Atrium | Väterchen und Töchterchen

  • Quietschend ging die Tür zum Atrium auf. Zuerst lugte ein Kopf hervor (in erstaunlicher Höhe, muss man schon sagen), und dann kam der Körper zum Vorschein. Es war Romana, welche nicht ein einziges Mal gezögert hatte, sich vielleicht gewundert hätte, wo das Atrium sei, als sie es aufsuchte. Direkt war sie dorthin geschritten. Es war absolut einmalig, wieder hier zu sein. Die Fresken... die Bilder... das Wasser, welches sich im Becken im Atrium spiegelte. Wundervoll.


    Doch etwas fehlte hier. „Vater?“, rief sie und drehte sich herum, um die eigene Achse, hoffend, ihren Vater zu finden. „Vater?“, wiederholte sie. Wo war er bloß? Hatte er das Atrium kurz verlassen, oder versteckte er sich hinter einem der Büsche, welche hier herumstanden, um dann herauszuspringen und sie zu überraschen? „Ich bin es, Romana!“, rief sie, trotz des Umstandes, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, dass ein Vater sein Kind vergisst.

  • Menecrates stand in der Manier eines Optios und gab an sein Personal und die beorderten Renovierungsfachkräfte Anweisung. Dabei schwang er einen Stab, der dem eines Optiostabes zum verwechseln glich, und wies in die gewünschte Richtung. Auf diese Weise hatte er bereits dem neuen Mosaik und den beiden Gemälden seinen Platz zugewiesen, die Nachreinigung des Atriums beaufsichtigt und für das Aufstellen der Bodenvasen gesorgt.


    Alleine das Arrangement der Pflanzen stellte ihn vor Probleme, denn er besaß weder besonderes Gespür noch die nötige Fachkenntnis, um zu entscheiden, welche der Gewächse eher am Rande und geschützt stehen sollten und welche er der prallen Sonne aussetzen durfte.


    "Beim Jupiter, wo treibt er sich denn herum?", brauste er auf die Auskunft hin los, der Gärtner sei im Augenblick nicht aufzufinden. "Muss ich jetzt selbst suchen gehen?" Eine Antwort bekam er freilich nicht, also stapfte er zur Tür, die in den angrenzenden Garten führte.


    Plötzlich rief jemand. Menecrates achtete nicht auf den Inhalt und stürmte weiter, denn er war in Gedanken bereits bei der Moralpredigt für den Gärtner. Als sich aber das Rufen wiederholte, blieb er stehen und wandte sich um. Das klang doch wie 'Vater'. Die Erklärung kam prompt, der Absender nannte seinen Namen.


    Menecrates setzte sich in Gang. "Na, so eine Überraschung! Kind, du triffst im größten Wirrwarr ein", begrüßte er seine Tochter bereits von weitem. Er lächelte, während er auf sie zuschritt.

  • Da war eine... Bewegung. Zwischen den traurig herunterhängenden Pflanzen konnte sie sehen, wie e seine Bewegung gab. Als der Mann, welchem jene Bewegung zuzuschreiben war, sich ihr näherte, wurde die Vermutung zur Gewissheit.


    „Vater!“, rief Romana, lachte auf und eilte ihm entgegen. Schon wollte sie ihm beide Hände reichen, als Zeichen der Liebe und des Respekts – da erkannte sie, dass ihr Vater etwas in der Hand trug. Was war das? Ein Stab. Verwundert blickte Romana auf den Stab, dann auf den Mann, welcher ihn mit beiden Händen trug. „Bist du unters Militär gegangen?“ Die Frage wurde von einem schiefen Lächeln begleitet. „Benutzt du den Stab, um die ganzen kaputten Pflanzen hier niederzuhauen? Ich meine, die sind ja schon seit Wochen nicht mehr gegossen worden!“, rief sie und zog an einem herunterhängendem Gewächs. Das war keine gute Idee gewesen. Das Gewächs, ausgetrocknet wie es war, brach ab, und ein Blättergewirr ging auf Romana nieder. „Ai!“, rief sie aus und hob beide Hände in die Höhe, um die Pflanze abzuwehren. Das Grünzeug landete zum größten Teil auf dem Boden, und zu einem kleineren Teil in Romanas Haar. Hastig strich sie sich durch ihr Haupthaar, doch gelang es ihr nicht, alles zu entfernen.


