Ravenna | Domus des Aelius Calvaster

  • »Da hast du recht«, pflichtete Caenis bei.
    »Wir haben damals im selben Jahr noch geheiratet, kurz vor den Saturnalien. Es war ein ganz scheußliches Wetter, das weiß ich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Alle waren froh, als der Zug endlich vorbei war. Jeder war durchnässt, es hat gegossen wie aus Kübeln.«
    »Die tunica recta war patschnass«, fügte Calvaster ein wenig anzüglich grinsend hinzu, woraufhin er eine tadelnde Geste von Caenis kassierte. Caius aber grinste.
    »Decimus!«


    Caius sah zu Seiana, als die fragte, ob nicht bescheid gesagt wurde.
    »Ich?«
    »Ich?«
    »Wer?«
    Calvaster und Caius grinsten sich einvernehmlich an, und Caenis sah zwischen den dreien hin und her.
    »Ich habe gesagt, dass mein Ältester heiratet«, sagte Calvaster dann und zuckte schmunzelnd die Schultern.
    »Wann hat keiner gefragt.« Als Caius stöhnte und die Auge resignierend schloss, lachte Calvaster.
    »Sieh es positiv, mein Junge, dann musst du diese Kanallien nicht nur wegen den Geschenken zu deiner Hochzeit einladen"«

  • Seiana unterdrückte ein Schmunzeln, als Caius’ Vater seine Frau wieder zu necken begann. „Gut, im Frühjahr kann es auch regnen, aber die Chance auf gutes Wetter ist dann doch wesentlich besser als jetzt im Winter.“ Sie fühlte sich immer noch seltsam. Einerseits erleichtert, weil ihre Eltern, ihre Mutter nicht mehr Gesprächsthema waren. Andererseits merkwürdig… nervös, weil es – natürlich – wieder um die Hochzeit ging, ihre Hochzeit, die bevorstand. Oh Götter, steht mir bei… Seiana überlegte, noch einen Schluck zu trinken, unterließ es dann aber. Der Wein war pur, und sie wollte auf keinen Fall zu viel davon abbekommen. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es sie ein wenig beruhigte.


    Stattdessen musterte sie Calvaster. „Aber… sollten wir sie dann nicht zurückgeben? Ich meine… oder wenigstens Bescheid geben? Also, dass wir noch nicht jetzt heiraten, ich meine…“ Irgendwie fand sie es nicht richtig, die Geschenke zu behalten. Sie waren noch nicht verheiratet. Andererseits… was meinte Calvaster mit dem Ausdruck Kanaillen? „Was für… Nachbarn sind das denn?“

  • Caenis schlürfte an ihrem Wein und nickte zustimmend. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Frühjahr regnete, war doch recht groß, aber man würde nun nicht die Hochzeit draußen feiern wollen, und ein Brautzug war doch irgendwie machbar, selbst wenn es aus Kübeln gießen sollte.


    Bei den Geschenken war sich Calvaster gerade der uneingeschränkten Aufmerksamkeit eines jeden im Raum bewusst. Er grinste gefuchst.
    »Achwas!« kommentierte er fröhlich und lutschte auf einer Olive herum.
    »Nein, das würde sie nur vor den Kopf stoßen! Ach Decimus... Manchmal frage ich mich, wie du nur auf solche Ideen kommst«, jammerte Caenis und schüttelte wieder den Kopf.
    »Da wunderst du dich? Ich habe seit zweiundvierzig Jahren die beste Lehrerin, die man sich denken kann« erwiderte Calvaster, fing sich Caenis' Hand ein und gab ihr einen Handkuss. Caenis runzelte grimmig die Stirn und entwand ihm die Hand.
    »Ich wäre nie auf eine solche Idee gekommen!« beschwerte sie sich und sah dann Seiana und Caius an.
    »Ihr müsst sie natürlich behalten. Und euch bedanken. Und es wäre nur höflich, wenn ihr mit den Einladungen zur Hochzeit nicht geizt.« Sie blinzelte ein wenig pikiert.
    »Einen Moment. Du meinst, wir sollen die Geschenke behalten und im Gegenzug die Leute auf unsere Hochzeit einladen? Ist das euer Ernst?« fragte Caius und sah von seiner Mutter zu seinem Vater. Calvaster zeigte kurz verstohlen mit dem Daumen auf Caenis und sah ansonsten aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Caenis bemerkte es nicht, nickte nur huldvoll.
    »Das glaub ich jetzt nicht«, stöhnte Caius und wandte sich zu Seiana.
    »Das sind Schmarotzer und Schleimer. Die schenken uns nur was, weil sie sich davon eine Einladung nach Rom erhoffen, nicht weil sie uns kennen. Die schon mal gar nicht, und mich kennen die auch nicht richtig«, erklärte er ihr.
    »Aber Caius!« klagte seine Mutter.

  • Es war eine Mischung aus Amüsiertheit, Verlegenheit und… nun ja… so etwas wie Wehmut, die Seiana mehr und mehr ergriff, je länger sie Caius’ Eltern beobachtete. Sie konnte nicht anders als an ihre Eltern zu denken. Ihr Vater, der viel zu früh gestorben war, als dass ihre Eltern das gleiche miteinander hätten teilen können. In diesem Augenblick schickte sie ein Stoßgebet zu den Göttern, dass Caius und sie später auch einmal so sein würden. Dass sie die Zeit haben würden dazu… Sie blinzelte, als Caius’ Mutter das Wort wieder an sie beide wandte. „Ja, das werden wir natürlich“, meinte sie, relativ zeitgleich mit Caius’ empörtem Ausruf. Sie warf ihm einen Seitenblick zu, mit hochgezogenen Augenbrauen, und Caius erklärte auch gleich warum er so reagierte. „Willst du die Geschenke denn wieder zurückgeben? Ich meine, wie würde das denn aussehen?“ Sie zu behalten, ohne sich in irgendeiner Form dafür zu bedanken, kam für Seiana so wenig in Frage, dass sie es gar nicht für nötig hielt, das laut auszusprechen. Genauso wenig kam es in Frage, sie jetzt zu öffnen. „Könnt ihr die Geschenke nach Rom bringen lassen?“ Aber sie hatte da so eine Ahnung, dass Caius das wohl… anders sehen würde. In jedem Fall stellte sie sich, fast noch bevor diese Worte ihren Mund verließen, schon mal auf Protest ein.


