Es war der Monat Nebelung, den die Römer November heißen. Midgard wurde umschlossen von Kälte und Düsternis. Die Tage wurden kürzer und die Bauern ließen ihre Felder Felder sein und verkrochen sich mehr und mehr in ihre warmen Katen. Witjon hingegen hatte heute die Casa Duccia hinter sich gelassen. Seine treue Stute Skaga trug ihn heute fort aus der Stadt, die er nun seit einigen Jahren seine Heimat nennen konnte. Doch an diesem Tag wollte er einfach nur seine Ruhe haben. Allein sein. Ja, das brauchte er. Seine wundervolle Gattin war in letzter Zeit nicht immer so wundervoll gewesen und auch seine Arbeit mitsamt der Aktivitäten im Ordo Decurionum zehrten irgendwann an Witjons Nerven. So hatte er sich entschieden, einen Ausritt zu unternehmen, um seinen Gedanken ungestört nachhängen zu können und die Aura der Natur auf sich einwirken zu lassen.
Und der Duccius hatte über allerlei nachzudenken. Ganz besonders nagte der Zustand seiner liebreizenden Frau an ihm. Callista beklagte sich seit Wochen über Unwohlsein und Übelkeit. Sie verhielt sich obendrein merkwürdig, war sehr seltsam Witjon gegenüber und schien ständig schlechte Laune zu haben. Als sich heute morgen wieder einmal einer ihrer launischen Tage angekündigt hatte, war der genervte Gatte kurzerhand geflohen. Er hatte sich in der Regia einfach krank gemeldet und war umgehend zur Hros marschiert - auf Umwegen, um seinem Weib nicht zu begegnen - und war wenig später auf Skagas Rücken davongeprescht.
Der Wind pfiff ihm eiskalt um die Ohren, als die beiden Freunde so über die Straße stoben. Skaga hatte sichtlich ihren Spaß. Nicht oft fand ihr Reiter die Zeit, den notwendigen Ausritt über die Grenzen der Hros hinaus zu führen. Witjon derweil genoss die Leere, die sich in seinem Kopf während des Ritts etablierte. Er konzentrierte sich einzig und allein auf die Bindung zwischen Mensch und Pferd und spürte sie dahinfliegen. Noch war der Tag jung und Nebel legte sich auf die Haine und Äcker am Wegrand. Witjon fröstelte und zog Schal und Mantel enger, als Skaga in gemütlichen Trab verfiel. Sie waren bereits seit einer geschätzten Stunde unterwegs. Die Nase hatte den Flüchtenden ohne Plan nach Westen geführt, wo die Römerstraße einige Zeit die Richtung gewiesen hatte. Doch irgendwann lenkte Witjon seine Stute auf einen abzweigenden Weg, den er gut kannte. Hier war er schon früher oft zum Nachdenken hergeritten.
Einige Meilen von der Römerstraße entfernt lag eine Baumgruppe mitten zwischen Feldern und Wiesen. Ein schmaler Bach schnitt durch den Hain, dessen Mittelpunkt ein Brocken von einem Stein bildete, der ein stückweit über das Gewässer hinausragte. Sie hielten bei den Bäumen und Witjon stieg beschwingt ab. Er tätschelte Skaga liebevoll und bot ihr eine Rübe an, die er unter anderem in einem großen Umhängebeutel mit sich führte. Die Stute bekundete ihm ihre Zuneigung durch Schnauben und leckte zur Bekräftigung Witjon an Hand und Wange. "Jaja, bist 'ne ganz Liebe, weiß ich doch," schmunzelte dieser und ließ das Tier dann guten Gewissens stehen. Skaga würde sich schon zu unterhalten wissen, während er sich mit sich selbst beschäftigte.
Ein wenig ehrfurchtsvoll schritt Witjon dann zwischen den Bäumen voran. Er suchte die Nähe des großen Felsens, der vom Wasser auf der Unterseite ausgehölt wurde. Wieso spürte er an diesem Ort immer besonders die Nähe der Geister, die Midgard neben den vielen anderen Lebewesen bevölkerten? Manchmal, wenn er hierher kam, meinte Witjon im Augenwinkel sogar zwergenhafte Gestalten herumschleichen zu sehen. Doch wenn er sich zu ihnen umdrehte, waren da nur die Wurzeln der Bäume, die Farnbüschel und das Moos, das den Boden bedeckte. Dann schalt er sich und fühlte sich seltsam närrisch. Würden sich die Geister je einem Menschen zeigen? Besonders in diesem Teil Midgards, der durch den Einfluss der Römer an seiner geheimnisvollen Kraft zu verlieren schien. Die Trolle hatten diese Länder bereits vor Jahrzehnten verlassen und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis selbst der faulste Waldschrat den Weg gen Austa, nach Osten, angetreten hatte.
Zwei Maisen hatten diesen Flecken zu ihrem Heim erkoren und begrüßten den Neuankömmling verhalten. Merkwürdig, dass selbst die Vögel hier eine gewisse Ehrfurcht an den Tag zu legen schienen. Strahlte dieser Ort eine solche Kraft, eine solche Präsenz göttlicher Mächte aus? Witjon wusste es nicht. Was er wusste war, dass er hier nicht nur zum Nachdenken herkam, er betete hier auch und opferte. Doch im Gegensatz zur römischen Gewohnheit wandte er sich meist nicht an einzelne Götter. Oft rief Witjon gleich eine ganze Vielzahl der übermenschlichen Kräfte an, die ihre Geschicke beeinflussten. Heute allerdings kam er, um einer Göttin im Besonderen zu huldigen. An dem Felsen angekommen legte Witjon den Beutel zur Seite und kniete sich zunächst in das mit Raureif überzogene Moos. Mit geschlossenen Augen verharrte er so, die Hände auf die Oberschenkel gelegt, ruhigen Atems. Er spürte noch einmal die Aura dieses Hains, die ihn, der noch kurz vorher rastlos geflüchtet war, seltsam friedvoll werden ließ. So verstrich einige Zeit in stiller Konzentration, die nur von gelegentlichem Zwitschern unterbrochen wurde...
Foto by: Luis Argerich