    Fassungslos blickte sie nach oben. Auf dem ersten Blick sah sie, dass die Pflanzen, welche in einigen Krügen am Gebälk über dem Atrium angebracht waren, vertrocknet waren. Eine Art von Zorn flimmerte in ihren Augen auf. Sie wandte sich an ihren Vater. „Sag... was für einen Kurpfuscher von Gärtner hast du dir denn da eingestellt? Die Pflanzen, die armen Pflanzen!“, rief sie aus und warf, Gartenliebhaberin die sie war, ihre Arme in die Luft, als ob sie den größten Verlust ihres Lebens erlitten hätte.


    „Du hast recht mit dem Wirrwarr... ich will ja gar nicht wissen, wie es im Garten ausschaut!“, rief sie aus. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich, mit ihrem Vater, schon den unfähigen claudischen Gärtner feuern und einen neuen anstellen. „Hast du schon einmal gedacht, den Gärtner zu wechseln?“


    Nachdem sie jene Frage gestellt hatte, kam ihr zu Bewusstsein, dass ihr Vater sicher wissen wollte, was sie hierher getriben hatte, zurück nach Rom. „Achja! Zuerst mal: Schöne Grüße von Gnaeus Manlius Longinus und Plautia Messalla, meinen Großeltern in Clusium.“ Und deinen ehemaligen Schwiegereltern. Doch dies wollte sie nicht sagen. „Du brennst schon sicher darauf, zu erfahren, wieso ich hier bin. Ich werde es dir sagen... aber halte dich fest!“, riet sie ihrem Vater. Ein bisschen spannend sollte das Ganze schon gemacht werden.

  • Menecrates schmunzelte, als er seine Tochter lächelnd auf sich zueilen sah. Sie erinnerte ihn noch immer an ein Mädchen, obwohl sie inzwischen erwachsen war. Er war von dem überraschenden Moment so sehr gefangen genommen, dass er vergaß, die Arme auszubreiten, daher stoppte Romana auch.


    "Kind, das Militär beherrschte mehr als die Hälfte meines Lebens, das wird man auch nach der Pensionierung nicht mehr los", erklärte er seinen Optiostab. Dann hob er den Arm und tätschelte die Schulter seiner Tochter. "Groß bist du geworden." Zu mehr Bemerkungen kam er nicht, wenn man einmal von einem: "Äh, ja" absah, als die Sprache auf die Großeltern kam, denn Romana plapperte munter vor sich hin, sodass Menecrates zusehen musste, gedanklich hinterher zu kommen. Manches Mal holte er Luft und wollte antworten, doch dann war seine Tochter bereits beim nächsten Satz. Als sie schließlich geendet und er die Möglichkeit hatte, etwas zu erwidern, schwieg er mit offenem Mund, weil er zunächst das Gehörte verarbeiten musste.


    "Ja ja, die Pflanzen ...", begann er schließlich. "Da muss etwas nicht ganz gepasst haben." Er sollte den Gärtner wechseln? Dabei hatte er den neuen erst vor drei Monaten eingestellt. Optimal schien dieser Wechsel nicht gewesen zu sein, das fand Menecraters auch, aber er sah sich genauso wenig in Lage, konkrete Pflegeanweisungen geben zu können. Er rieb sich die Stirn.


    "Ja, warum bist du denn hier?", fragte er verblüfft und unfähig, sich nach dem Wortstakkato sammeln zu können.

  • Roman konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihr Vater eine Bemerkung über ihre Größe machte. Es musste ziemlich schwer sein für einen vater, kleiner zu sein als die eigene Tochter. Da war es noch gut, dass ihr Vater es mit Humor nahm und nicht anfing, mit irgendwelchen Witzen daherzukommen. Romana hatte durchaus einen guten Sinn für Scherze, aber hie und da war es einfach so, dass sie sich in ihrer Haut nicht ganz wohlfühlte und sich wünschte, sie würde nicht jedes Mal, wenn sie durch die Straße ging, hervorstechen wie ein bunter Hund. Es wäre einfach von Zeit zu Zeit besser, wenn es ein bisschen... nun ja... weniger Romana gäbe. Aber sie konnte nichts daran machen.