    „Wie wäre es…“ Seiana überlegte kurz. „Wir haben unsere Verlobung doch bisher nur sehr klein gefeiert. Was hältst du davon, wenn wir das hier nachholen? Wenn es euch Recht ist, selbstverständlich“, sagte sie zu Caius’ Eltern gewandt. Sie hatte eigentlich überhaupt keine Lust auf eine derartige Feier, aber das schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein, aus diesem Geschenke-Dilemma herauszukommen. „Dazu könnten wir eure Nachbarn und Freunde einladen. Und für die Hochzeit dann bekommen nur die eine Einladung, die…“, hier flog ein schelmisches Lächeln über ihre Lippen, während sie zu Calvaster sah, „keine Kanaillen sind.“ Den Ausdruck fand sie immer noch besser als Schmarotzer und Schleimer.

  • In diesem Augenblick schickte Caius ein Stoßgebet zu den Göttern, dass Seiana niemals so werden würde, wie seine Mutter war. Bona Dea, er würde sich erhängen! Aber sie wurde ja jetzt schon ein klein wenig so. Misstrauisch sah er sie an. Schlummerte etwa eine Caenis in ihr, ohne dass sie sie bisher ans Tageslicht gelassen hatte? Während er sie so ansah, als hielte er ihre Idee für das Todesurteil seines Haustieres (wenn er denn eins gehabt hätte), strahlte Caenis ihre zukünftige Schwiegertochter begeistert an.
    »Aber natürlich, mein Kind« , erwiderte sie herzlich. Caius hingegen schnappte nach Luft, als er Seianas nächsten Vorschlag hörte. Seine Stimme war eine Oktave höher, als er jetzt sprach.
    »Was?!« Zeitgleich...
    »Oh, wie wundervoll! Eine schöne Idee, Seiana!«


    Calvaster sah seinen Sohn an, dann die beiden Frauen. Er enthielt sich lieber und beschloss, dass die Frauen das besser unter sich ausmachen sollten. Als Seiana seine Wortwahl ergriff, grinste er ihr spitzbübisch zu. Mit dreißig Jahren weniger hätte er Caius so sehr ähnlich gesehen. Es war unverkennbar, dass es Vater und Sohn waren.
    »Wie wäre es mit übermorgen?« schlug Caenis da schon recht geschäftsmäßig vor und ignorierte Caius dabei geflissentlich.
    »Bis dahin ließe sich alles vorbereiten. Und es würden ja auch nur vierzig oder sechzig Leute kommen, das sind ja nicht so viele...«
    »Das sind ja nicht so viele?!« Caius schnappte nach Luft und lehnte sich vor. Er stellte seinen Weinbecher auf dem Tisch ab, und die Flüssigkeit spritzte ein klein wenig dabei heraus.
    »Mutter! Ich bitte dich, so viele Leute wollten wir nicht mal zu unserer Hochzeit einladen! Und wir haben unsere Verlobung nicht klein gefeiert. Sondern so gut wie gar nicht!« Anklagend und bedröppelt zugleich sah er nach seiner Mutter Seiana an. Tu mir das nicht an, schien sein Blick zu verdeutlichen.
    »Umso besser, dass ihr zumindest eine anständige Feier feiert!« kommentierte Caenis selbstzufrieden und steckte sich einen Orangenschnitzen in den Mund. Caius stöhnte. Und Calvaster? Der sagte nichts dazu. Er wusste schon warum. Aber er schmunzelte hinter vorgehaltener Hand vor sich hin.

  • Seiana entging keineswegs, wie Caius reagierte auf ihre Worte. Allerdings war sie darum bemüht, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle leben konnten – und einfach gar nicht zu reagieren auf Geschenke, die sie bekommen hatten, war schlicht und einfach unhöflich. Sie lächelte Caenis an, als diese sich mit einer Feier einverstanden zeigte, erwiderte gleich darauf Calvasters Grinsen und ignorierte Caius. Als seine Mutter dann allerdings weiter sprach, wurde Seiana klar, dass sie etwas tun musste. Nicht nur wegen des flehentlichen Blicks, den Caius ihr zuwarf, sondern auch ihretwegen. Sie hatte eigentlich keine Lust auf eine Feier – sie würde sich damit arrangieren, wenn es die beste Lösung war, was jedoch nichts daran änderte, dass ihr keine am liebsten wäre. Aber eine Feier in zwei Tagen mit vierzig bis sechzig Leuten – nein. Nein, nein, und nochmals nein. Als sie ihren Vorschlag gemacht hatte, hätte sie nie mit derart vielen Personen gerechnet, und sie wagte auch zu bezweifeln, dass so viele ein Geschenk geschickt hatten. Und sie wusste, wenn sie jetzt nicht eingriff, dann würde es genau so laufen, wie Caenis es vor ihren Augen entwarf. Ebenso wie ihr klar war, dass – wenn sie jetzt nichts sagte – es wohl jedes Mal so laufen würde, wann immer sie auf Caius’ Mutter traf. Und da sie vorhatte, mit Caius ihr Leben zu verbringen, würde das das ein oder andere Mal vorkommen, selbst wenn er sie selten sah. Spätestens wenn Enkelkinder da waren, würde es vermutlich ohnehin wieder häufiger werden, was sie auch verstehen konnte. Nur: sie hatte absolut keine Lust darauf, mit ihren Schwiegereltern, genauer ihrer Schwiegermutter, ein Verhältnis zu pflegen, bei dem sie sich zusammenreißen musste und im Grunde froh war, wenn sie wieder verschwand. Sie wollte es eigentlich nicht schon bei ihrem Antrittsbesuch auf eine Meinungsverschiedenheit ankommen lassen, aber wenn sie jetzt nicht sagte, was sie wollte – und darauf bestand –, dann würde es irgendwann später in Machtkämpfe ausarten, befürchtete sie. So viel hatte sie von Caenis bereits gemerkt in der kurzen Zeit. Und da Caius’ Mutter im Übrigen eine liebenswürdige Frau zu sein schien, wollte Seiana das nicht.


