„Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann
und worüber zu schweigen unmöglich ist.“
-Victor Hugo
Die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt. Einen Fuß in der weißen Sandale vor den anderen gestellt. Lycidas lauscht den Darbietungen der anderen Künstler. Lässt sich von ihren Hymnen in die ferne Vorzeit entführen. In fremde Länder mitnehmen. Auf den Olymp erheben.
Getreu seines Auftrages achtet er besonders darauf, welcher Stil seinem Herrn zusagen würde. Vermerkt in seinem Geist die Namen und Eigenheiten der Sänger. Obgleich Lycidas nicht weiß ob er zu dem Claudier zurückkehren wird.
Zuletzt führt die Reise bis in den Hades. Lycidas hebt den Kopf und heftet den Blick auf die Philolaos-Enkelin, die den Hermes Psychopompos preist. Betrachtet sie ehrerbietig. Und melancholisch. Unmerklich atmet er tiefer. Zieht die warme Luft des Sommertages durch seine Nasenflügel. Als würde er die Musik in sich hineintrinken. Die schöne Dame erinnert ihn ein wenig an seine Mutter. Die ihm zum ersten Mal eine Lyra in die Hand gab. Der Hymnos trifft auf ein bewegtes Herz. Wer wird sich einst - oder bald - an Lycidas erinnern? Wer wird seinem Schatten ein Opfer bringen? Die dämmerblauen Augen werden wässrig. Tränen ziehen schimmernde Spuren auf den elfenbeinernen Wangen. Als die Kitharödin geendet hat, muss der Jüngling sich besinnen. Rasch fahren die Fingerspitzen über das Gesicht. Tilgen die Spur der Tränen. Sodann applaudiert er lange und ergriffen.
Die Reihe kommt an Lycidas. Leichten Schrittes tritt er in die Orchestra. Die Haltung, die Bewegung der Knie, das Aufsetzen der schmalen Füße sind von Grazie und einer noch kindlichen Verschämtheit zugleich. Im Gehen schlägt er die Augen nieder. Mit einer Kopfwendung zu den Rängen. Öffnet sie wieder und umfängt die Menge der Menschen mit weichem, vollem Blick. Hohe Herren. Edle Damen. Fern und fremd wie die bunten Fische, die in einem Zierteich ihre Runden ziehen. Sie berühren ihn nicht. Doch ihr Urteil ist wichtig. Vielleicht könnte es ihn retten! Dies ist der Moment, in dem die Nervosität den jungen Lyder ergreift. Ein Beben huscht über die klaren Züge. An den schlanken Händen zeichnen sich Knöchel und Sehnen ab. Mit einem Mal scheint der verborgene Makel Lycidas unübersehbar. Obgleich die Zuschauer viel zu weit entfernt sind, um diesen konstatieren zu können. Lycidas neigt den Kopf ein wenig zur Seite. Sein halblanges Haar schwingt, legt sich weich über Schläfe und Wange. Verdeckt den Makel. Schimmert gülden, im Farbspiel mit dem Aquamarin seines Halsreifs, mit den feinsilbernen Akzenten des Chiton. Den goldenen Intarsien der Lyra.
Einer der Preisrichter verkündet: “Lykidas von Sardis. Er spielt: Hermes und die Schildkröte!“
Inmitten des Rundes verharrt Lycidas. Auf einem Bein ruhend, den anderen Fuß auf die Zehenspitzen gestellt, wendet er sich anmutig spannungsvoll den Ehrenplätzen zu. Verneigt sich. Ohne sie zu sehen. Der Blick verschleiert. Die Züge erfüllt von holdem Ernst. Zärtlich umfasst er die geschwungenen Arme seiner Lyra. Und stimmt ein eigentümliches Lied an. Ganz leise zuerst. Leicht wie die Flügel eines Schmetterlings liebkosen seine Finger die Seiten. Entlocken ihnen eine verspielte Melodie. Wandelbar, quecksilbrig entströmen die Töne unter seinen Händen, verbinden sich, fügen sich zu einem kapriziösen Thema – der junge Hermes. Das göttliche Kind. Neugierde. Das Forschende. Virtuos beschreibt die Lyra das Staunen des Gottes, als er sich zum ersten Mal aus der Höhle wagt, in der seine Mutter ihn zur Welt brachte. Ein kurzes Zaudern, Zurückweichen. Die Verlockung der Ferne. Der Übermut entwischt zu sein.
Ein jeder kennt den Mythos. Die Lyra wird Stimme, Lycidas‘ Körper Teil des Instrumentes. Auf seine Weise betet er zu Hermes, dem Beredsamen, dem Vielgestaltigen, dem die Zungen der Opfertiere gebühren.
Ein anderes Thema klingt an. Dieses ist bedächtig und schwer. Weise und bisweilen drollig. Die Schildkröte. Hermes begegnet der Schildkröte. Die Melodien nähern sich an, umweben sich. Dann schlägt das Staunen um, wandelt sich mit einem Mal zur Drohung. Eine gedankenlose Grausamkeit. Schmerzlich. Roh. Wie ein Schrei erklingt es von den Saiten, als der junge Gott das weise Tier mit einem spitzen Stein erschlägt. Den Panzer entfleischt.
Ein Schweißtropfen rinnt über Lycidas klare Stirn. Eine Strähne klebt, sich krausend, an der feinen Schläfe. Er hat viel darüber nachgesonnen. Dass Schönheit aus Zerstörung entspringt. Dass die Musik mit einem Mord begann. Ein Geheimnis in der allbekannten Fabel. Ein Rätsel, welches er mit jugendlicher Unbedingtheit aufzeigt.
Der Panzer der Schildkröte wird zum Resonanzkörper der Lyra, welche Hermes mit sieben Saiten bespannt, und der kleine Sklave Lycidas wird zu Hermes, der den Klangkörper entdeckt, die Töne zusammenfügt, spielerisch und mit der unschuldigen Freude des Entdeckers. Es wandelt sich das kapriziöse Hermes-Thema, schwillt an und wird zu dem ersten Lied des Gottes: dem Hymnos auf die Liebe seines Vaters Zeus und seiner Mutter Maia. Immer höher schwingen sich die Klänge. Empor. Streben zu den Sternen, umkreisen sich wie Himmelskörper, umwerben und verweben sich zu einem lichten Klanggewölbe. Ekstatische Lobpreisung des zeugenden Eros.
Ein Sehnen brennt in Lycidas‘ Brust. Die Ahnung von etwas Unsagbarem. Schön wäre es, aufzugehen in dieser Musik. Zu vergehen mit den Tönen, die er nun sanft verklingen lässt. Doch er steht noch immer in der Orchestra. Wieder irdisch. Und erschöpft. Der Jüngling streicht sich eine feuchtgeschwitzte Strähne zurück. Tief verneigt er sich vor den Zuhörern. Und verlässt die Orchestra.