Obgleich die Lesung des Cassim durchaus wäre tauglich gewesen als kurzweiliges Vergnügen für einen Großteil der Familie, so hatte Gracchus sich dafür entschieden, diese Darbietung erst einmal allein zu goutieren, nicht nur ob der Tatsache wegen, dass er noch nicht wusste, ob Cassim als Vorleser sich eignete, sondern gleichsam, da er insgeheim ganz egoistisch den Sklaven vorerst allein für sich wollte haben. Er hatte sich auf eine Kline in seinem Cubiculum gebettet, vor welcher ein kleines Tischchen mit Speisen und Wein darauf stand, und daneben eine weitere Kline, auf welcher der Sklave sich würde setzen oder legen können, sofern er nicht gedachte stehen zu bleiben - was Gracchus indes nach einer kurzen Weile würde unterbinden, vordergründig, da es den Nacken würde anstrengen, die ganze Zeit empor zu blicken, hintergründig, da er den Leib des Parther so besser würde im Auge haben. Er war überaus gespannt darauf, welchen Text Cassim hatte aus den Beständen der Bibliothek ausgewählt, und kaute in stiller Vorfreude vergnügt auf einer Haselnuss, während Sciurus den Sklaven herbei holte.
Cubiculum MFG | Der Vorleser
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Wenige Tage später nur, nachdem Cassim die Bibliothek zum ersten Mal betreten hatte, schien er Tag gekommen zu sein, an dem er die Chance erhielt, sich zu bewähren. Schon am ersten Abend, da er den Bestand der literarischen Werke in Augenschein nehmen konnte, hatte er damit begonnen, eine Auswahl zu treffen. In den Tagen danach kamen noch einige Werke hinzu, die er in die engere Auswahl mitnahm. Schlussendlich hatte er sich doch für die erste Schrift entschieden, denn der erste Gedanke war meist der Beste!
Mehrere Male hatte er sich darin versucht, den Text vorzutragen und dabei ihn gut zu betonen, damit das Vorlesen nicht eintönig wurde und er am Ende wieder im Pferdestall landete.
Wie jeden Tag, seit man ihn nicht mehr an die Arbeit im Stall heranzog, sorgte der Parther für eine ansprechende Körperpflege. Sogar an ein wohlriechendes Öl war er gekommen, mit dem er sich nach dem Bad einrieb. Das tiefschwarze kurze Haar war ordentlich gekämmt und die Rasur bot auch keinen Anlass zur Beanstandung. Vervollkommnet wurde dies alles durch deine saubere Tunika, die ihm von nun an wieder tagtäglich zur Verfügung stand.
Alles hatte den Anschein, die schlechtesten Tage seines Daseins seien vorüber. Die Drohungen des Aristides, waren nichtig geworden und verhallt. Nur das Schandmal in des Parthers Nacken gemahnte ihn daran, wer sein Feind war. Gegen den anderen Flavier, Gracchus, der nun sein neuer Herr war, hegte keinen Groll. Ihm konnte er einzig und alleine den Vorwurf machen, dass er ein Römer war, mehr jedoch nicht.
Mit der ausgewählten Schriftrolle in Händen, folgte er Sciurus, als dieser ihn holen kam. Der Leibsklave führte ihn in das cubiculum des Gracchus. Der Parther fand es nicht abträglich, die Lesung in einer solch intimen Umgebung abzuhalten, da es doch dem Vergnügen seines Herrn dienen sollte.
Ihm fiel eine weitere Kline auf, die neben der des Flaviers stand. Es schien als erwarte er noch Besuch.
Cassim verbeugte sich leicht. "Salve, Herr! Ich habe eine Text ausgewählt, der dir hoffentlich zupasskommt: Platons Symposion. Erwartest du noch jemanden?" -
Als der Sklave den Raum betrat, schien er jeglichen Schatten daraus zu vertreiben - allfällig rückte auch nur jede noch vorhandene Düsternis und Tristesse aus Gracchus' Sinnen, schuf Platz für die angenehme Erscheinung des Parthers, denn unter den vormaligen Schichten aus Schmutz und Schweiß hatte sich tatsächlich ein wahres Klenodium verborgen. Von der Kline aus betrachtet wirkte der Parther noch größer, als er ohnehin bereits war, sein Leib glich der anmutigen Grazie einer Raubkatze, und aus den maskulinen Zügen seines Gesichtes strahlten die dunklen, braunen Augen eine latente Spur von Stolz aus, der aller Demütigung zum Trotze kaum je wohl aus Cassim wäre heraus zu treiben, solange er nicht vollends seine Herkunft würde vergessen. Wie ein König aus fernen Landen, so schien er Gracchus beinah, nur ohne all den überflüssigen Tand, ohne Schimmer und Schein, wie ein Traum aus längst vergangenen Zeiten - welcher jäh zerplatzte, als der Sklave seiner derzeitigen Position entsprechend den Kopf neigte und seinen Herrn als solchen betitelte. Indes währte der Trübsinn darob nicht lange, hatte Cassim doch von Fortunens Hand gelenkt zielsicher einen Gracchus' liebster Philosophen und dazu einen überaus vergnüglichen Text gewählt.