    „Caenis…“ Sie suchte nach den richtigen Worten, was gar nicht so einfach war. Caius selbst war keine große Hilfe, aber in diesem Fall hätte er wohl ohnehin nicht viel tun oder sagen können. „Wir haben unsere Verlobung gefeiert“, wiederholte sie zunächst betont und warf Caius einen Blick zu, den er hoffentlich begriff. Wenn Caenis tatsächlich zu glauben begann, sie hätten so gut wie gar nicht gefeiert, dann wurde es nur umso schwieriger sie von der Idee einer derart großen Feier abzubringen. „Erstens denke ich, dass übermorgen zu knapp ist. Caius und ich bleiben doch ein wenig länger, und wir waren einige Zeit unterwegs. Ich hatte frühestens an nächste Woche gedacht.“ Ihr Tonfall war freundlich, aber bestimmt. Es war immerhin ihre Feier, ihre und Caius’, nicht die von Caenis. „Und vierzig Leute – die ich noch nicht einmal kenne und die auch euch und vor allem Caius wohl nur entfernt, wenn überhaupt, bekannt sind – sind einfach zu viele.“ Vielleicht war sie ein wenig zu direkt, aber es brachte hier einfach nichts, um den heißen Brei herumzureden, wenn sie nicht das Risiko eingehen wollte, dass Caenis ihren Willen am Ende doch bekam. Drei Brüder zu haben hatte eben doch seine Vorteile – ebenso wie ihre Erfahrungen im Geschäftsleben sich nützlich zeigten. Wenn sie wollte – und die Umstände nicht von ihr verlangten, sich wie, nun ja, eben wie eine gute Römerin zu verhalten –, konnte sie eine harte Verhandlungspartnerin sein. Was sich auch daran zeigte, dass sie das scheinbar naheliegendste Argument gar nicht erwähnte: dass es doch zu viel Mühe sei, so viel zu organisieren. Caenis hätte das mit einer Handbewegung beiseite gewischt, daher sparte Seiana sich die Mühe von vornherein. „Zwanzig, und die Begleitungen sind dabei mit eingerechnet. Wir suchen diejenigen aus, die euch am nächsten stehen. Alle anderen bekommen ein Dankschreiben. Nach der Hochzeit.“ Und Seiana setzte ein Lächeln auf, das fast glauben lassen könnte, sie hätte ihrer zukünftigen Schwiegermutter das Angebot ihres Lebens gemacht.

  • Caius ahnte rein gar nichts von Seianas Überlegungen. Und er bekam auch nicht sonderlich viel mit von den Hintergedanken, die sie sich machte. Viel eher war ihm unverständlich, warum Seiana darauf pochte, die Verlobung gefeiert zu haben. Immerhin... Doch...Moment mal! Da ging ihm ein Licht auf, und noch ehe Caenis, die misstrauisch schaute, etwas sagen konnte, pflichtete er Seiana begeistert bei.
    »Ach sooooo!« machte er.
    »Natüüürlich!«


    Caenis warf ihm einen undurchschaubaren Blick zu und räusperte sich dann.
    »Nächste Woche?« Sie schien nachzudenken, und einen Moment hing ein unsichtbares Damoklesschwert über Seiana. Dann lächelte Caenis.
    »Nun gut, dann nächste Woche. Aber gleich zu Anfang.« Caius fühlte sich, als säße er als Taubstummer bei einer Friedensverhandlung zeier verfeindeter Feldherren. Und ein Blick hin zu seinem Vater, der sich auffällig still verhielt, sagte ihm, dass es ihm ganz genauso ging. Gerade hatten sich wieder tiefe Furchen auf Caenis' Stirn gebildet, denn nun ging es um die Verhandlung der Anzahl von Gästen. Caius kam sich vollkommen fehl am Platze vor, und er entwickelte in dieser Situation ziemlichen Respekt vor Seianas Verhandlungsgeschick. Ihm schwante, dass er während seiner Ehe nur dann gegen sie gewinnen konnte, wenn er sie entweder ignorierte oder ihren Nerv traf. Eine ziemlich furchteinflößende Vorstellung.


    Schweigen breitete sich aus, nachdem Seiana ihren Vorschlag gemacht hatte. Caenis musterte ihre zukünftige Schwiegertochter mit gemischten Gefühlen. Ja, Seiana war etwas für ihren Sohn. Der brauchte auch etwas Lenkung, hatte sie das Gefühl.
    »Dreißig, inklusive Begleitung«, erwiderte sie mit kaufmännischer Berechnung in der Stimme und leicht zusammengekniffenen Augen. Immerhin war das die Hälfte von dem, was sie sich so vorgestellt hatte! Caenis reckte ein wenig das Kinn vor. Und Caius sah von einer zur anderen, bis sein Vater ihm grinsend verstohlen auf den Oberschenkel klopfte. Sein Blick schien zu sagen, dass er genaustens nachempfinden konnte, was Caius denken musste.