    Romana lächelte, als sie sah, dass ihr Vater ihrem Redeschwall nicht mehr mitkam. Es war kein herablassendes oder gar bemitleidendes Lächeln, sondern ein verständnisvolles. Es war ja wirklich so, dass sie manchmal einen Käse daherplauderte, bei dem wenige Leute mitkamen, und dann noch so schnell, dass keiner mehr eine Chance hatte, noch irgendetwas zu verstehen. "Oh Vater!", lachte sie und umarmte denselbigen erst einmal.


    Sie ließ ihren Vater ausreden und entgegnete dann langsam, mit sanfter Stimme, gegenfügig ihrem Vater Zeit zum Antworten lassend.


    „Da hat vieles nicht gepasst.“ Sie lugte nochmals hinauf. „Ich will gar nicht wissen, wie es im garten aussieht. Vorstellen kann ich es mir ja.“ Ihr Blick schweifte herum im Atrium. Sie runzelte kurz die Stirn. Pflanzenkenner sahen sofort, dass hier einiges im Argen lag. Eine kleine Fächerpalme stand im Schatten herum, während Lampionblumen, welche Nachtschattengewächse waren, in grellsten Sonnenschein herumstanden. Sie schüttelte kurz den Kopf, ganz ungläubig und leicht fassungslos. „Wir sollten wirklich einen neuen Gärtner suchen. Weisßt du was? Ich kann ja nach einen suchen. Dann hast du nicht so viel Arbeit!“, schlug sie vor.


    Sie atmete kurz ein und aus. Was sie jetzt sagen würde, würde wichtig sein. „Und ja, jetzt zu etwas Wichtigeren.“, wechselte sie also das Thema. „Weißt du... ich bin, in Clusium, über ein Feld gegangen, und ich habe...“ Sie brach ab. Das fröhliche Lächeln, welches sie noch gerade vorhin im Gesicht gehabt hatte, erstarb langsam, so, als würde ihr die wahre Bedeutung des Ereignisses jetzt erst bewusst werden. „Ich habe... ich habe sie gesehen.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern ab. Sie hob ihre Hände. Sie zitterten leicht. „Ich habe sie gesehen.“ In ihre Augen trat ein Glanz, welcher von niemanden genau bestimmt werden konnte. Ihre Stimme klang auf einen Schlag wie von weit weg. „Sie ist mir erschienen. Vesta.“ Das Lächeln einer komplett Geistesabwesenden legte sich auf ihre Lippen. „Vesta ist mir erschienen. Und sie hat mir gesagt, ich soll... muss... habe die Pflicht... zu den Vestalinnen zu gehen.“


    Sie atmete schnell aus un ein, als ob sie gerade gerannt wäre. Ihre Hände senkten sich. „Ich muss Vestalin werden.“ Ihre Stimme klang wieder normal. Ihre Augen sahen wieder wie üblich aus. Das Zittern hörte auf. Nur das Lächeln blieb. „Stell dir vor, Vater... sie ist mir erschienen und hat mir gesagt, ich soll Vestalin werden!“, meinte sie, als ob sie das zum ersten Mal zu ihrem Vater sagen würde. Sie schloss das Spektakel mit einem fragenden „Ich darf doch?“ ab.

  • Menecrates tätschelte während der Umarmung seiner Tochter ihren Rücken. Wie immer war er etwas linkisch dabei, obwohl er mit zunehmendem Alter zugänglicher geworden war, was Gefühlsdinge betraf. Die Familie gewann an Bedeutung, der Umgang miteinander wurde intensiver, Menecrates weicher. Es schätzte es dennoch, wenn ihm jemand über diese Klippen half und so tat, als sei alles in bester Ordnung. Dann fühlte er sich wohl und vergab seine ganz persönliche Art von Fürsorge, die sich freilich deutlich von der anderer Väter abhob.