"Platons Symposion - eine vorzügli'he Wahl!"
erfreute sich Gracchus und fragte sich insgeheim, ob der Sklave mit jenem Text allfällig einen Hintergedanken verband - was gänzlich in Gracchus' Sinn würde liegen. Er würde im späteren Verlauf der Lesung den Parther darüber befragen, wie solcherlei in dessen Heimat wurde gehandhabt.
"Nein, ich erwarte niemanden mehr. Setze dich."
Gracchus wies auf die zweite Kline - letztlich war es ohnehin keine Frage des Sklaven Wunsches, ob jener stehen, sitzen oder liegen würde. Hinter dem Parther trat Sciurus an den Tisch, Cassim aus der gleichen Kanne verwässerten Wein einzuschenken, aus welcher auch Gracchus' Becher war gefüllt - um seine Stimme geschmeidig zu halten und darob die Pläsier der Lesung noch zu erhöhen, sollte nur ein edler Tropfen die Kehle des Sklaven hinabrinnen. -
In Erwartung auf Gracchus Entgegnung, blieb er vor den Klinen stehen. Sein Blick war auf den Römer gerichtet, ansonsten verharrte sein Körper in einer Art Starre, die nur darauf wartete, sich wieder lösen zu können, um auf das was kam einzugehen. Er hatte lange damit zugebracht, für und abzuwägen, ob seine Wahl die Richtige war oder ob er sich damit selbst wieder ins Abseits befördern würde. Doch das Antlitz des Gracchus zeigte sich erfreut darüber. Und nicht nur das, selbst ein Lob kam über des Flaviers Lippen, was Cassim wiederum zufrieden stimmte. Seine Mundwinkel verschoben sich leicht nach oben. Nun war es nur noch an ihm, ihn von seinem Können zu überzeugen.
Der Parther kam der Aufforderung des Flaviers augenblicklich nach und setzte sich. So war es am bequemsten, den ausgesuchten Text vorzutragen. Der innerliche Druck, welcher Cassim anfangs in sich wahrgenommen hatte, ließ merklich nach. Bevor er jedoch beginnen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit kurz von dem herantretenden Sklaven abgelenkt, der ihm verdünnten Wein einschenkte. Das ausdruckslose Gesicht Scuirus´ verriet nichts, was dessen Gedanken waren. So scherte sich der Parther auch nicht darum, obgleich er sich sehr gut vorstellen konnte, wie wenig angenehm diesem seine Anwesenheit sein durfte. Doch Cassim hatte es geschafft, das Wohlwollen des Römers zu gewinnen und dieses wollte er keinesfalls aufs Spiel setzen.
"Danke, Herr. Es freut mich, dass meine Wahl dein Wohlgefallen findet. So beginne ich nun."
Cassim nahm einen Schluck uns ließ die wohlschmeckende Flüssigkeit die Kehle hinunter rinnen. Dann räusperte er sich kurz und begann, sichtlich darauf bedacht fehlerfrei und gut betont den erwählten Text vorzutragen.Symposion
Apollodoros und einige seiner Freunde
In der Erzählung des Apollodoros treten redend auf:
Glaukon · Aristodemos · Sokrates · Agathon · Phaidros · Pausanias · Eryximachos · Aristophanes · Diotima · Alkibiades
Apollodoros: Ich glaube, auf das, wonach ihr mich
fragt, nicht unvorbereitet zu sein. Ich befand mich
nämlich jüngst gerade auf dem Wege von Phaleron,
meiner Heimat, nach der Stadt. Da rief einer meiner
Bekannten, der mich von hinten gewahr wurde,
mich scherzend aus der Ferne folgendermaßen an:
He, du da, Apollodoros aus Phaleron, warte doch!
Und ich blieb stehen und erwartete ihn.
Er aber versicherte hierauf: Wahrhaftig, Apollodoros,
auch schon vor kurzem suchte ich dich auf,
um von dir etwas Näheres über die gesellige Zusammenkunft
des Agathon, Sokrates, Alkibiades
und der übrigen zu erfahren, welche damals beim
Gastmahle zugegen waren, nämlich darüber, wie
die von ihnen gehaltenen Liebesreden lauteten.
Denn ein anderer erzählte mir davon, der es von
Phoinix, dem Sohne des Philippos, gehört hatte; er
sagte aber, du wissest es auch, und konnte mir
überdies selber nichts Genügendes mitteilen.
Darum lege nun du es mir dar: denn dir steht es
auch am ersten zu, die Reden deines Freundes zu
berichten. Vorerst aber sage mir, fuhr er fort, warst
du selbst mit in dieser Gesellschaft oder nicht?
Und ich erwiderte: In der Tat, dein Berichterstatter
scheint dir durchaus nichts Genügendes mitgeteilt
zu haben, wenn du glaubst, daß diese Gesellschaft,
nach welcher du fragst, erst neuerdings
stattgefunden habe, so daß auch ich hätte zugegen
sein können.
Das glaubte ich freilich.
Aber wie sollte sie doch, entgegnete ich, lieber
Glaukon!Weißt du denn nicht, daß Agathon schon
seit einer Reihe von Jahren sich nicht mehr hier
aufhält? Seitdem ich dagegen mit Sokrates zusammenlebe
und es mir zur Aufgabe gemacht habe, an
jedem Tage zu erfahren, was er sagt oder tut, - das
sind noch keine drei Jahre her. Vorher aber trieb
ich mich mit dem herum, was mir gerade in den
Wurf kam, und vermeinte recht etwas zu beschaffen,
war aber in Wahrheit unglücklicher als irgend
einer, ebenso wie du nun, der du glaubst, man
müsse eher alles andere tun als philosophieren.