  • Seiana hätte am liebsten die Augen wahlweise verdreht oder geschlossen, als Caius zuerst gar nichts zu begreifen schien – und dann ein bisschen zu plötzlich. Und ein bisschen zu begeistert. Sie unterdrückte sowohl den Impuls, irgendetwas mit ihren Augen zu tun, als auch jenen zu seufzen, und behielt stattdessen Caenis im Blick, die zwar eindeutig misstrauisch dreinschaute, aber nichts weiter dazu sagte, und bevor sie es sich womöglich noch anders überlegen konnte, läutete Seiana schon die nächste Runde ein. Urplötzlich, nur durch eine kleine Bemerkung über ein paar Geschenke angefacht, war aus diesem ersten Zusammentreffen ein Kriegsschauplatz geworden. Und Seiana hatte nicht vor, auch nur eine Schlacht verloren zu geben. Kompromisse, ja, Waffenstillstand, auch ja – aber eine Niederlage? Niemals. Darunter würde sie den Rest ihres Lebens zu leiden haben. Und es war ja Leben, um das es ging, ihres und das von Caius, aber der hatte im Augenblick nicht viel zu melden. Seiana handelte ja auch nur in seinem besten Interesse. Und als schien er das zu spüren, hielt er auch seine Klappe. Ebenso wie Calvaster. Und zumindest letzterer wusste vermutlich aus jahrelanger Erfahrung, dass er sich jetzt nur in Schusslinie begeben hätte, hätte er etwas gesagt.


    Das allerdings bemerkte Seiana nur am Rande. Ihre Konzentration war auf Caenis gerichtet, die in diesem Augenblick den Terminvorschlag abwog. Seiana war sich bewusst darüber, dass das ein kritischer Moment war. Bestand ihre zukünftige Schwiegermutter auf übermorgen, war das Ganze gelaufen, dann würde sie wohl auf gar keinen Vorschlag eingehen, sondern an ihrer Vorstellung der Feier festhalten, und dann hatten sie ein Problem. Das Schweigen zog sich für Seiana beinahe unerträglich in die Länge, aber reell verging wohl nur ein Augenblick, bis Caenis antwortete – und im Grunde zustimmte, wenn auch mit einer kleinen Einschränkung. Aber damit konnte Seiana leben. „Anfang nächster Woche klingt gut“, lächelte sie und verbarg gekonnt ihre Erleichterung. Keine Schwäche zeigen, war die Devise, schon allein, weil gleich das nächste Thema auf den Tisch kam: die Anzahl der Eingeladenen. Wieder zog sich das Schweigen, diesmal noch länger, und diesmal auch in der Wirklichkeit, nicht nur in Seianas Vorstellung. Ihre innere Spannung stieg, und sie bemerkte nicht, dass Caenis in diesem Moment nicht nur an die Besucherzahl dachte – sondern auch eine erste Einschätzung darüber traf, wie geeignet Seiana war für Caius. Hätte sie auch nur das Geringste davon geahnt, wäre ihre Strategie, ihr Schlachtplan, wohl in sich zusammengeklappt wie ein Kartenhaus, weil sie dann wieder nervös geworden wäre. Aber sie merkte es nicht, und so wartete sie nur ab, ein wenig nervös sicherlich auch, aber in erster Linie gespannt. „Dreißig…“ Jetzt war sie es, die nachdachte und Caenis mit gemischten Gefühlen musterte. Dreißig. Das war mehr, immer noch weit mehr, als sie gedacht oder sich gewünscht hätte. Andererseits waren Dreißig die Hälfte der Obergrenze dessen, was Caenis zuvor gesagt hatte – und Seiana vermutete, dass die genannte Sechzig nicht wirklich die Obergrenze gewesen wäre, hätte sie von vornherein zugestimmt. Und das erste Angebot war eben immer nur das: ein Angebot. Sie hätte nicht wirklich damit rechnen dürfen, hatte es im Grunde auch nicht, dass Caenis das widerspruchslos annahm. Die beiden Frauen maßen sich gegenseitig mit Blicken, und schließlich nickte Seiana. „Dreißig. In Ordnung.“ Aber keiner mehr, das schwang so deutlich in ihrem Tonfall mit, als hätte sie es laut gesagt. „Um die genauen Planungen können wir uns ja dann diese Woche kümmern.“ Mit einem Lächeln lehnte sie sich zurück und nippte an ihrem Wein, während sie Caius einen Blick zuwarf und anschließend Calvaster, um deren Reaktionen einschätzen zu können. „ Wäre es in Ordnung, wenn ich mich ein wenig zurückziehe? Ich bin offen gestanden ein wenig müde von der Reise hierher, und ich würde auch gerne bald auspacken.“

  • Auch ohne dass er es gewusst hätte, hätte Caius in diesem Moment sofort bemerkt, dass Seiana aus einer Familie stammte, die neben einigen Feldherren viele, viele Strategen hervorgebracht hatte. Sein Blick war gleichermaßen skeptisch wie bewundernd, zumindest, bis er sich am Riemen riss und versuchte, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen. Calvaster grinste nur, während die beiden Damen ihre Legionen ins Feld führten und schließlich sowas wie eine Art Waffenstillstand aushandelten. Caius sah zu seiner Mutter, die Seiana gerade anlächelte. Dann sah er zu Seiana, die seine Mutter gerade anlächelte. Und verstand die Welt nicht mehr. Er selbst hatte sich eben noch in der Zwickmühle gewähnt: handeln oder schweigen? Und sich für letzteres entschieden, einfach, weil es einfacher war, nicht weil er Seiana eine Chance lassen wollte, sich zu behaupten.


