Aus dem wallenden Ozean der Menge

  • Auch wenn sie ihn nicht ansah, spürte sie doch den entsetzten Blick auf sich ruhen, den sie mit ihrem Geständnis bei ihm ausgelöst hatte. Zwar zerrte er sie nun nicht aus dem warmen Bett hinaus um sie wieder auf sie Straße zu schicken und beschimpfte sie, doch wusste sie genau, was er nun von ihr dachte. Eine Mutter die ihr Kind verließ- eine Rabenmutter! Sie rang nach Worten, um sich zu erklären, warum sie so gehandelt hatte, dass es keinen anderen Ausweg mehr gegeben hatte und dass sie nun...
    Sie konnte doch so ihrer Familie nicht mehr unter die Augen treten! Die nackte Angst ergriff sie, als sie nur daran dachte, ihrem Jungen erklären zu müssen, warum sie lieber tot sein wollte, als ihn weiter auf seinem Weg begleiten zu wollen. Und Catubodus? Was würde er sagen? Vielleicht konnte er sie ansatzweise verstehen. Vielleicht würde er sie aber auch verurteilen und dann verlassen.
    "Ich.. ich kann nicht mehr zurück!" rief sie aufgelöst und begann wieder zu zittern. "Bitte, versteh doch!"
    Bridhe hatte in diesem Augenblick nur einen Wunsch. Sie wünschte sich, die Zeit umkehren zu können. Dann hätte sie vieles anders gemacht. Dann wäre es soweit nie gekommen. Wenn das der Preis der Freiheit war, dann hätte sie damals darauf verzichten sollen.
    "Es ist alles meine Schuld! Ich bringe allen, die es gut mit mir meinen nur Unglück.", schluchzte sie. Im Gegenzug allerdings, war dies ihr Leben gewesen. Wenn sie alles hätte umkehren können, hätte sie nie die Liebe kennengelernt und was es hieß, Mutter zu werden und zu sein. Die wenigen glücklichen Augenblicke in ihrem Leben wären damit auch ausgelöscht worden.
    Die junge Frau beruhigte sich langsam wieder. Es hatte keinen Sinn, dem Urbaner etwas vorzujammern. Sie glaubte, er habe sich längst seine Meinung über sie gebildet. Später, wenn er sie nach Hause brachte, würde sie versuchen, ihm zu entwischen. Das war ihre einzige Chance. Vorerst musste sie ihm aber glauben machen, sie hätte sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

  • Jetzt war es aber genug! Natürlich, ich verspürte noch immer sehr viel Mitleid mit dieser zutiefst verzweifelten Frau, aber ihr Heulen und Wehklagen war mir gerade echt zuviel. Mit einem Mal riss mir mein iberischer Geduldsfaden.
    "Per omnes deos!", fuhr ich auf. "Natürlich musst du zurück! Magna Mater! Wo willst du sonst hin? Wieder in den Tiber?! Bei Iuno, ein Kind braucht seine Mutter! Du bringst Unglück?! – Unsinn! Es ist das größte Unglück wenn ein Kind seine Mutter verliert! Du wirst schön zurück zu deiner Familie gehen, Bridhe, und dich deiner Verantwortung stellen! Und dich um dein Kind kümmern! Mala leche!"
    Ich sprang auf – worauf die Decke sich verabschieden wollte, aber ich hielt sie fest und schlang sie mir um die Hüften – und begann, ihr wild gestikulierend eine Tirade zu halten.