Spotte nicht, antwortete er, sondern sage mir,
wann denn diese Gesellschaft stattfand?
Und ich erwiderte: Noch während unserer Kinderzeit,
als Agathon mit seiner ersten Tragödie
siegte, und zwar tags darauf, nachdem er mit den
Genossen seines Chores schon das eigentliche Siegesopferfest
gefeiert hatte.
Also schon vor gar langer Zeit, wie es scheint,
meinte er. Wer hat es dir denn erzählt? Ohne Zweifel
Sokrates selbst?
Keineswegs, entgegnete ich, sondern ebenderselbe,
von welchem es Phoinix erfahren hat. Es war
das ein gewisser Aristodemos aus Kydathenai, ein
kleiner Mann, der stets barfuß ging; der war mit in
der Gesellschaft gewesen und war überdies, wie ich
glaube, unter seinen Zeitgenossen einer der eifrigsten
Verehrer des Sokrates. Indessen habe ich aber
schon über einige Punkte von dem, was ich von
jenem hörte, auch bei Sokrates nachgefragt, und
dieser bestätigte sie mir so, wie jener berichtet
hatte.
So erzähle es mir denn schnell wieder, versetzte
er. Ist ja doch der Weg nach der Stadt so recht geeignet
dazu, um während des Wanderns zu erzählen
und zuzuhören.
So unterhielten wir uns denn im Gehen hierüber,
und ich bin daher, wie ich schon im Anfang bemerkte,
hierauf nicht unvorbereitet. Soll ich es also
auch euch berichten, so muß ich es wohl tun. Denn
auch ohnehin schon bereiten mir Reden über philosophische
Gegenstände, mag ich sie nun selbst
vortragen oder von anderen vortragen hören, - abgesehen
von dem Nutzen, den sie mir, wie ich glaube,
gewähren, - die größte Freude; alle anderen
aber, zumal wie ihr Reichen und Geldmänner sie zu
führen pflegt, erregen mir für meine Person Überdruß
und gegen euch, ihr Freunde, Mitleiden, weil
ihr etwas Rechtes zu schaffen glaubt und doch nur
etwas ganz Nichtiges treibt. Vielleicht nun haltet
ihr hinwiederum dafür, daß ich zu beklagen sei,
und ich glaube, daß ihr den rechten Glauben habt;
von euch jedoch glaube ich dies meinerseits nicht,
sondern weiß es gewiß. -
Gemütlich lehnte Gracchus sich zurück, lauschte den melodisch dahinfließenden Worten des Parthers - welcher des Griechischen so mächtig war wie wohl seiner eigenen Sprache -, welche bereits nach den ersten Sätzen ihn wohlig umschlossen wie das warme Wasser eines Bades. Er schloss seine Augen und in ihm erwachte das Spiel zu Leben, nicht wie auf einer Bühne vor ihm, sondern gar wie das Leben selbst, als stünde er auf dem Weg in Achaia neben Apollodoros und lauschte dem Dialog. Bei weitem reichte Gracchus' blühende Phantasie aus, die schrecklichsten larven sich vorzustellen, allerorten und -zeiten die desaströsesten Flüche in seinem Nacken zu verspüren, des Nachts gar die schauderhaftesten Bewohner der unterirdischen Reiche um sich zu sehen, zu hören und riechen - so dass die Versenkung in literarische Welten dieser Phantasie als Abwechslung eine überaus angenehme Bühne bot. Obgleich in seinem Geiste manch ein Satz sich vervollständigte noch ehedem Cassim ihn hatte ausgesprochen, so unterbrach er den Sklaven nicht, vergaß selbst den Wein und die Speisen, vergaß alsbald sich selbst, ließ nur ab und an seine Lippen sich kräuseln zu einem vergnügten Lächeln über Platons süffisanten Humor und Cassims vergnügliche Darbietung der unterschiedlichen Rollen, bis dass das Stück - noch nicht sonderlich weit vorangekommen - jene Stelle erreichte, als der athenische medicus Eryximachos seinen Freunden den Vorschlag unterbreitet, eine Lobrede dem Eros zu halten, und Sokrates dem seine Zustimmung gewährt.
"Sage mir, Cassim"
, unterbrach Gracchus die Lesung und öffnete seine Augen.
"Gibt es Götter in Parthien? Oder habt ihr nur einen einzigen Gott? Oder allfällig gar keinen?"
Es war dies schwer vorstellbar für Gracchus, doch konnte er sich auch nicht vorstellen, weshalb ein Volk nicht Teil des Imperium Romanum wollte sein. -
.....Als sie nun dies vernommen, hätten auch alle andern
beigestimmt, man müsse das gegenwärtige
Gelage nicht bis zur Trunkenheit steigern, sondern
nur so nach Behagen trinken.
Da nun also, habe Eryximachos fortgefahren,
dies beschlossen ist, daß ein jeder trinke, soviel
ihm beliebt, und daß kein Zwang stattfinden soll,
so schlage ich fernerhin vor, die eben eingetretene
Flötenspielerin zu entlassen, um für sich allein zu
spielen, oder, wenn sie will, vor den Weibern drinnen,
uns aber für heute einander mit Reden zu unterhalten.