    Caenis nickte abschließend.
    »Sehr schön! Ich hätte da natürlich schon die ein oder andere Idee«, begann Caenis und holte Luft, um das ein oder andere in einem langen Monolog vorzubringen, doch Seiana war schneller, so dass die Luft unverbraucht wieder entwich und sie ihre Schwiegertochter in spe etwas verwundert ansah.
    »Oh. Natürlich. Verzeih meinen Übereifer, aber es heiratet ja nicht jeden Tag ein Sohn, nicht wahr?« Caenis lächelte flüchtig, hüstelte und nippte auch an ihrem Wein.
    »Nicodemus? Zeigst du Seiana bitte das Zimmer?« wandte sie sich danach an einen hochgewachsenen Sklaven mit bronzefarbener Haut, der geschäftig nickte und darauf wartete, dass Seiana aufstand.


    Caius sah seine Chance jetzt gekommen, Seiana im Geheimen zu dieser strategischen Flucht nach vorn zu interviewen und richtete sich halb auf.
    »Das kann ich doch auch machen! Wir haben mein altes Zimmer, nicht?« wandte er fröhlich ein und fing sich dafür einen tadelnden Blick seitens seiner Mutter ein.
    »Du hast dein altes Zimmer. Seiana wird im Gästezimmer auf der Südseite schlafen.« Und damit war das Thema für sie erledigt, da würde sie auch keine Widerrede dulden, so viel machte schon der Tonfall unmissverständlich klar. Caius runzelte leicht verärgert die Stirn. Allein deswegen schon hatte er sich auf zu Hause gefreut - um mit Seiana in einem Bett schlafen zu können! Calvaster seufzte leise und betrachtete seinen Sohn mit einem vollkommen verständnisvollen Blick.
    »Geh ruhig«, kommentierte er in aller Seelenruhe, und diesmal wagte es Caenis nicht, da noch etwas gegen zu sagen, so dass Caius recht schnell aufstand.
    »Komm«, sagte er zu Seiana.

  • »Ich zeig dir erstmal mein altes Zimmer, ja?« sagte Caius zu Seiana gewandt, als sie das Esszimmer verlassen hatten und allein im Flur standen. Er kannte sich natürlich noch aus hier, auch wenn der letzte Besuch lange zurücklag. Zielsicher führte er seine Verlobte durch das geräumige Landhaus und öffnete ihr dann eine Tür.


    Staub tanzte im Sonnenlicht. Da gab es ein gemachtes Bett und frische Blumen in einer Vase. Ein kleiner Schreibtisch aus Olivenholz, in den zahlreiche unschickliche Bildchen eingeritzt waren und in den sich ein großer unförmiger Tintenfleck eingebrannt hatte. In einem niedrigen Regal an der Längsseite befanden sich Spielsachen. Ein Ball, ein Kreisel. Holzsoldaten und ein großes Feldherrenpferd samt Feldherr. Als Caius' Blick darauf fiel, jauchzte er und stürzte darauf zu.
    »Servus Virgilius Latro!« stieß er hervor und griff nach dem stolzen Reiter, um ihn zu untersuchen. Seiana schien er erstmal vergessen zu haben.

  • Hatte Seiana sich zuvor noch gewünscht, Caius würde ein wenig mehr in die Bresche für sie springen und ein paar der Fragen abfangen, war sie in diesem Augenblick froh, dass er sich zurückhielt. Es war leichter, sich direkt mit Caenis auseinander zu setzen und etwas auszuhandeln, womit sie beide – aber in erster Linie sie, Seiana – leben konnte, ohne Caius’ Zwischenkommentare. Die sie dann womöglich noch ausbügeln musste oder komplett nach hinten losgingen. Und sie war doch recht zufrieden mit dem Waffenstillstand, den sie erreicht hatten – allerdings war sie tatsächlich ein wenig müde, und sie hatte ganz sicher nicht den Nerv, jetzt schon in die Planungen einzusteigen. Denn dass Caenis eine Menge Ideen haben würde, von denen ein nicht kleiner Anteil nicht auf große Zustimmung bei ihr oder Caius stoßen würde, dafür musste sie keine Seherin sein oder ein Orakel befragen, um das zu wissen. Oder Caenis’ nächsten Kommentar hören. Seiana lächelte sie an. „Nein, das ist selbstverständlich. Verzeih mir bitte meine Unhöflichkeit. Aber ich denke, wir haben noch viel Zeit um alles zu besprechen.“ Wenn es nach ihr ging: massenhaft Zeit. Aber dass das nur ein Wunschtraum war – und nur der ihre, nicht der von Caenis und auch nicht der von Caius –, war Seiana klar.


    Sie erhob sich und sah kurz zu dem Sklaven hinüber, der sie zu ihrem Zimmer bringen sollte, als Caius das Wort ergriff. Seiana sah überrascht zu ihm hinunter. Sie, sie beide, hätten sein altes Zimmer? Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Caenis ihr schon zuvor kam, und diesmal hatte Seiana keinerlei Einwände – im Gegenteil, sie war erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, wieder eine der Diskussionen mit ihm führen zu müssen, die sich ohnehin im Kreis drehten, weil keiner von ihnen nachgab. Willst du nicht doch reiten? Willst du nicht lockerer sein? Willst du nicht doch vor der Hochzeit mit mir ins Bett? In ihren Gedanken war Caius’ Stimme nicht mehr seine Stimme, sondern klang piepsig und schnell und quengelig. Sie hoffte wirklich, dass er mit diesem Thema nicht doch noch anfing, sondern es jetzt auf sich beruhen ließ, nachdem Caenis ein Machtwort gesprochen hatte. Allerdings, auch das konnte sie sehen: Caius gefiel es keineswegs.


