abzuweisen. “Und eine ehrbare Frau tut das nur mit ihrem Ehemann. Noch bin ich Landos Witwe und niemand anderes Frau.“ Vielleicht etwas weniger zärtlich, als Witjon erhofft hatte, aber Elfleda musste hier eine ganz klare Grenze ziehen.

  • Dies war wieder einer der Momente, in denen Witjon zu der Überzeugung gelangte, dass er der größte Volldepp aller Zeit sein musste. Wie konnte er auch sein Hirn ausschalten und so taktlos sein, ausgerechnet an dem Tag, an dem Elfleda vom Tod ihres Vaters erfuhr, sie über die höfliche Einverständniserklärung zur Vermählung angraben zu wollen?
    Sofort nahm er ein paar Schritte abstand. "Verzeih," entgegnete er, fügte jedoch aus Erklärungsnot hinzu: "Das bist du und darüber will ich keinen Zweifel hegen." Damit bezog er sich auf ihre Aussage/Zurechtweisung/Feststellung, sie seine eine ehrbare Frau und Witwe und noch unverheiratet und tue so etwas deshalb nicht. Witjon nickte nur spärlich. Er ärgerte sich wie so häufig in letzter Zeit wieder über sich selbst.


    Wie sollte er auch anders? Er musste Sippenführer sein, stark, unermüdlich, geistige Stütze für die Familie. Und dann waren da all die Probleme: Der unfassbar nervige Heiratszwang, die Leitung des Handelskonsortium - was sich noch als das Einfachste gestaltete -, die Umwälzungen in der Civitas durch die Reformen, das ständige Hochhalten der duccischen Standarte an allen Fronten...das ermüdete Witjon sehr. Und er war es manchmal einfach nur leid. Die Parzen hassten ihn, zu dieser Überzeugung war er schon lange gekommen und so war er nicht erstaunt, dass er diesen entscheidenden Moment, in dem er sich mit Elfleda vernünftig hätte aussöhnen können - was er ja objektiv getan, in seiner Einschätzung aber natürlich völlig vermasselt hatte - nicht richtig genutzt hatte, sondern lieber noch ungehörige Forderungen stellen musste.


    "Ich..." machte er dann, den Weg zur Tür suchend, als ein drängender Fluchtimpuls sich seiner bemächtigte. "...gehe dann jetzt besser..." Womit er sich zur Tür wandte.

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