Auch den Gegenstand dieser Reden will
ich euch vorschlagen, wenn es euch recht ist.
Da hätten alle erklärt, es sei ihnen recht, und sie
forderten ihn auf, seinen Vorschlag zu machen.
Eryximachos habe daher fortgefahren: Ich beginne
meine Rede wie Melanippe bei Euripides: denn
nicht von mir selber kommt das Wort, sondern von
unserm Phaidros da, welches ich vortragen will.
Denn Phaidros hat mir schon wiederholt sein Leid
geklagt. Ist es nicht schrecklich, sagt er oft zu mir,
lieber Eryximachos, daß auf alle andern Götter
Hymnen und Gesänge von den Dichtern verfaßt
sind, während auf den Eros, der doch ein so wohltätiger
und großer Gott ist, kein einziger von so
vielen Dichtern ein Loblied gedichtet hat?Wenn du
aber jene schätzbaren Männer, die Sophisten, in
Betracht ziehen willst, daß diese zwar Lobreden
auf den Herakles und andere in Prosa schreiben,
wie zum Beispiel der vortreffliche Prodikos - doch
das ist freilich noch weniger zu verwundern, aber
ich stieß neulich auf ein Buch, in welchem der Nutzen
des Salzes wunder wie hoch gepriesen wurde,
und noch viel anderes dergleichen kannst du hinlänglich
verherrlicht finden, - auf solche Dinge also
verwendet man großen Eifer, während den Eros
noch bis auf diesen Tag kein einziger Mensch seiner
würdig zu preisen unternommen hat! So also
wird ein so erhabener Gott vernachlässigt! Darin
scheint mir nun Phaidros ganz recht zu haben, und
ich möchte daher nicht bloß mich ihm gefällig erzeigen,
indem ich ihm eine Beisteuer hierzu liefere,
sondern ich glaube, daß es auch gegenwärtig für
uns, die wir hier zugegen sind, ganz angemessen
sein würde, den Gott zu verherrlichen. Wenn dies
nun auch eure Ansicht ist, so werden wir hinlänglichen
Stoff für unsere Unterhaltung durch Reden
haben. Ich denke nämlich, es muß nach der rechten
Hand in der Reihe herum ein jeder von uns eine
Lobrede auf den Eros halten, so schön er nur kann.
Phaidros aber muß den Anfang machen, weil er
obenan liegt und überdies der Urheber dieses ganzen
Vorschlages ist.
Niemand, lieber Eryximachos, habe darauf Sokrates
bemerkt, wird dir entgegenstimmen. Denn
weder ich dürfte mich weigern, der ich zugebe, auf
nichts anderes als auf die Liebesangelegenheiten
mich zu verstehen, noch auch Agathon und Pausanias,
noch Aristophanes, dessen ganzes Treiben
sich um den Dionysos und die Aphrodite dreht,
noch überhaupt irgend einer von denen, die ich hier
vor mir sehe. Freilich kommen wir, die wir zu unterst
liegen, am schlechtesten dabei weg; indessen,
wenn nur unsere Vorgänger recht befriedigend und
schön gesprochen haben, so soll uns das genügen.
So fange denn Phaidros in Gottes Namen an und
preise den Eros!Der Parther war in seinem Element. Längst hatte er es sich auf der Kline gemütlich gemacht. Gänzlich entspannt lag er da, den Oberkörper auf den Ellenbogen gestützt, Gracchus zugewandt. Es bereitete ihm sichtliches Vergnügen Platons Werk vorzutragen. Gekonnt kamen ihm die Worte über seine Zunge, obwohl es nun schon Jahre zurücklag, seit er sich intensiv mit dem Symposion beschäftigt hatte. Er liebte die griechische Sprache und auch die Großen der Literatur und Philosophie, die Hellas einst in seiner Blüte hervorgebracht hatte. Letztendlich sah er darin das Vermächtnis seiner Vorfahren, die einst an Alexanders Seite ins Reich der Perser gekommen waren.
Von Zeit zu Zeit riskierte er einen Seitenblick hinüber zu dem Flavier, der sich genüsslich zurückgelehnt hatte und mit geschlossenen Augen dem lauschte, was der Parther vortrug. Er war sich sicher, mit seiner Auswahl richtig gelegen zu haben, was ihn darin bestärkte, nun sein Bestes zu geben.
Cassim war noch nicht sehr weit vorgedrungen, da unterbrach ihn der Römer. Sofort verstummte er und sah auf, um die folgende Frage des Gracchus besser erfassen zu können. Die Frage um Parthiens Gottheiten erstaunte ihn nicht. Es lag im Forscherdrang des Menschen zu ergründen, wie der Andere dachte. Er selbst hatte davon schon in seiner Heimat einen theoretischen Einblick erhalten, von den Erzählungen seines römischen Sklaven, den er besessen hatte. Schon damals schenkte er dieser römischen Vielgötterei nur wenig Sympathie. Die praktische Umsetzung hingegen hatte er selbst am eigenen Leibe miterleben müssen, als er Aristides am Abend vor dessen Hochzeit in den Tempel eines dieser römischen Götzen begleiten musste. Noch heute schauderte es ihn, wenn er daran zurückdachte.