    Sie lächelte den beiden noch zu, beschloss aber für sich, dass es besser war nichts mehr zu sagen außer einem „Bis später!“, dann folgte sie Caius einfach. Sein Zimmer war… irgendwie… süß. Das Zimmer eines Jungen. Man konnte sehen, dass hier schon länger niemand mehr gewohnt hatte, und dass dieser Jemand, wann immer er zuletzt tatsächlich hier gewohnt, nicht nur geschlafen hatte, kein Erwachsener gewesen war. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, das stärker wurde, als Caius sich etwas stürzte. „Servus Virgilius Latro?“ fragte sie nach, und dann, mit einem Grinsen: „Ist das Konkurrenz für mich?“

  • »Ja, guck mal hier, den Arm kann man bewegen«, antwortete Caius automatisch und drückte das kleine hölzerne Scharnier nach unten. Tatsächlich, der Feldherr konnte mit dem Arm winken und so Befehler erteilen. Als Caius aufsah, bemerkte er aber Seiana erst wieder jetzt, räusperte verlegen und ließ dann das Spielzeug sinken.
    »Äh, nein. Früher wär's das aber gewesen«, fügte er dann entschuldigend hinzu und grinste ein wenig schief. Mit einem leicht wehmütigen Ausdruck stellte er seinen Reiter zurück ins Regal, strich über den Kreisel, der sich ein wenig bewegte, und ging dann zum Schreibtisch. Als er die Schnitzereien bemerkte und sich daran erinnerte, mit welcher Inbrunst er lieber die gemacht als Mathe gelernt hatte, bekam er rote Ohren. Er musste unter allen Umständen verhindern, dass Seiana das sah! Wie ertappt drehte er sich ruckartig zu ihr hin und lehnte mit dem Hintern an der Schreibtischplatte.
    »Äh, und du? Äh, hattest du auch viel...Spielzeug?« fragte er, um abzulenken. Scheinbar aber war das mehr als offensichtlich.

  • Seianas Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als Caius ihr den Feldherrn vorführte, wie er den Arm bewegen konnte, und bei seinem nächsten Kommentar musste sie dann leise lachen. Früher wäre es das gewesen. So wie Caius nur einen winzigen Augenblick zuvor gewirkt hatte, hatte dieses früher noch Auswirkungen bis heute. Sie betrachtete weiter das Zimmer, nahm das Regal war, das voller Spielzeug stand, das Bett, die Vase mit den frischen Blumen, die sicher auf Caenis’ Anordnung hereingebracht worden waren. Das Zimmer hatte eine heimelige Atmosphäre, schien aus einer heilen Welt zu stammen, und für einen winzigen Moment spürte Seiana einen Stich, der sich verdächtig nach der Nadel des Neids anfühlte. Caius hat keine Ahnung, was für ein Glück er hat, dachte sie etwas wehmütig.


    Dann bewegte eben jener sich plötzlich, stellte den Feldherrn weg und ging zum Tisch, an den er sich lehnte. Was dazu führte, dass ihr Blick auf den Tisch gelenkt wurde. Und auf die Schreibfläche. Caius’ Hintern war nicht annähernd breit genug, um die Bildchen zu verbergen, die sich über den gesamten Tisch ausbreiteten. „Wie?“ fragte sie, abgelenkt, kam mit schräggelegtem Kopf ein wenig näher und versuchte an ihm vorbei einen vernünftigen Blick auf die kleinen Bildchen zu erhaschen, die langsam einen Sinn für sie zu ergeben begannen. Ihre Augenbrauen wanderten ein Stückchen in die Höhe, ihre linke noch ein wenig mehr als ihre rechte. „Äh, nein. Nicht allzu viele.“ Für einen Moment war sie ein wenig abwesend. Ein paar Spielsachen hatte sie natürlich gehabt, aber ihre Mutter hatte Wert auf anderes gelegt. Unter anderem darauf, dass sie nicht verwöhnt war, oder meinte Dinge seien stets im Überfluss vorhanden. Mehr darauf, dass sie sich zurückhielt, und dass sie sich verdiente, was sie bekam. Seianas Blick fokussierte sich wieder auf die Bildchen, die nun eine willkommene Ablenkung darstellten. „Das…“ Sie stand nun bei Caius am Schreibtisch und fuhr mit den Fingern über die Fläche. „… ist interessant.“

  • Na toll! Eigentlich hätte es ihm ja von vorn herein klar sein müssen, dass sie ihn vollkommen ignorierte und einfach trotzdem einen intensiveren Blick auf seinen alten Schreibtisch warf! Er spannte sich kurz an und seufzte resigniert. Nur um einen winzigen Moment später überrascht zu schauen. Nicht überrascht. Vollkommen perplex. Seiana würde ihm, insbesondere nach dem noch bevorstehenden Empfang bei den Pompeiern, immer unglaublicher und schwerer einzuschätzen vorkommen. Jetzt aber war er erstmal baff. Er trat zur Seite, damit sie einen besseren Blick hatte. Peinlich waren ihm seine Kritzeleien nun nicht unbedingt.
    »Echt? Findest du?« Dann trat ein schakalhaftes Grinsen auf seine Züge und er deutete auf die obere rechte Ecke des alten Holztisches, wo eine ungezogene Geste mit zwei Mädels prangte, von denen eine sich bog wie eine Brezel und die andere... Naja!
    »Das würd ich ja gern mal austesten!« meinte er und verschränkte die Arme vor der Brust, gespannt, wie Seiana kontern würde.