    "Also, im Garten sieht es recht passabel aus. Die alten Anpflanzungen haben ausgeharrt, nur ein paar Neuanschaffungen kümmern vor sich hin. Manche sind wohl gänzlich ausgefallen, wie ich gehört habe." Menecrates überlegte, während sein Daumen über das Kinn strich. Dann fasste er einen Entschluss. "Ich übergebe dir gerne die Verantwortung für den Garten. Das Metier ist einfach nichts für mich, selbst wenn ich alle Zeit der Welt hätte. Dieses Grünzeug hat seinen eigenen Kopf, wie mir scheint, und ich habe nie verstanden, worauf es den Stängeln und Blättern eigentlich ankommt. Immer wenn ich dachte, der Gärtner hätte die Lösung gefunden, dann hat eine andere Pflanze bei genau derselben Behandlung schlecht darauf reagiert. Verstehe das wer will." Er seufzte, fasste sich aber schnell und schaute seine Tochter an. "Auch Gärtner scheinen mir seltsame Pflanzen zu sein, ich kann mich mit ihnen kaum verständigen. Wenn du es also übernehmen willst, dann ist es mir Recht."


    Mit steigendem Interesse folgte er anschließend den Ausführungen seiner Tochter. "Wem die Götter erscheinen, der erfährt eine besondere Gunst. Und sogleich muss man sich fragen, was uns die Götter mit ihrem Erscheinen sagen wollen. Nicht jeder versteht das, du aber bist dir sicher darin. Das ist ein zweites gutes Zeichen." Menecrates atmete einmal durch. "Niemand sollte den Willen der Götter missachten und doch frage ich dich, wärst du mit ganzem Herzen bereit, dieser Pflicht nachzukommen?"


    Er hatte beide Hände auf die Schultern seiner Tochter gelegt und betrachtete sie eindringlich.

  • Romana fühlte die liebevolle Berührung ihres Vaters an ihrem Rücken. Fast konnte man glauben, ihr Vater wirkte dabei unbeholfen, als ob er sich nicht wohl fühle, seiner Tochter ein Zeichen von liebe zu erweisen. Doch Romana kannte ihren Vater, er war wie er war, und soweing wie er der perfekte Vater war, konnte sie sich einen anderen wünschen. Trotzdem dass es sie verärgert hatte, dass er so schnell, nachdem er damals, als Romana noch klein war und ihre Mutter verlor, so schnell eine Neue geheiratet hatte... und noch so einen Giftzahn dazu. Doch diese Frau weilte in Baiae und Romana konnte jetzt in Ruhe Zeit mit ihrem Vater verbringen.


    Die Umarmung löste sich wieder, und Romana schmunzelte ihren Vater an, als dieser ihr die Verantwortung über den Garten übergab. Großartig, dachte sie sich innerlich. Endlich wieder ein bisschen Gartenpflege! Sie hatte schon geglaubt, nachdem sie Clusium verlassen hatte, sie würde nie wieder dazu kommen, sich um einen Garten zu kümmern. Doch dieser Alptraum, welches er für sie sicher gewesen wäre, trat nicht ein. Wegen ihres Vater, die Götter seien ihm geneigt.


    „Gut. Ich werde mich darum kümmern.“, meinte sie und nickte ernsthaft. Sie würde einen Gärtner finden, und einen wirklich guten noch dazu. Sie würde sich überlegen, wie sie das anstellen würde. Auf jeden Fall freute sich sich schon darauf. „Ich glaube, mit Gärtnern kann ich gut umgehen. Mit jenen bin ich auf einer Linie.“, sagte sie.


    Doch dann wurde das Gespräch auf eine viel ernstere Linie gelenkt. Romana wusste natürlich, dass ihr Vater sie fragen würde, ob ihr das ernst war. Sie spürte den Druck seiner Hände auf ihren Schultern. Fast war dies wie eine Metapher für die Last, die ihr die Götter aufgelegt hatten. Sie blickte ihn lange an, dann nickte sie. „Ich bin mir sicher. Ich nehme diese Pflicht mit Freuden an. Was ich gesehen habe, war sehr explizit. Es war eindeutig. Mir wurde aus himmlischen Rat befohlen, nach Rom zu gehen, da ich als würdig erachtet werde, das heilige Feuer zu bewachen.“ Stolz konnte man ihr anhören. Endlich etwas zu tun, was ihrem Leben Sinn verschaffte. Die moderne Psychologie hätte die Erscheinung Vestas, beziehungsweise Romanas Überzeugung, sie wäre ihr erschienen, sicher anders interpretiert als Romana. Doch Romana kannte Dr. Freud nicht, und selbst wenn, wäre sie niemals von ihrer Überzeugung abgekommen, dass ihr Vesta erschienen war. „Und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, etwas anderes als Vestalin zu werden, nachdem ich darüber nachgedacht hatte. Ich kann mich nicht als gute Ehefrau sehen. Zudem gibt es in Rom keine ordentlichen Männer mehr. Dich ausgeschlossen.“, fügte sie eilig hinzu und lächelte.


