Livineia mochte Opferungen nicht. Natürlich hatte sie nicht weiter gemurrt, schließlich war das eine familiäre und gesellschaftliche Pflicht, die sie als solche auch ohne Weiteres anerkannte, aber mögen musste sie sie deswegen noch lange nicht. Von den verschiedenen Dämpfen und Gerüchen verstärkten sich meistens ihre Kopfschmerzen um ein nicht geringes Maß, abgesehen davon war die Schlichtheit, in der man zu diesen Anlässen in aller Regel auftrat, absolut nicht ihre Sache. Auch Livineia trug selbstverständlich ein leichtes, weißes Gewand. Ihr Haar lag offen auf ihren Schultern - nichtsdestotrotz hatte sie ihr Haar ziemlich lange legen lassen, damit es gescheit aussah. Es gab kaum einen unerträglicheren Gedanken als den, das irgendjemand sie in einem derangierten Zustand sehen könnte und die Wahrscheinlichkeit war dann am höchsten, wenn die Haare nicht mit Klammern, Spangen und sonstigen Hilfsmitteln zu einer schönen Frisur gesteckt wurden. Ein Windstoß und schon war das Ansehen dahin. Dann noch diese ganze Wascherei. Livineia gehörte zu einer Art Mensch, die sich ohnehin schon ziemlich häufig wuschen. Sie konnte unangenehme Gerüche und Schmutz auf den Tod nicht ausstehen. Nun aber auch noch aus rituellen Gründen ständig die Haut zu reinigen war einfach lästig, auch wenn sie diese Rituale niemals in Frage stellen würde. Sie waren einfach vollkommen normal. Sie war mit dem Respekt vor Göttern und Ahnen großgezogen worden und käme nicht auf die Idee, mehr als nur Lustlosigkeit zu fühlen.
Nein, sie mochte Opferungen nicht. Allgemein konnte sie nicht viel mit Devotion und Frömmigkeit anfangen - aber sie akzeptierte dies als Teil ihres Lebens und ihres Alltags. Selbst dem allerdings nicht so wäre, würde sie sich nicht gegen die Anweisungen ihres Großvaters stellen. Er war das unumstrittene Familienoberhaupt, auch für sie, obwohl sie nicht einmal ein sonderlich enges Verhältnis zu ihm hatte. Der Respekt, dem sie ihm entgegen brachte, war groß. Größer noch als bei ihrem Vater, bei dem sie sich schon eher Widerspruch gestattete. Es mochte daran liegen, dass er nie wirklich entzaubert worden war. Jeder folgte seinen Anweisungen, sie würde nicht wagen dieser Autorität ernsthaft als erste entgegen zu treten. Was Herius Claudius Menecrates sagte war Gesetz. Bestenfalls wagte sie einen Einwurf, aber keine ernste Rebellion. So folgte sie auch heute brav seinem Beispiel.
"Möge dieses Wasser alle Unreinheit von meinem Körper waschen wie das Verwandeln von Blei in Gold. Reinige den Verstand. Reinige das Fleisch. Reinige den Geist. So ist es." Livineia wusch sich brav die Hände, ehe sie sich gleich ihrem Großvater dem Altar zuwendete, um ebenfalls Iuppiter ein Opfer darzubringen. Sie berührte den Alter und sprach anschließend mit leicht erhobenen Händen.
"Iuppiter, dem Beispiel meines Großvaters folgend bete ich dir ein gutes Gebet, auf dass mir die Bitte gewährt wird, dass dein Schutz und dein Wohlwollen auf unserer Familie ruht und jedwedes Unheil von ihr abgewendet wird. Ich danke dir für dein bisheriges Wohlwollen. Sei geehrt durch diesen Wein." Auch Livineia goss Wein in die Opferschale. Der Gedanke, dass ihr nun ganz akut frischer Weihrauch entgegenschlagen könnte, förderte nur ihre Übelkeit - anmerken ließ sie sich für den Moment allerdings nichts. Dieser Moment war nicht dazu angetan, zu nörgeln und zu jammern.
Sich zur rechten Seite hin abwendend schaffte sie nun Platz für ihre Verwandten und gesellte sich wieder weiter an den Rand. Ihr Blick glitt kurz über ihren nur geringfügig älteren Bruder, der vor kurzer Zeit wieder aus Achaia zurückgekehrt war. Nur deshalb hatte sie sich überwinden können, den Landsitz nach nur relativ kurzer Zeit wieder zu verlassen und wieder nach Rom zurückzukehren. Und das obgleich ihre Kopfschmerzen noch immer präsent waren wie eh und je! Weiter glitt ihr Blick zu den anderen drei Frauen, die beieinander standen und die sie zwar kannte, zu denen sie allerdings nie einen engen Bezug gehabt hatte. Wie auch, Livineia war selten im Kreise ihrer weiteren Familie gewesen und ohnehin kein Mensch, mit dem man gerne Zeit verbrachte. Sie brach Gespräche häufig schlecht gelaunt ab und zog sich zurück, wenn es ihr irgendwann nicht mehr gefiel und gab sich auch keine Mühe, andere Menschen für sich zu gewinnen, wenn es ihr keinen Nutzen brachte.