  • Seiana sah hoch, und erst jetzt fiel ihr ein, dass das, was für sie gerade eben noch eine willkommene Ablenkung von trüben Gedanken gewesen war, für Caius etwas ganz anderes war. „Ehm“, machte sie, etwas verlegen, und wich seinem Blick aus. Dann wanderte ihre Augenbraue wieder nach oben, als Caius nun grinste, beiseite trat und auf eine der Kritzeleien zeigte. „Ah… würdest du gern, ja?“ Sie besah sich das Bildchen genauer, und ihr Mund öffnete sich etwas bei zugleich leicht gerunzelter Stirn, während sie sich bemühte, die Situation irgendwie einschätzen zu können. „Da du keine Frau bist, dürfte das problematisch werden“, meinte sie dann, was wohl ein recht lahmer Konter war – vor allem im Vergleich zu dem, was sie Augenblicke zuvor bei Caenis abgezogen hatte. Aber das war ein Gebiet, auf dem Seiana nun mal völlig unerfahren war – und unsicher.

  • Caius maß sie mit einem forschenden Blick und entschied dann für sich, dass er Seiana doch irgendwie recht prüde fand. Wenn er da an Axilla dachte... Aber das sollte er besser nicht tun, überlegte er.
    »Joa«, meinte er dann und zuckte mit den Schultern. Am besten lenkte er vom Thema ab, obwohl er eigentlich gar keine Lust dazu hatte.
    »Stimmt schon.« Wozu sollte er auch eine Frau sein, immerhin wollte er den männlichen Part in dem geschnitzten Techtelmechtel zu dritt übernehmen! Er schnappte sich kurzerhand Seiana und zog sich an sich heran. Sein Gesicht war dicht vor ihrem, und er lehnte wieder an der Tischplatte.
    »So stur wie du bist, so wenig experimentierfreudig bist du auch, hm? Ich könnte heut Abend zu dir kommen...« Er beugte sich vor und küsste sie. Zumindest versuchte er es.

  • War sie prüde? Vermutlich war sie das. Seiana selbst konnte das überhaupt nicht einschätzen. Sie hatte einfach keine Erfahrung, und das ganze Thema machte sie daher nervös. Es war ja nicht so, dass sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hätte, wie es wäre, auf… nun ja… diese Art mit einem Mann zusammen zu sein. Vor allem seit sie mit Caius verlobt war. Aber vor der Hochzeit kam das doch ohnehin nicht in Frage, nicht für sie, als Frau. Hätte es irgendeinen Weg gegeben, wie sie Erfahrungen hätte sammeln können, ohne dabei ihre Ehre zu verlieren, sie hätte es vermutlich getan, schon allein, weil sie es hasste, sich so hilflos und unsicher und aufgeschmissen und – wenn sie ganz ehrlich zu sich war – ängstlich zu fühlen. Aber das war die eine, einzige Sache, in der sie nur auf die eine, einzige Art Erfahrung sammeln konnte. Und sie war eine ehrbare Frau. Wenn sie schon sonst kein Leben führte, auf das ihre Mutter stolz wäre, dann würde sie wenigstens in dieser Hinsicht tun, was von ihr erwartet wurde.


    Dass bei dem Bildchen, auf das Caius gezeigt hatte, noch ein Mann anwesend war, musste ihr wohl entgangen sein zuvor. Aber selbst wenn sie es gemerkt hätte, hätte sie auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Er wollte so etwas ausprobieren. Würde sie da mitmachen? Nicht jetzt, aber wenn sie verheiratet waren? Wie weit reichten ihre Pflichten als Ehefrau denn, was solche Sachen betraf? Seiana fühlte sich auf einmal schrecklich unsicher, und die Panik, die sie vor der Hochzeit hatte, wuchs für einen winzigen Augenblick ins Unermessliche. Sie wünschte sich, es wäre einfach schon vorbei, sie hätte es hinter sich, und könnte vielleicht sogar darüber lachen, weil sie vorher so nervös gewesen war wegen einer Feier, einem Datum, einem… neuen Leben. Sie sehnte sich nach etwas Sicherheit, sehnte sich danach, sich ein wenig, ein klein wenig nur, fallen lassen zu können, einmal loslassen zu können. Widerstandslos ließ sie sich von Caius an ihn ziehen und sah ihm in die Augen, und bei seinen Worten fühlte sie sich noch etwas hilfloser. So wie er es sagte, klang es danach, als sei es etwas schlechtes, dass sie Wert auf Anstand legte. Wert auf Traditionen. Wert darauf, dass sie als ehrbare Frau in die Ehe ging. So wie er es sagte, klang es fast… fast… nach einem Vorwurf. Oder machte sie sich diesen Vorwurf nur selbst?


    Und doch, seine Worte, sein Angebot, das Caius wohl am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte, hätte sie ihn gelassen, ließ etwas in ihrem Magen flattern, etwas, dass sich anders anfühlte als die Nervosität, die gemeinsam mit dem ganzen anderen Schwung an Gefühlen der Sparte Unsicherheit und weiteres dort herumschwirrten und ihr das Atmen und das Leben schwer machten; etwas, dass sich, wenn sie ehrlich zu sich selbst war und sich genug Freiraum gab, sich ein wenig näher damit zu beschäftigen, bei weitem nicht unangenehm anfühlte. Als Caius sich zu ihr neigte und sie küsste, verharrte sie reglos, ließ zu, dass ihre Lippen sich trafen, und erwiderte den Kuss für einen Moment. Das war gefahrlos, immerhin war das hier nicht das erste Mal, dass sie sich küssten. Aber sie wurde nicht los, was er gesagt hatte, und sie wollte nicht, dass er einen falschen Eindruck bekam. Oder den Kuss als Einverständnis, als Einladung, gar als Aufforderung verstand. Seiana löste ihre Lippen von den seinen, lehnte sich etwas zurück und legte ihm sacht eine Hand auf die Brust. „Caius…“ Sie presste die Lippen aufeinander und fixierte ihren Blick einige Momente lang irgendwo neben ihrer Hand, bevor sie wieder aufsah. „Ich… ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich experimentierfreudig bin. Aber… können wir nicht einfach warten? Ich meine, was ist so schlimm daran, bis zur Hochzeit ist es doch nicht mehr weit…“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, aber sie hörte sich nicht halb so sicher an, wie sie es gerne hätte, und verriet weit mehr von ihrer Hilflosigkeit – und ihrer Nervosität, ihrer Angst – als sie wollte. Wie konnte sie sich fallen lassen, wenn sie diejenige sein musste, die immer nein zu sagen hatte?