    Kurz schien Romana zu überlegen, dann nickte sie abermals. „Ich werde, wenn es dir nichts ausmacht, morgen zum Atrium Vestae gehen. Sicher werden die Vestalinnen wissen, was zu tun ist.“ Die Vestalinnen. Bald würde sie, wenn es nach dem Willen Vestas gehen würde, zu ihnen gehören.

  • Menecrates grübelte darüber nach, was seine Tochter wohl mit ihrer Aussage zum Umgang mit Gärtnern gemeint haben könnte. Als er jedoch zu keinem Schluss kam, fragte er kurzerhand nach. Nichts war für den ehemaligen Offizier so unerträglich wie Ungewissheit, nichts so inakzeptabel wie Unwissenheit.


    "Auf einer Linie? Wie ist das denn gemeint?" Er blickte seine Tochter mit hochgezogenen Brauen an, die das Unerklärliche für ihn an dieser Aussage demonstrierten.


    Anschließend lauschte er aufmerksam der Schilderung über dem Traum. Er selbst maß Träumen eine hohe Bedeutung bei, vor allem wenn sie Deutungen, den Willen der Götter betreffend, zuließen. Erst kürzlich hatte er den Kaiser um die Gnade gebeten, ein Familienmitglied in den erforderlichen Stand für eine politische Karriere zu erheben, weil ein Traum dem jungen Mann den Weg dorthin gewiesen hatte. Ähnlich wie jetzt bei seiner Tochter. Die Claudier mussten den Göttern besonders am Herzen oder im Blickwinkel liegen, wenn sie ihnen derart viele Träume sandten. Davon war Menecrates überzeugt.


    Er strahlte, als er die Sicherheit und Freude seiner Tochter erkannte, den Traum nicht nur richtig gedeutet zu haben, sondern ihn auch ausfüllen zu wollen. "Ich bin stolz auf dich, Romana!" Und das meinte er aus tiefster Überzeugung, weil es ein ehrbarer Werdegang für eine claudische Jungfrau war, der Göttin Vesta zu dienen. Fast glaubte Menecrates, es gäbe nichts Ehrvolleres.


    Dann jedoch kam wieder einer jener Sätze, die den gestandenen Mann nicht nur verblüfften, sondern auch seine Kapazität an Verarbeitung auf das Höchste herausforderten.


    "Wie, bei den Göttern, kommst du zu der Ansicht, es gäbe keine ordentlichen Männer in Rom?" Selbstverständlich registrierte er erleichtert, dass Romana ihn dabei ausnahm. Ihr Lächeln wirkte ehrlich und beruhigte ihn.


    Dass sie schon morgen zum Tempel der Vestalinnen gehen wollte, registrierte er nebenbei, wenn auch zufrieden. Ihn freute die Zielorientiertheit seiner Tochter.

  • Oje, es scheinte, als ob sie wieder was gesagt hätte, wo ihr Vater komplett den Faden verloren hatte. Sie schaute ihn ihrerseits an, schlug die Wimpern nieder und dachte kurz nach, wie sie ihre Worte erklären sollte. „Weißt du, ich fühle so eine... unterschwellige Verbindung mit Gärtnern. Wenn ich ein Mann wäre, und nicht patrizisch, und nicht gewillt, in den Gottesdienst einzutreten, wäre ich Gärtner geworden. Ich denke, es liegt mir einfach. Man mag es den grünen Daumen nennen, um eine abgedroschene Redensart zu benutzen. Sie schafft eine spezielle Verbindung zwischen menschen. Das meine ich.“ Verstand dies ihr Vater, oder würde sie jetzt einen endlosen Vortrag über ihr, zugegebenermaßen leicht eigenwilliges, Weltbild schwingen müssen? Fragend blickte sie den Vater an.