    "Du denkst wohl, du bist der einzige Mensch unter der Sonne, der Probleme hat! Der Abstriche machen muss bei dem was er will und wonach er sich sehnt, wegen der Familie, und wegen der Pflicht! Überraschung! Diese Stadt ist voll von solchen Menschen! Wenn die sich alle in den Tiber werfen würden, da gäb's aber eine gewaltige Überschwemmung!"
    Das war jetzt wahrscheinlich nicht so ganz fair gegenüber der Frau – immerhin steckte ich nicht in ihrer Haut – und auch nicht so ganz sachlich, aber ich hatte es lange genug mit der verständnisvollen Tour versucht. Und nachdem ich einmal angefangen hatte zu wettern, war es als wäre eine Schleuse geöffnet. Das hatte gar nicht wirklich was mit Bridhe zu tun, ihr Gejammer war da eher der Auslöser. Viel zu lange hatte sich das alles in mir angestaut.
    "Ich zum Beispiel habe vor kurzem eine Person, die ich sehr geliebt habe, verloren, als sie auf das Grausamste getötet wurde! Ich riskiere bei der Cohortes-Arbeit jeden Tag meinen Hals, und reisse mir den Arsch auf, nur um zu sehen wie das Verbrechen trotzdem floriert und jeden Morgen neue Leichen in der Gosse liegen! Und ich habe sowas von keine Lust mehr, mich um die Probleme anderer Leute zu kümmern!!! - Ich habe die Schnauze gestrichen voll!"
    Mit wilden Schritten durchmass ich das Zimmer, warf Bridhe blitzende Blicke zu und raufte mir die Haare.
    "Verdammt, ja, auch ich war mal an einem Punkt, wo ich oben auf einem Brückengeländer über dem Tiber gestanden habe, weil ich so furchtbar verzweifelt war, und dachte, dass das doch alles nichts bringt, und dass meine Familie ohne mich viel besser dran wäre! Vielen geht das irgendwann mal so! Aber ich bin so froh heute, dass ich damals nicht gesprungen bin! Dass ich das meiner Familie nicht angetan habe!"


    Am Fußende des Bettes blieb ich stehen und fixierte Bridhe mit meinem inquisitorischen Blick.
    "Du glaubst mir das jetzt wahrscheinlich nicht, aber auch du wirst irgendwann wieder Freude am Leben finden! Wenn du dich jetzt zusammenreisst! Du willst doch dein Kind aufwachsen sehen, oder willst du das nicht?!" Mein leidenschaftlicher Monolog verlor jetzt etwas an Fahrt. (Aber nicht an Pathos!) Ich fuhr mir über den Nacken und verlangte herausfordernd:
    "Also entscheide dich, Bridhe – was liebst du mehr: dein eigenes Kind, oder deine Sehnsucht nach dieser Insel am Ende der Welt?!"

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  • Sichtlich erschrocken fuhr Bridhe zusammen. Voller Entsetzen sah sie den Urbaner an, der die Geduld verloren hatte und sie nun mit wüsten Beschimpfungen angriff, die sie zwar nicht alle verstand, aber sich trotzdem denken konnte, was sie zu bedeuten hatten. Als er dann noch aufsprang, wurde es ihr Bang, er könne ihr etwas antun, sie sogar schlagen. Vorsichtshalber wich sich ein Stück zurück. Er wurde aber nicht handgreiflich. Er beschimpfte sie nur weiter. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, wie es schon öfters einmal passiert war.
    Sie rang nach Worten, um sich zu rechtfertigen. Nichts wollte ihr einfallen, was er hätte zulassen können. Zu allem Übel kam nun auch noch hinzu, dass sie selbst glaubte, sie sei eine schlechte Mutter gewesen. Auch wenn ihr Kind schon in einem Alter war, in dem es nicht mehr bedingungslos den Schutz seiner Mutter brauchte, hatte sie versagt. In all den Jahren hatte sie niemals daran gezweifelt, richtig gelegen zu haben, als sie sich damals für ihren Sohn entschieden hatte. Sie hatte ihn mehr als alles andere geliebt. Doch jetzt sah sie in sich selbst eine Belastung für den Jungen.
    Die junge Frau zog ihre Beine an ihren Körper heran, als wolle sie sich so noch besser schützen. Serapios Stimme klang allmählich entschärfter, doch immer noch fordernd. Natürlich wollte sie ihren Sohn aufwachsen sehen und dabei sein, wenn er zum Mann wurde. Doch in ihrem Herzen war sie aber auch zutiefst unglücklich gewesen. Schon die ganzen Jahre über. An den hellen Tagen konnte sie über diesen Schmerz hinwegsehen. Dann nahm sie ihn kaum wahr. An den dunklen Tagen jedoch, kam es regelrecht über sie und sie musste sich zusammenreißen.
    Als er sie schließlich aufforderte, sich zu entscheiden, was sie wollte, wirkte sie erst sprachlos. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Jegliche Argumente waren wertlos geworden , die zu ihrer Verteidung hätte beitragen können. Aber sie konnte nicht schweigen, auch wenn sie das am liebsten gemacht hätte. Sollte er doch schlecht von ihr denken und sie schlimmstenfalls wieder in den Tiber zurück werfen, was er aber mit Sicherheit nicht mehr tun würde.
    Nach einem endlos wirkenden Schweigen, brach sie die Stille.
    "Ich... liebe meinen Sohn über alles. Das... das habe ich immer getan und das tue ich auch jetzt noch. Auch wenn es vielleicht nicht den Anschein hat. Ich wäre niemals hier, wenn ich nicht wüsste, wie gut er aufgehoben ist. Du denkst, ich bin egoistisch. Wenn ich tatsächlich meine Sehnsucht stillen wollte, dann wäre ich schon vor acht Jahren auf eines der Schiffe nach Britannien gegangen und hätte mich einen Dreck darum geschert, was ich versprochen habe. Zeit meines Lebens war ich nur für andere da, niemals für mich selbst. Ich habe nie danach gefragt, was ich will. Und auch jetzt... will ich niemandem zur Last fallen."
    Sie schwieg und kehrte wieder in sich.