  • Zuerst wähnte sich Caius schon fast siegessicher, als Seiana den Kuss erwiderte. Dann machte sie sich aber los und schob ihn ein bisschen von sich weg (zumindest kam ihm das so vor). Sie wirkte befangen und so, als wär ihr das alles ziemlich peinlich. Caius konnte das nicht nachvollziehen. Die adeligen Frauen hatten die Jungfräulichkeit vor der Ehe zum Wettstreit gemacht, aber bei Seiana fand er die Sache eindeutig übertrieben! Außerdem: Wenn sie es nicht wollte, würde er es doch niemandem sagen. Was also hatte sie für eine Angst davor? Er machte dasselbe enttäuschte Gesicht, das sie schon öfter bei ihm hatte sehen können, wenn das Thema zur Sprache kam. Dann gab er sich einen Ruck und hob einen Mundwinkel, genauso wie eine Hand, mit der er ihr das Haar zurück strich.
    »Ja«, meinte er leichthin und sagte dazu nichts mehr. Er hatte eigentlich auch gar nicht damit gerechnet, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Um den Themenwechsel zu bekräftigen, schob er Seiana ein wenig zur Seite und stieß sich dann vom Schreibtisch ab, um betont unbekümmert in Richtung der Zimmertür zu gehen.
    »Dann zeig ich dir jetzt mal das Zimmer, hm?« sagte er und sah Seiana kurz an. Länger ging nicht. Er wünschte sich in diesem Moment und in Bezug auf dieses Thema wirklich, sie wäre ein wenig mehr wie Axilla. Aber sie bei dem Gedanken anzusehen, brachte er einfach nicht fertig, also öffnete er stattdessen schon einfach mal die Tür.

  • Es war richtig, zu warten. Davon war Seiana überzeugt. Warum fühlte sie sich dann in diesem Augenblick dennoch so… mies, als Caius ohne große Worte einfach nur zustimmte? Warum hatte sie das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein deswegen, so, als ob er ihr einen Gefallen tat? Sie sah auf den Boden hinunter und wünschte sich für einen winzigen Moment, sie hätte auch das bereits hinter sich. Aber sie brachte es einfach nicht fertig, und noch weniger brachte sie es fertig, ihm zu sagen, was alles in ihr vorging. Dass es nicht nur, nicht allein Tradition und Anstand waren, sondern dass sie auch Angst hatte. Angst davor, sich einem anderen Menschen mehr zu öffnen, mehr von sich zeigen, als sie es jemals zuvor getan hatte. Einen anderen Menschen so nahe an sich heran zu lassen. Es ging, für sie, nicht nur um Sex – und genau dort lag vermutlich das Problem, weil es wohl für Caius in erster Linie darum ging. Für sie war Sex ein Symbol für mehr, war ein Symbol dafür, dass sie sich öffnen, sich entblößen musste, und sich damit verwundbar machte. Sie hatte Angst vor diesem Moment. Nicht einmal Faustus, der ihr näher stand als sonst jemand, hatte sie je alles von sich gezeigt. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie zu viel in diese ganze Sache hineininterpretierte, dass es nur körperlich war, aber selbst das reichte schon aus, um ihr ein wenig Angst zu machen, weil es ohne Nähe, und sei es nur körperliche, einfach nicht funktionierte. Sie wusste genug von Sex, um zu wissen, dass es letztlich der Mann war, der nahm. Und sie war nicht gut darin, loszulassen. Die Kontrolle abzugeben. Sich führen zu lassen. Und sei es nur körperlich.


    Seiana unterdrückte ein Seufzen und nickte. „Ja. Zeig mir das Zimmer.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber diesmal misslang es ihr, hatte sie das Gefühl. Aber Caius sah ohnehin schon wieder weg von ihr, öffnete die Tür, und Seiana folgte ihm aus seinem Zimmer hinaus, quer durch das Haus, bis hin zur Südseite, wo das Gästezimmer war, in dem sie schlafen würde.

  • Selbstverständlich ging es für Caius nur darum. Worum hätte es auch sonst noch gehen sollen? Da fehlte ihm das Verständnis für. Natürlich, zärtlich und liebevoll sein. Aber das konnte man eben auch währenddessen, und das war er eigentlich auch, fand er zumindest. So führte er Seiana durch das Haus und zeigte ihr die wichtigsten Örtlichkeiten auf dem Weg, bis sie schließlich in dem Zimmer standen, das sie für ihren Aufenthalt in Ravenna beziehen sollte. Es war nicht übermäßig eingerichtet, aber es gab alles, was man brauchte. Und Seianas sachen standen auch schon parat.


    »Tja also, da wären wir. Äh, brauchst du noch irgendwas?« fragte er sich recht unverbindlich, einfach weil er nicht wusste, was er noch sagen sollte. Da hätte es zwar einiges gegeben, aber irgenwie erschien ihm nach der Episode in seinem Zimmer das meiste einfach unpassend.

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