    Die Erscheinung der Göttin war durchaus kein Traum gewesen, sondern eine Erscheinung im wahrsten Sinne des Wortes, jäh, unvermutet, aus heiterem Himmel, am hellichten Tage, unverhofft. Eine Halluzination, wenn man so will. Doch jene rationale und realitätsnahe Erklärung der Erscheinung war der jungen Frau fremd, und dass ihr Vater sie darin bestärkte, verschaffte ihrer Überzeugung noch einmal einen gewaltigen Auftrieb. Einen Traum hätte Romana vielleicht noch abgetan, doch eine solche Erscheinung war für sie absolut persuasiv gewesen.


    Die nächsten Worte ihres Vaters zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht, und fast wäre eine Freudenträne aus ihrem linken Auge gequollen. „Es ist so schön, dass du das sagst.“, meinte sie warm und umarmte ihren Vater abermals. „Ich bin auch stolz, und zwar auf dich, Vater. Du siehst die Wahrheit, du vertraust mir...“ Glücklich strahlte sie ihn an. Sie wusste durchaus, dass eine Karriere als Vestalin im Sinne ihres Vaters war, und dass sie es machen würde, mit vollstem Eifer und größtem Einsatz, stand außer Frage.


    Doch hatte sie, wie es aussah, ihren Vater wieder einmal komplett aus der Reihe gebracht durch ihre nächste Ansage. Jetzt hatte sie ihn wieder verunsichert! Und würde ihre Worte erklären müssen. Also tat sie das. „Auf dem Weg von den Stadtmauern zur Villa habe ich so viele Leute gesehen, vor allem Männer. Besoffen waren viele, andere haben herumgehurt, andere haben sich gegenseitig ihre Visagen eingeschlagen. Es gab kaum Ausnahmen.“ Steile Falten bildeten sich auf ihrem Gesicht. Glücklich war sie darob ganz sicher nicht. „Und ich lese die Acta, Vater. Ich verfolge die Debatten, die es momentan gibt... nur Quereleien und Streitigkeiten. An den Kolumnen, die Klatsch und Tratsch, und Kultur und Leben, und Meldungen und Beförderungen betreffen, sieht man immer wieder das selbe. Männer, die sich in ihrer eigenen Eitelkeit wälzen. Karrieregeil und machtlüstern. Interessiert an den Nichtigkeiten der Welt, lassen sie die wichtigen Dinge im Leben außer Acht. Der eine will sich als Kriegsheld profilieren, der andere als Künstler, und der andere als Politiker. Rücksicht? Moral? Scham? Nicht doch, das wäre zuviel verlangt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Kurz gesagt, sie alle gehen mir auf den Sack.“ Das war ein treffendes Schlusswort zu ihrer kleinen Schimpftirade. „Wie wohltuend ist es da, dass es Leute gibt, die über diesen Sachen stehen.“ Es war eindeutig, dass sie damit ihre eigene Familie meinte.


    „Noch etwas wollte ich fragen, Vater.“ Da sie ja gerade auf die Claudier Bezug genommen hatte, war es natürlich, dass sie nun darauf zu sprechen kam. „Wie geht es meinen Geschwistern? Prisca ist ja jetzt irgendwo, keine Ahnung, wo sie sich herumtreibt. Hast du eine Ahnung? Von Narcissa habe ich schon ewig nichts mehr gehört. Hat die Villa sie verschluckt? Und Lucius ist sicher noch hier. Ich hoffe doch, dass er bei seiner Karriere in der Priesterschaft gut vorankommt. Und Epicharis? Was ist mit Deandra passiert, ich habe ewig nichts mehr von ich gehört?“ Sie wollte alles genau wissen. „Und was ist mit dem Rest der Familie? Wer ist in der Villa, hier in Rom?“ Sie wollte doch durchaus mit anderen Familienmitgliedern in Kontakt treten.