  • Es war als würde ich gegen eine Wand reden! Nein, schlimmer, ich machte Bridhe offensichtlich bloß Angst. Irgendwie hatte ich die Vorstellung gehabt, meine eigenen Erfahrungen mit Tiberbrücken könnten auch hier so etwas wie eine Brücke sein, aber diese Frau war so... eingekapselt in ihre Misere und verquere Untergangs-Logik, sie schien immerzu nur ihr Unglück zu sehen, war taub für meine Worte, unerreichbar für was auch immer. Es war zum Verzweifeln! Ich atmete schwer aus, fühlte mich innerlich leer, ausgehöhlt nach meinem Ausbruch, und verspürte vor allem den Wunsch umgehend wieder in das Etablissement zurückzukehren, in dem ich so angenehm die Nacht verträumt hatte.
    "Ein Kind braucht seine Mutter.", widerholte ich resigniert. "Und es ist egoistisch, und grausam, deinen Sohn einfach alleine zu lassen, und dabei ist es ganz gleich ob du ein Schiff nach Britannien besteigst oder dich im Tiber ertränkst..."
    Allerdings begann ich mich zu fragen, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit in Bridhes Worten steckte, ob eine dermassen verzweifelte Mutter nicht vielleicht doch eher eine Last für das Kind war... keine Ahnung.
    Jedenfalls musste ich sie zu ihrer Familie zurückbringen. Ich ging zur Feuerstelle und nahm die Kleidungsstücke, die ich dort aufgehängt hatte, ab, warf Bridhe unwirsch ihre halb-getrocknete Tunika und meinen Umhang zu. Dann wandte ich ihr den Rücken zu, um sie nicht zu bedrängen, zog mir wieder meine Tunika über, die immer noch unangenehm klamm war, und gürtete sie. Aus meinem Geldbeutel fischte ich eine Handvoll Sesterzen und legte sie auf den Kaminsims.
    "Bist du fertig? Können wir gehen?" fragte ich, ihr noch immer den Rücken zuwendend, während ich die Decke, in die ich mich gehüllt hatte, ordentlich zusammenlegte, und und solange zurechtstrich bis die Kanten messerscharf waren.

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  • Die junge Frau fühlte sich so schlecht, was nicht nur auf Serapios energische Rede zurückzuführen war. Sie wünschte sich nichts sehnlicheres, als aus ihrer Haut herauszuschlüpfen, wie aus einem Kleid, das man nicht mehr mochte. Ihre Lage war so vertrackt. Wo war sie nur in all den Jahren hineinmanövriert? Warum hatte sie ihr Glück nicht finden können, so wie all die anderen, denen es gelungen war, die Fesseln der Sklaverei abzuschütteln? Es war nicht nur die Sehnsucht nach ihrer Insel, nach ihrer Heimat und ihrer Familie. Es waren alle ihre Verluste, die sie hatte hinnehmen müssen.
    "Ja, du hast recht.... Egoistisch und grausam...." sagte sie leise. Sie vermied es dabei, ihm in die Augen zu schauen. Ihre Scham war einfach zu groß. Serapios letzte Worte kreisten immer wieder in ihrem Kopf herum und machten es ihr unmöglich, etwas anderes denken. Aus diesem Leerlauf fand sie erst wieder heraus, als ihre Tunika vor ihr auf dem Bett landete. Es bestand keine Veranlassung mehr, ihr noch länger Schutz und Wärme zu bieten. Das sah sie ein und sie nahm es dem Urbaner auch nicht übel.
    Sie nahm ihre Tunika und zog sie wieder über. Der klamme Stoff fühlte sich kalt und unangenehm auf der Haut an. Als sie damit fertig war nickte sie nur. Auch diesmal vermied sie jeglichen Blickkontakt. Einzig allein beobachtete sie seine Hände, was sie mit der Decke machten. Noch einmal sah sich um zu dem Bett, in dem sie eben noch gelegen hatte. Bevor sie ging, strich sie das Laken wieder gerade und hinterließ das Bett so, wie sie es vorgefunden hatte. Sie wollte sich nicht nachsagen lassen, zu allem Übel auch noch unordentlich zu sein.