"Diese Frage kann ich mit ja und nein beantworten, Herr. Die meisten meiner Landsleute und auch ich sind Anhänger der Lehren Zarathustras und beten zu Ahura Mazda, dem Einzigen. Ihm gegenüber steht Ahriman, das Böse. Daneben gibt es noch verschiedene andere Kulte, teils von Völkern, die dem Reich angegliedert wurden. Ich hörte, der Kult um Mithras findet auch bei den Römern anklang." -
Es war also ein dualistisches System zwischen Gut und Böse, welches in Parthia vorherrschte, eine recht begrenzte Art des Denkens, wie Gracchus befand, wenn auch nicht gar so monoton wie der alles umfassende Götze der Juden, wiewohl es gleichsam ein offenes System zu sein schien, ähnlich dem römischen.
"In der Tat, Mithras findet vor allem bei den Legionen Verbreitung, was ich dur'haus mit Bedenken sehe, schlussendli'h waren es seit jeher unsere Legionen, welche nicht nur die römische Kultur und den Frieden in andere Regionen bringen."
Wie beinahe jeder Römer war auch Gracchus bezüglich der Richtigkeit dieses Handelns überzeugt.
"Sondern auch und insbesondere unsere Götter. Noch vor Iuppiter, unserem höchsten Gott, errei'hten stets Mars, unser Kriegsgott, durch die Legion und Merkur, der Herr über Reisen und Handel, mit dem ihr folgenden Tross fremde Gebiete. Kulte und Religion sind ein wi'htiger Schlüssel zur Befriedung neu eroberter Gebiete und der Zu..friedenheit der dortigen einheimischen Bevölkerung. Bringt man diesen Menschen Kultur und Wohlstand, die Vorteile eines großen Rei'hes, und lässt ihnen dabei ihre Götter - auch wenn sie hernach nicht mehr Taranis, Odin oder Teutates heißen, sondern Iuppiter, Merkur und Mars -, so gibt es für sie wenig Grund, sich gegen das Imperium Romanum zu wenden"
Namen waren für Götter so austauschbar wie Kleidung für den Menschen, doch die dahinter verborgenen Prinzipien waren überall die gleichen - vermutlich sogar dann, wenn sie zu einer einzigen, verdichteten Gottheit komprimiert waren. Das einzige Problem mit Parthia schien somit die gefestigte Struktur eines Großreiches zu sein, wiewohl eben dies und das dadurch ein wenig importun anmutende Thema römischer Eroberungen Gracchus in diesem Augenblicke zu Bewusstsein kamen, ob dessen er seine nächste Frage in eine etwas andere Richtung lenkte.
"Welcher Art ist also die Beziehung zwischen den Menschen und diesem Arura Mat.. Mas...? Welch kompli..zierter Name für einen Gott - ist das Absicht?"
Pragmatisch war diese Religion augenscheinlich nicht, so man bei der Anrufung des Gottes bereits über dessen Namen stolperte. -
Was konnte die Quintessenz einer Diskussion über Religion sein, die ein Römer uns sein parthischer Sklaven führten? Vertreter zweier Völker, die selbst in der Frage des Glaubens nicht unterschiedlicher hätten sein können. Dem Römer gereichte es zum Vorteil, Herr über den Sklaven zu sein, was diesen wiederum in arge Bedrängnis führte. Denn dieser konnte keineswegs die Ansichten des Gracchus teilen, die er soeben geäußert hatte. Römische Legionen, die Kultur und Frieden brachten! Dass er nicht lachte! Ha! Wer hatte denn schlussendlich die Grenzen überschritten und somit einen Krieg herausgefordert? Römische Legionen brachten keinen Frieden. Sie brachten nur Tod, Zerstörung und Sklaverei. Der Parther hatte mit sich zu kämpfen, sein Empfinden nicht nach außen zu tragen, auch wenn ihm die Widerworte bereits auf der Zunge lagen. Doch so leichtsinnig wollte er seine neugewonnenen Privilegien nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. Was zweifellos geschehen würde, trüge er nun seine eigene Meinung vor.
Bei näherer Betrachtung, kam sich der Parther dabei sehr schäbig vor, sich dies anhören zu müssen und aus reiner Eigennützigkeit heraus nichts dagegen sagen zu können. Ganz recht, er war jetzt wahrhaftig ein Sklave geworden, der kriechend und speichelleckend am Rockzipfel seines Herrn hing und alles dafür tat, ihm zu gefallen, wirklich alles.
So schwieg nun Cassim und machte ein ausdrucksloses Gesicht dazu, als würde alles an ihm abperlen. Innerlich jedoch brodelte es, nicht nur über das Gesagte, auch über sein Unvermögen und seinen Verlust von Ehre.
Allenfalls nach der Frage des Gracchus gebot sich der Parther selbst, sich wieder zu äußern.
"Ahura Mazda, Herr," berichtigte er ihn vorsichtig. "Er ist der Herr des Lichts, Schöpfer der Welt und der Menschen und ein unendlicher Quell der Weisheit. Mit Verlaub, Herr, für parthische Zungen gestaltet sich die Aussprache des Namens des Allmächtigen als weitaus unkomplizierter."