  • Menecrates wiederholte gedanklich: 'eine unterschwellige Verbindung zu Gärtnern' und konnte es nicht einsortieren. Welche Verbindung denn? Doch bevor er zu einem Ergebnis kommen konnte, überraschte ihn seine Tochter erneut. Er holte Luft, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen. Ihre Gedankengänge waren zwar nur spekulativ, aber alleine der Gedanke, nicht patrizisch zu sein, misshagte ihm. Dass sich eine Frau ab und zu mit der Frage beschäftigte, wie es wohl als Mann wäre, konnte er hingegen nachvollziehen. Für ihn war das Männerdasein das einzig erstrebenswerte. Kinder gebären und die Familie zusammenhalten würde ihn jedenfalls nicht ausfüllen. Er hätte vermutlich auch den Dienst als Vestalin angetreten, um wenigstens etwas das Gefühl zu haben, nützlich zu sein.


    "Hm, ich dachte immer dieser grüne Daumen schafft eine Verbindung von Mensch zu Gewächs", erwiderte er daher nur, winkte dann aber ab. Es gab wahrlich Wichtigeres, als sich diesen Gedanken hinzugeben. Doch wäre er nicht von selbst von diesem Thema abgekommen, hätte es die Umarmung seiner Tochter bewirkt. Obwohl er immer Schwierigkeiten beim Verteilen und Annehmen von Zärtlichkeiten hatte, freute ihn insgeheim die Vertrautheit seiner Tochter doch. Man konnte es an seinem Glitzern in den Augenwinkeln sehen und auch ein paar Fältchen um die Augen verrieten es.


    Etwas verlegen tätschelte er dann auch ihre Schulter und spürte Erleichterung, als sie zum nächsten Thema überging, das ihn allerdings nicht weniger überraschte. Mit ziemlichem Erstaunen folgte er ihren Schilderungen über das Pack auf den Straßen. Selbstverständlich suchte er für eine Tochter aus dem Hause Claudia einen Gemahl in gänzlich anderen Kreisen. Das zu erwähnen, sparte er sich aber, er dachte, Romana würde dies im Grunde auch wissen. An einen Säufer und Schläger, einen Taugenichts oder Querulant, einen Versager oder ungläubigen Mann würde er nie eine Tochter geben. Zugegeben, es gab auch in noblen Kreisen Wichtigtuer, die charakterlich schwach und erbärmlich waren. Daher nickte er, als die Rede auf solcherlei Kandidaten kam.


    "Tugenden sind wahrlich nicht mehr überall zu finden, oft bei Frauen nicht, mehr noch bei manchem Mann." Er sann kurz nach, dann antwortete er auf die Nachfrage nach den Geschwistern.


    "Prisca lebt seit langem bei Verwandten in Sicilia, sie dient dort ebenfalls dem Götterkult und reist daher nicht mehr. Narcissa ist eines Tages abgereist, ich weiß nicht einmal, wohin. Womöglich hat sie den Tod der Mutter nicht verkraftet. Brutus ist in Rom, aber seit er den Göttern nicht mehr dient, kenne ich auch nicht immer seine Wege. Du musst ihm wohl einen Zettel hinlegen, wenn du ihn einmal sprechen möchtest. Epicharis lebt in der Villa Flavia, ich habe die Sorge um sie an ihren Ehemann abgegeben. Wenn du sie treffen willst, dann dort. Deandra ist auf einer Reise nach Hispania ums Leben gekommen, tja, hab ich noch wen vergessen? Ach!" Menecrates fasste sich an die Stirn. "Gestern ist dein Cousin Lepidus angereist. Er ist noch mit der Einrichtung seines Zimmers beschäftigt, aber zum Essen wirst du ihn sicher sehen. Verus und Severus sind, nachdem ich ihnen den ordo senatorius verschaffen konnte, untergetaucht, anstelle die Chance auf Selbstverwirklichung zu nutzen."


    Menencrates schwieg. Er ärgerte sich offensichtlich über die vergeudete Mühe.