  • Ich spähte über meine Schulter, und sah, dass sie sich angekleidet hatte, auf den Mantel jedoch verzichtet hatte. Wahrscheinlich hatte sie beschlossen, an einem Lungenfieber zu sterben, um niemandem zur Last zu fallen. Ungeduldig hielt ich ihr den warmen Umhang noch einmal hin, und meinte auffordernd: "Hier!", dann verließen wir das Gasthaus zum Anker. Es war ein trüber Vormittag, verwaschene Wolken hingen über der Stadt. Die Strassen waren jetzt sehr belebt, und sobald wir aus der Türe traten, waren wir mitten drinn, in dem Strom der Leute, die hierhin und dorthin eilten, Waren schleppten, laut schwatzten, emsig waren, alle irgendeinem Ziel zustrebten. Ich fröstelte, nachdem ich eben ruhig am Feuer gesessen hatte war mir jetzt kalt, und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
    "Wo wohnst du, Bridhe?" fragte ich, während ich neben ihr her ging, und versuchte dabei streng zu klingen, anstatt müde. Von links her mündete eine Strasse ein, aus der sich gerade eine geschlossene Sänfte auf den Schultern kräftiger Träger rücksichtlos in die jetzt schon übervolle Strasse schob. Wie eine Wellenbewegung ging es durch die Menge, ein dicker Mann vor mir wich aus, schob mich dabei ein Stück mit zur Seite. Meine müden Beine stolperten über den Rinnstein, rasch hielt ich mich am nächstbesten fest – das war das Schultertuch einer hart blickenden Frau, die daraufhin schrill zu schimpfen anfing. Bona Dea! Ich entschuldigte mich, machte beschwichtigende Gesten, dann wandte ich mich schnell wieder ab, um die Hibernierin in dem ganzen Gedränge nicht zu verlieren.

  • Bridhe hatte absichtlich auf den Mantel verzichtet. Sie war der Ansicht, ihn nicht mehr zu brauchen. Sie brauchte eigentlich gar nichts mehr. Wenn der Urbaner sie nun zurück zu Catubodus und ihrem Sohn brachte, und die beiden hörten, was sie vor gehabt hatte, dann fürchtete sie, würden sich beide von ihr abwenden. War es da nicht besser, zu sterben, egal wie? Serapio aber würde sich aber bestimmt auf keinen Handel mit ihr einlassen. Nicht nachdem, was er alles über sie erfahren hatte und wie er nun über sie dachte. Seine anfängliche Freundlichkeit und sein Verständnis waren auf ein Minimum gesunken. Das gab er ihr mit jeder seiner Gesten und jedem Wort zu verstehen. Seine Geduld mit ihr war am Ende. Schließlich nahm sie doch den Umhang und hüllte sich damit ein. "Danke," flüsterte sie leise und schuldbewusst.