Wenig Glorifizierung klang in den Worten des Parthers mit, als er über seinen Gott sprach, was keineswegs darin begründet war, dass er kein gläubiger Anhänger desselben mehr war, sondern lediglich eine Vorsichtsmaßnahme darstellen sollte, um den Römer keinen Vorwand zu liefern, ihn in Ungnade fallen zu lassen. -
Von dem inneren Zwiespalt seines Sklaven bemerkte Gracchus nichts, blieben ihm doch bisweilen selbst marginale Regungen im Äußeren seines Gegenübers verborgen, so dass inwendige Gedanken eines Anderen gänzlich außerhalb seiner Intuition lagen.
"A-hu-ra Maz-da"
, ließ ob dessen er den Namen des Gottes noch einmal über seine Lippen perlen, nun beinah einen gewissen Wohlklang darin entdeckend, wenn auch noch immer dies überaus fremd für ihn klang. Der Herr des Lichtes und Quell der Weisheit, dies tönte nach Apollo, gleichsam dieser nicht Schöpfer der Welt war, so dass die Parther augenscheinlich tatsächlich alle Götter in einen hatten komprimiert. Letztlich war dies allfällig gar nicht so ungeschickt, brauchte man doch nicht mehrfache Opferungen zu vollführen, nicht für jedes Anliegen einen anderen Tempel aufzusuchen, einen anderen Namen anzurufen, sondern konnte alle Bitten und Danksagungen in geballter Ladung vor einer Gottheit ausbreiten - gleichsam schien diese Art und Weise der Religion Gracchus zu flüchtig, zu banal, zu indifferent, wiewohl ein unumstößliches Fazit ob solcherlei nur nach langem Studium der tatsächlichen Kultausübung würde getroffen werden können.
"Und wem würdest du dich zuwenden, so du wie die Teilnehmer des Gast..mahles einen Hymnus dem Liebesgott zu Ehren darbringen wolltest? Ebenfalls Ahura Mas... Mazda?" -
Diesmal gelang es dem Flavier, den Namen besser zu artikulieren, so dass es selbst dem Allmächtigen wohlgefällig gewesen wäre. Die Spur eines marginalen Lächelns zeugte denn auch von der Akzeptanz des Parthers.
Wie es wohl für jemanden sein musste, der an dem Irrglauben festhielt und eine Vielzahl von Göttern anbetete? Für jedes Sujet einen anderen Gott. Das konnte leicht Verwirrung schaffen. Am Ende betete man noch den Falschen an! Nein, nein, Cassim war sich in dieser Sache sicher, niemals würde er sich dazu verleiten lassen, seinem Gott abzuschwören, oder ihn gar zu verleugnen. Lag nicht genau in der Einzigartigkeit Ahura Mazdas seine Stärke begründet?
Mit einem gewissen Unbehagen dachte er an den Abend zurück, an dem er mit Aristides im Tempel dieses Götzen gewesen war. Damals hatte er noch so etwas wie Sympatie für den Flavier gehegt, die zweifellos nach dem kläglichen Ende seiner Flucht und dem was danach geschehen war, komplett zum erliegen gekommen war. Der Flavier hatte für den Beistand des Gottes beten wollen, da er beabsichtigt hatte, sich am Tag darauf mit seiner Frau zu vermählen. Alle möglichen Opferutensilien hatte Cassim für ihn herbeigeschafft, damit Aristides das Wohlwollen seines Gottes sicher sein konnte. Damals hatte sich Cassim sogar dazu hinreißen lassen, darüber nachzudenken, was den Gott des Römers besonders milde stimmen konnte. Seitdem hatte er es vermieden, mit den römischen Göttern näher in Kontakt zu geraten.Die Frage des Gracchus, die nun folgerichtig kommen musste, erstaunte den Parther keineswegs. Ob es ein Universalgott in solch delikaten Angelegenheiten wie der Liebe, sei sie nun fleischlich oder platonisch, schaffen würde, allem gerecht zu werden, so konnte Cassim dies nur bejahen.
"Da Ahura Mazda der Schöpfer aller Dinge auf Erden ist, so obliegt ihm auch die Liebe. Deshalb würde ich ihm zu Ehren einen Hymnus darbringen, Herr." Der Parther griff nach seinem Becher und trank einen weiteren Schluck, damit ihm, falls er nun mit der Lesung fortfahren sollte, die Kehle nicht eintrocknete. Doch eine Frage lag ihm auf der Zunge, etwas, was er sich schon seit Jahren gefragt hatte, was er allerdings nie tatsächlich erfragt hatte.
"Verzeih mir meine Frage, Herr, doch wie kann man bei einer Vielzahl an Göttern, wie ihr sie habt, immer genau wissen, wen man in welcher Situation anzubeten hat?" -
Obgleich die Frage des Parthers von dessen Standpunkt aus betrachtet keineswegs verwunderlich war, so stürzte sie Gracchus doch zunächst in eine rechte Ratlosigkeit, hatte er doch überaus selten nur darüber sinniert, welche Gottheit in welcher Situation ob welcher Bitten war mit Aufmerksamkeit zu bedenken oder welches Numen anzurufen - er wusste dies einfach. Nachdenklich hob er seine Hand zur Unterlippe und knetete diese ein wenig, ehedem er innehielt, seine Aufmerksamkeit Cassim wieder zuwandte.
