Das Fläschchen war aus dickem Bleiglas. Wenn man es gegen das Licht hielt, konnte man die Flüssigkeit darin sehen, wie ein unscharfer Fleck im dunklen Glas. Das bisschen Luft, das ebenfalls eingeschlossen war, zeichnete eine tiefschwarze Linie, die man gut erkennen konnte, wenn man es leicht drehte.
Wie die letzten tage saß Axilla da und hielt es in der Hand. Sie hielt es leicht gegen das Fenster, wo das Licht vom Garten hereinfiel, und betrachtete die Flüssigkeit mit gemischten Gefühlen. Es schien so einfach. Sie musste nur das Wachs vom Verschluss brechen und den kleinen Korken entfernen und es austrinken. Das war es, dann musste sie nur noch warten. Warum also zögerte sie schon seit so vielen Tagen? Es war ganz einfach. Nur öffnen, trinken, warten. Gut, sie würde Schmerzen haben, aber... war es das nicht wert? Sie würde ihr Leben wieder zurückerhalten. Es würde sein, als wäre nie etwas gewesen. Sie würde weiterhin die fröhliche, unbekümmerte Axilla sein können. Niemand würde etwas wissen. Niemand würde etwas ahnen. Ihre Freundschaft mit archias wäre nicht mehr gefährdet. Sie konnte sich sogar mit Seiana anfreunden. Also, so richtig anfreunden. Seiana war sowieso so nett, das Gespräch mit ihr hatte ihr erstaunlich gut gefallen. Sie war nicht so ein Dämchen, das nur von Mode und Zeitvertreib dahergeplappert hatte. Nein, ihre Gesprächsthemen waren irgendwie bodenständiger gewesen. Ehrlicher. Männlicher. Ja, ein wenig, als hätte sie sich mit einem Mann unterhalten.
Mit einem Seufzen ließ sich Axilla rücklings auf ihr Bett fallen, hielt die Phiole über sich in die Luft. Das Wachs glänzte, weil sie mit den Fingern schon so oft darübergefahren war. Es war ganz glatt poliert. Nur ein wenig Druck, und es würde ganz einfach abbröseln. Es war keine besondere Kraft dafür nötig. Es war nur, damit der Inhalt luftdicht abgepackt war. Die einfachste Art, etwas zu verschließen und zu verhindern, dass flüssiger Inhalt auslief. Es war so einfach.
Gab es denn eine andere Möglichkeit? Axilla hatte lange und oft darüber nachgedacht. Sollte sie es Archias sagen? Was würde dann passieren? Er würde sie vielleicht sogar heiraten an Seianas Stelle, noch war er nicht verheiratet. Bestimmt würde er das Kind annehmen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sie fallen ließ. Aber... es würde ihre Fruendschaft belasten. Er liebte Seiana. Wirklich. Richtig. Tief. Und Seiana? Die würde Axilla wohl hassen, wenn sie das amchte.
Was konnte sie noch tun? Sie könnte zu Piso gehen und sagen, es sei sein Kind. Soviel Zeit lag da nicht dazwischen. Vielleicht 8 Wochen. Das war noch im Rahmen. Das Kind würde zwar für sein Verständnis zu früh kommen, aber nicht so, als dass sie es nicht erklären könnte. Aber... nein, das könnte sie nicht machen. So fies war sie nicht. Sie konnte nicht so sehr lügen, nur um den eigenen Vorteil zu sichern. Und wer sagte, dass er es überhaupt annehmen würde? Axilla kannte ihn nicht so gut, um das abschätzen zu können.
Das Kind allein bekommen? Nein, das verwarf Axilla sofort wieder. Dann noch eher es nach der Geburt erwürgen, das wäre barmherziger. Ein Kind ohne Vater, das war nicht mehr als ein Peregrinus. Und die Schmach für die Familie! Nein, das konnte sie ihrem Vater nicht antun. Sie schuldete ihm einen Erben, der seinen Namen in seine Ahnenreihe aufnehmen würde, damit seine Seele in Ewigkeit ruhen konnte. Nein, das war vollkommen ausgeschlossen.
Axilla drehte das Fläschchen noch ein wenig in ihren Händen. Ihre Finger spielten wie so oft mit dem Wachs am Verschluss. Nur ein bisschen mehr... es bröselte und fiel auf sie herunter, verteilte sich krümelnd auf dem Bett. Axilla setzte sich auf und wischte sich achtlos die kleinen Krümel vom Bauch. Der Korken saß auch ganz locker, nur ein kleiner Ruck.
Axilla roch erst einmal daran. Beißend, scharf, kalt. Unangenehm. Sie verzog den Mund. Sollte sie das wirklich trinken? Bestimmt war es bitter, oder scharf. Was, wenn sie nicht alles trank, oder es wieder ausspuckte? Was, wenn sie sich davon übergeben musste? War ja nicht ausgeschlossen, und es roch nicht gerade appetitlich. Aber dann würde sie nochmal gehen müssen. Vielleicht sollte sie es gar nicht nehmen und einen anderen weg finden. Andauernd verloren Frauen ihre Kinder. Ihre Mutter hatte sechs verloren. Oder zumindest 6, von denen sie wusste. Vielleicht waren es sogar mehr. Bestimmt würde sie es auch verlieren, wenn sie genug Sport machte. Reiten sollte ja schädlich sein bei Schwangerschaften, und sie mochte Pferde. Sie konnte sogar reiten. Einzig es fehlte ein Pferd, aber das konnte man ja besorgen...
Sie roch noch einmal daran. Nein, es roch wirklich abscheulich. Axilla hielt das Fläschchen von sich und holte einmal tief Luft. Mit Schwung setzte sie es an und kippte es in einem Zug hinunter.
“Blärg...“ entfuhr es ihr und sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, während sie die Phiole von sich warf. Es war nicht scharf gewesen, und auch nicht so bitter. Nein, es schmeckte eher wie eine Mischung aus Galle und Blut, rostig und sauer, und hinterließ ein pelziges Gefühl auf der Zunge.
Axilla saß ruhig auf dem Bett und lauschte in ihren Körper. Außer diesem Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, fühlte sie etwas? Sie lauschte in sich hinein, versuchte, die Wirkung ausfindig zu machen, aber da war... nichts. Absolut gar nichts. Sie fühlte keinen brennenden Schmerz, kein Stechen, nichtmal ein Kribbeln. Da war nur der schale Geschmack in ihrem Mund, aber sonst nichts, was Tod verheißen könnte.