    Es war kein besonders schöner Morgen gewesen. Ein typischer römischer Wintertag eben, der allerdings wenig Hoffnung auf Besserung zuließ. Wie üblich war schon viel Leben auf den Straßen. Anfangs schob der Urbaner die junge Frau noch vor sich her, bis sie dann einsehen musste, dass es kein Entrinnen gab. Sie war selbst schuld gewesen, dass auch nun der Rest ihres kümmerlichen Daseins zerstört wurde. So ging sie schweigend und mit gesengtem Blick aus eigenem Antrieb weiter, ohne dass er sie antreiben musste.
    Seine scharfen Worte ließ sie kurz aufblicken. Sie wollte schon antworten, doch dann geschah es! Wie aus dem Nichts war plötzlich die Sänfte da gewesen und nahm sich einfach den Platz in der überfüllten Straße, den sie benötigte, um weiter zukommen. Sowohl Bridhe als auch Serapio bekamen die Auswirkungen davon zu spüren. Während die junge Frau nur angerempelt wurde, strauchelte der Urbaner und wäre beinahe gefallen, hätte er sich nicht noch rechtzeitig an einem der Passanten festfalten können. Bridhe sah in diesem Augenblick ihre einzige Chance. Und sie ergriff sie, so wie damals auf dem Sklavenmarkt, als sie zum Sprung angesetzt hatte um vom Podest hinunter in die Menge zu springen. Diesmal aber würde sie niemand zurück halten, denn der Urbaner war bereits ein ganzes Stück zurückgefallen und die Masse an Menschen machte es ihm besonders schwierig ihr jetzt noch zu folgen.
    Bridhe lief immer weiter und weiter, ohne sich umzuschauen. Erst als sie sich in Sicherheit wähnte, riskierte sie einen Blick zurück. Von dem Urbaner war nichts mehr zu sehen. Schließlich verschwand sie in einer weniger belebten Seitenstraße und setzte sich dort auf die Treppenstufe eines Hauseinganges. Da blieb sie vorerst sitzen.

  • Zu spät. Ich sah nur noch einen Zipfel ihrer Tunika, und wehendes dunkles Haar, dann war sie in der Menge untergetaucht.
    "Halt!" rief ich, und rannte hinterher, drängte mich durch die Menschen, ihr nach. "Bleib stehen, Bridhe!!"
    Aber ihren Vorsprung konnte ich nicht mehr aufholen. Das lag an den zivilen Klamotten. Ganz anders, als wenn ich in Uniform und Rüstung unterwegs war, dachten die Leute gar nicht daran, mir Platz zu machen. Und irgend so ein Möchtegernheld trat mir sogar in den Weg – er sah aus wie ein einfacher Knecht, war aber breitschultrig und blickte sehr entschlossen drein.
    "He du! Wenn das Mädchen nichts von dir will, dann solltest du sie in Ruhe lassen!"
    "Was?!" Ich war völlig entgeistert. Der ließ mich einfach nicht vorbei! Da wollte ich eine gute Tat am frühen Morgen tun, und es endete damit, dass ich hier als Unhold dastand. Bis ich dem guten Mann erklärt hatte, dass ich Urbaner war, war die verzweifelte Hibernierin über alle Berge.
    "Mierda."


    So viel Tatkraft hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Verdammt. Ob sie sich jetzt umbringen würde? Ich suchte noch eine Weile nach ihr, aber sie war spurlos verschwunden, die große, menschenüberfüllte Stadt hatte sie einfach verschluckt. Als wären wir alle nur Treibholz auf dem Meer, auf den Wellen tanzend, so hatte die Strömung Bridhe und mich für einen kurzen Augenblick zueinander getrieben, um uns gleich darauf wieder in verschiedene Richtungen zu reissen.
    Seufzend blieb ich stehen. Ich befand mich direkt vor einer Garküche, und das Scheppern der Töpfe, Palavern der Kunden, der Geruch von ranzigem Fett und verbrannten Zwiebeln bedrängte meine übernächtigten Sinne auf unangenehme Weise. Roma, Roma foeda!


    Während ich langsam den Weg nach Hause einschlug nahm ich mir vor, dass ich, wenn ich das nächste Mal eine fragliche Wasserleiche im Tiber herumschwimmen sähe, einfach die Finger davon lassen würde. (Natürlich war das ein Vorsatz, den ich nicht würde durchhalten können. Aber er verschaffte mir für den Moment eine gewisse Genugtuung.) Ich hoffte nur, dass die Frau wieder zur Besinnung kam! Aber ich glaubte es nicht. Wenn sie es heute nicht wieder versuchte, sich das Leben zu nehmen, dann eben an einem anderen Tag, und einmal würde sie auch erfolgreich sein. Es war schlimm. (Nebenbei tat es mir auch ein wenig um meinen à-la-mode-Mantel leid, er hatte farblich so gut zu meiner Tunika gepasst.)
    Allerdings hatte diese Begegnung, die tiefe Traurigkeit, die die Frau verströmte, das dramatische Schicksal, welches mich da ganz am Rande gestreift hatte, auch eine poetische Note in mir zum klingen gebracht. Noch auf dem Heimweg formten sich Worte, Zeilen, Verse in meinem Geist, so dass ich schließlich nicht anders konnte, als mich auf eine Gartenmauer am Wegesrand zu setzen, eine Tabula hervorzuziehen, und meine Inspiration zu Wachs zu bringen.