"Es ist dies eine dur'haus interessante Frage, auf welche ich gestehen muss, keine eindeutige und einzig gültige Antwort zu kennen. Ich schätze wohl, es liegt an unserer Erziehung, dem Verwobensein mit unserer Kultur, in welcher der Cultus Deorum einen überaus bedeutsamen Stellen..wert einnimmt. Schon als Kinder sehen wir zu, wie unsere Eltern am Hausaltar opfern, wie unsere Väter Opfer zu Feiertagen oder besonderen Gelegenheiten darbringen, partizipieren an den öffentli'hen Feiertagen, manche nur beiwohnend, andere gar als Helfer, so dass die Götter und ihr Wesen uns alltäglich werden, wiewohl ihre Präsenz beinahe alle Bereiche des täglichen Lebens dur'hdringt und darob uns stets präsent ist."
Obgleich dies dem Parther allfällig hätte als Antwort genügt, so hatte er unwissentlich doch einen Themenbereich angeschnitten, der Gracchus' Neigung entsprach, so dass jener erläuternd fortfuhr.
"Weiters reicht im Grunde die Kenntnis über das Wesen der dii consentes aus - diese zwölf könnte man als unsere Hauptgötter bezei'hnen -, um in allen Belangen den rechten Namen anzurufen, sind doch beinahe alle anderen göttlichen Wesen diesen bei- oder untergeordnet. Es ist dies ganz similär zu unserer Gesellschaft - ein jeder Bürger weiß, dass zur Anzeige einer Straftat er an den Praetor sich muss wenden, doch kaum jemand, der nicht von Amtswegen sich beständig mit solcherlei muss ausein..andersetzen, kennt die genauen Aufgaben der Scribae und Liktoren, welche dem Praetor subsidiär zuarbeiten. Ebenso ist es für den Stadtrömer recht unnötig, die Götter der Winde oder des Ackerbaus zu kennen, wiewohl ein Seefahrer und ein Bauer sich ihrer Namen und Aufgaben zweifelsohne bewusst sind, um in ihre detaillierten Bitten sie einzubinden."
Beinahe war Gracchus nun abgekommen von Platons Gastmahl und hätte Cassims Antwort jegliche Frage nach Zuständigkeit, nach Art und Wesen nicht einzig immer wieder mit Ahura Mazda beantworten können, so hätte er unbezweifelt Freude daran gefunden, mit dem Sklaven die Tiefen des parthischen Pantheons zu ergründen - indes, ein monotheistisches Götzenbild schien ihm gänzlich unspektakulär, wenn nicht gar überaus ennuyant.
"So fahre fort im Text"
, forderte er Cassim darob auf, bereits in Vorfreude auf die zu erwartenden Reden, welche er durchaus wieder mit dem Parther würde vertiefen wollen. -
Im Grund war diese Erklärung ja ganz einleuchtend gewesen. Wer von Kindesbeinen an Anhänger dieser Religion war, wuchs hinein in den Glauben und dessen Kulte und wusste am Ende genau, wen er wann anzurufen hatte. Cassim nickte verständig. Gewissermaßen war die nicht anders, wie auch in seiner Kultur. Man begann als Kind die Religion der Eltern kennenzulernen und festigte sein Wissen über die Jahre, bis es zu einer Art Reifeprüfung kam, in der man zeigte, dass man nun den Alten ebenbürtig war.
Gewiss barg dieses Thema noch Möglichkeiten für endlose Diskussionen. Erst recht wenn man sich fragte, welche Religion wohl die bessere war. Obgleich man in diesem Fall auf keine objektive Antwort hoffen konnte, weder von dem Römer noch von dem Parther, denn keiner von beiden würde sich freiwillig vom Standpunkt, seine Religion sei die beste überhaupt, entfernen wollen.
Vom eigentlichen Thema, dem Symposion des Plato nämlich, war das Gespräch inzwischen weit abgeschweift, was es aber deswegen nicht uninteressanter gemacht hatte. Ganz im Gegenteil, dem Parther gefiel es, sich nach langer Zeit auch über diese Fragen des Lebens Gedanken zu machen. Es ließ ihn zeitweise sogar vergessen, was sein Los war. Wenn auch die Beziehung mit dem Römer niemals eine wahrhaft freundschaftliche sein konnte, so hegte er doch Sympathien für ihn.Schließlich genoss er noch einen kleinen Schluck vom verdünnten Wein, bevor es wieder die Schriftrolle ergriff und sein Augenpaar zu der Stelle führte, wo er stehengeblieben war. Was nun folgen sollte, war die Preisung des Eros durch den jungen Phaidros.
Damit waren denn auch alle anderen einverstanden
und verlangten dasselbe wie Sokrates. An alles
nun, was ein jeder redete, erinnerte sich schon Aristodemos
nicht mehr genau, und ich wiederum
nicht mehr an alles, was er mir erzählte; was aber
und wessen Rede mir am meisten bemerkenswert
erschien, diese Reden will ich euch einzeln berichten.