  • Ihr Vater kam wirklich nicht mit. Nun, um fair zu sein, ihre Gedankengänge waren einigermaßen verdreht und sie zu verstehen verlangte einiges an abstrakter Fantasie. Der claudische Senator bestand aber nicht auf eine Erklärung, ein Mann, der so wenig mit Gärten am Hut hatte, würde wohl sehr wenig von einer weitschweifenden Erklärung ihrer Worte haben. Sie merkte aber durchaus, dass ihre Gedanken, wie es wäre, wenn sie ein Mann wäre, ihren Vater ein bisschen beschäftigten. Und es war ja auch so, dass sie hie und da nachdachte, wie es wäre, wenn sie ein Kerl wäre. Sie musste an ihre Mutter denken. Sie hatte ihr gesagt, wenn sie ein Junge geworden wäre, hätte man sie vielleicht Titus genannt. Titus Claudius Romanus. Vielleicht wäre das heute schon ein Name, von dem man im Senat in den höchsten Tönen sprach. Oder auch nicht. Doch der Gedanke, nicht patrizisch zu sein, drückte keinerlei Sehnsucht aus, vielmehr Missfallen. Nicht, dass sie Plebejer oder Nicht-Römer nicht an sich heranließ, doch sie war auf ihren Stand stolz, und würde ihn sicherlich nicht hergeben. Für nichts.


    „Auch von Mensch zu Mensch, Vater... aber ist ja auch wurscht.“ Sie zuckte die Achseln und machte ein Handbewegung, die signalisierte, dass sie nicht auf ihren Standpunkt beharren würde, selbst wenn sie ihn als richtig erachtete. Es war einfach ein viel zu unwichtiges Thema, um sich darüber lange den Kopf zu zerbrechen.


    Romana ließ wohlweislich aus, dass sie in den Straßen auch sehr betuchte Leute gesehen hatte, welche sich ganz und gar schlimm benommen hatten, gab es ja viele Leute aus der Nobilitas und leider auch dem Patriziat, die sich da und dort in wolllüstige Abenteuer in weniger schicken Vierteln der Stadt suchten. Aber relevant war es für sie eh nicht mehr. Sie würde keinen Mann heiraten. Und Sie würde glücklich damit sein. Soviele Frauen gab es, die sich mit einem Saufbold oder einem schwachbrüstigen Versager herumschlagen mussten, sie würde nicht dazu gehören.


    Doch wusste sie auch, würde ihr Vater sie verheiraten, würde er einen anständigen Mann suchen für sie. Nur waren diese sehr selten. Und viele waren unter der Oberfläche nicht die, als die sie sich gaben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger kam es für sie in Frage, als Hausmütterchen zu versauern. Nein, sie war sich selber mehr wert.


    Sie nickte nur, als ihr Vater sagte, was er von der Verteilung von tugenden im Volk hielt. Er verstand sie, was diesen Punkt anging. Romana legte wert auf Tugend, und würde einem Mann vermutlich so viel abverlangen, wie er es nie erfüllen konnte.


    Aufmerksam hörte sie ihrem vater zu. „Sicilia? Hmm.“, meinte sie nur, als er Prisca erwähnte. „Auch schön. Werde ihr mal einen Brief schreiben.“, nahm sie sich vor. Dass Narcissa verschwunden war, nahm sie traurig zur Kenntnis. Schade, hoffentlich kam sie bald wieder.


    „Lucius Brutus ist nicht mehr bei den Priestern?“, rief sie entsetzt aus. „Ja, wieso denn das? Hängt er lieber faul zu Hause herum, als zu arbeiten?“ Na, das wäre wieder typisch für ihn, dachte sie. Er ist halt auch nur - ein Mann. „Ah ja, da war ja so eine Hochzeit? Ich habe leider nicht kommen können. Ich werde mal sehen, ob ich rüberschaue, Antonia wollte ich dort einmal sowieso besuchen.“ Die Gleichmut, die sie noch hatte, als sie diesen Satz sagte, verschwand, als ihr Vater nun Deandra erwähnte. „Tot? Aber... was? Wie? Das ist ja... schlimm! Entsetzlich!“ Sie fuhr sich mit den Händen in die Haare und zerraufte sich die Frisur vor Schrecken. „Oh nein!“ Sonderlich gut gekannt hatte sie Deandra, welche ja nur adoptiert war, aber nie, sodass der Schock über diese Nachricht sie nicht komplett aus der Bahn warf.


    Die nächste Nachricht war schon besser. „Lepidus? Ah, Quintus! Das ist eine gute Nachricht.“, meinte sie und brachte ein Lächeln zustande. Sie war immer sehr gut mit ihrem Vetter ausgekommen, sodass sie ihn beim Praenomen nannte. „Er ist doch hoffentlich nicht aus einem traurigen Grund hier, oder?“

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