    Die Najade


    In Dämmer und Nebel trieb ihre Gestalt
    Dem Meer zu, der salzigen Tiefe.
    Ich griff ihre Hände, so bleich und so kalt.
    Nicht doch. Verweile! - Wenn ich sie nur riefe,


    Wenn ich sie nur wärmte, ein Feuer entfacht',
    Ein Gluthauch den eisigen Gliedern,
    Dann könnt ich sie halten - so hab' ich gedacht.
    Doch ich irrte. Ohne Sinn zu erwidern:


    Besinn' dich! Sieh um dich! Du bist nicht verloren!
    Die Sehnsucht war stärker. Die Heimat so fern.
    Seeblau die Augen. Voll Tränengefunkel, geboren
    Aus Fremdheit. Ich hälfe ihr gern.


    Doch von jenseits der Meere, Hibernia, es ruft...
    Die schneeigen Hände entgleiten.
    Die Najade sinkt in die Wassergruft,
    Verliert sich in eisigen Weiten.


  • Die Ellenbogen auf ihren Oberschenkel ruhend und das Gesicht in ihren Händen vergraben, so saß Bridhe da und dachte über all das nach, was in den vergangenen Stunden alles geschehen war. Die trügerische Hoffnung auf Heimkehr, ihre Rettung aus den Fluten, die ihrer Ansicht nur eine Verlängerung ihres Leids darstellte und wieder einmal die Flucht. Ihrem Retter war sie durch Zufall entkommen, trotzdem empfand sie keine Erleichterung dabei. Nichts von dem, was sie beinahe zur Selbstmörderin hatte werden lassen, war dadurch gelöst worden. Der Urbaner würde jetzt noch eine viel schlechtere Meinung von ihr haben, denn nun war sie zu allem Überdruss auch noch zur Diebin geworden, denn sein Umhang wärmte sie noch.
    Egoistisch, grausam, eine schlechte Mutter und jetzt auch noch eine Diebin! So hatte sie der Urbaner gesehen. Aber so war Bridhe nicht!


    Die Frage, die sie sich schon so oft im Leben gestellt hatte, stellte sie sich auch jetzt wieder: wie sollte es jetzt nur weitergehen? Ein weiteres Mal würde sie es nicht versuchen, sich im Tiber zu ertränken. Jedenfalls nicht heute. Ihre Familie wusste dank ihrer Flucht auch noch nichts von dem Vorfall. Sie konnte also mit gutem Gewissen wieder nach Hause. Serapios eindringliche Worte waren nicht spurlos an ihr vorüber gezogen. Sie arbeiteten noch in ihrem Kopf und beschäftigten sie. Natürlich brauchte ihr Junge eine Mutter. Sie selbst hatte es ja erlebt, die halbe Kindheit ohne Mutter aufzuwachsen. Wenn sie sich nun anstrengte und sich nur auf das Gute konzentrierte, dann sah sie vielleicht wieder ein wenig Licht am Ende des Tunnels. Dann war dieser Tag und diese Begegnung nicht umsonst gewesen.


    Bridhe ließ sich viel Zeit, ihre nächsten Schritte gut zu überdenken. Dann, es war schon Nachmittag, traf sie eine Entscheidung: sie ging wieder nach Haus.


    Ein wenig Orientierung war nötig gewesen, um auf Anhieb den Nachhauseweg wieder zu finden. Doch dann fand sie die schließlich Straße, in der die Bäckerei und auch die Mietskaserne war, in der sie wohnte. Bevor sie ihren Fuß über die Schwelle setzte, dachte sie noch einmal kurz nach, ob sie sich auch ganz sicher war. Doch, das war ihr weg!

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