Zuerst also, wie gesagt, erzählte er, habe Phaidros
gesprochen und habe seine Rede ungefähr
damit begonnen, daß Eros ein großer Gott sei und
bewundernswert unter Menschen und Göttern sowohl
aus vielen andern Gründen, als auch namentlich
wegen seiner Herkunft. Denn daß er zu den ältesten
Göttern gehört, sprach Phaidros, gereicht
ihm zu einer besondern Ehre. Hierfür dient aber
dies zum Beweise: Eltern des Eros gibt es weder,
noch werden dergleichen bei irgend einem Schriftsteller
in gebundener oder ungebundener Rede erwähnt;
sondern Hesiodos sagt, zuerst sei das Chaos
gewesen,
... aber nach diesem
Ward die gebreitete Erd', ein dauernder Sitz den
gesamten
Ewigen...
Eros zugleich...
Er sagt also, diese beiden seien zuerst nach dem
Chaos entstanden, die Erde und Eros: Parmenides
aber schreibt von der zeugenden Urkraft:
Unter allen den Göttern zuerst ersann sie den Eros
Dem Hesiodos stimmt aber auch Akusilaos bei.
Von so vielen Seiten her stimmt man darin überein,
daß Eros einer der ältesten Götter sei. Als einer der
ältesten ist er uns aber zugleich Urheber der höchsten
Güter. Denn ich wüßte kein größeres Gut für
den Menschen gleich in seiner Jugend zu nennen,
als einen edelgesinnten Liebhaber, und wiederum
für den Liebhaber seinen Geliebten. Denn was den
Menschen, welcher sein Leben schön und würdig
zubringen will, durch sein ganzes Leben leiten
muß, das vermögen ihm weder Verwandtschaft,
noch Ehrenstellen, noch Reichtum, noch irgend
etwas anderes in dem Maße zu gewähren wie die
Liebe. Was meine ich aber damit? Die Scham vor
dem Schimpflichen und das wetteifernde Streben
nach dem Würdigen und Schönen; denn ohne diese
vermag weder ein Staat noch ein Einzelner Großes
und Schönes zu vollbringen. Ich behaupte nun
nämlich, daß ein Mann, welcher liebt, wenn er
dabei betroffen würde, daß er etwas Schimpfliches
täte oder von jemandem erlitte, indem er sich aus
Feigheit nicht dagegen verteidigte, keinen so
großen Schmerz darüber empfinden würde, von
seinem Vater oder seinen Freunden oder von sonst
jemandem dabei erblickt zu werden, als von seinem
Geliebten. Eben dasselbe sehen wir aber auch bei
dem Geliebten, daß er vor allem sich vor seinen
Liebhabern schämt, wenn er bei etwas Schimpflichem
erblickt wird. Ließe es sich daher ins Werk
setzen, einen Staat oder ein Heer aus lauter Liebhabern
und Geliebten zu bilden, so ist gar nicht zu
denken, wie ein Staat im Innern besser verwaltet
werden könnte, als wenn alle seine Bürger sich
alles Schimpflichen enthalten und im Wetteifer
zum Guten einander überbieten; aber auch im gemeinsamen
Kampfe würden die so Verbundenen,
selbst in geringer Zahl, ich möchte sagen, alle
Menschen besiegen. Denn ein liebender Mann
würde es gewißlich höher aufnehmen, von seinem
Geliebten erblickt zu werden, wie er aus den Reihen
wiche oder die Waffen wegwürfe, als von allen
übrigen Menschen, und würde einen vielfachen
Tod dieser Schande vorziehen. Oder gar den Liebling
zu verlassen und ihm nicht beizustehen in der
Gefahr, - so feige ist kein Mensch, den Eros selbst
nicht begeistern sollte zur Tapferkeit, so daß er
dem gleichkommt, der der Mutigste von Natur ist;
kurz, was Homeros sagt, daß ein Gott diesem oder
jenem Helden Mut eingehaucht habe, das gewährt
Eros den Liebenden allen.
Ja, sogar für einander zu sterben sind die Liebenden,
und nur sie, bereit, und zwar nicht bloß
Männer, sondern auch Frauen. Hiervon gibt auch
die Tochter des Pelias, Alkestis, ein hinreichendes
Zeugnis vor allen Hellenen zugunsten meiner Behauptung,
indem sie allein für ihren Mann sterben
wollte, da er doch Vater und Mutter hatte, welche
sie vermöge ihrer Liebe so sehr an Zärtlichkeit
überbot, daß sie dadurch jene ihrem Sohne fremd
und nur dem Namen nach angehörig erschienen
ließ. Und in der Tat schien sie denn auch hiermit
nicht bloß den Menschen, sondern auch den Göttern
ein so schönes Werk vollbracht zu haben, daß
diese, obwohl sie unter den vielen, welche viele
rühmliche Taten ausführten, doch nur einer geringen
Anzahl die Ehre gewährten, ihre Seele wieder
aus dem Hades zu entlassen, trotzdem die ihrige
entließen aus Bewunderung ihrer Tat. So ehren
auch die Götter den Eifer und die Tüchtigkeit im
Dienste der Liebe vor allem. Den Orpheus aber,
den Sohn des Oiagros, schickten sie unverrichteter
Sachen aus dem Hades zurück, indem sie ihm ein
Trugbild seines Weibes zeigten, um deretwillen er
kam, sie selbst ihm aber nicht gaben, weil es
schien, als habe er sich weichlich gezeigt - denn er
war ja ein Zitherspieler - und nicht den Mut gehabt,
für seine Liebe zu sterben wie Alkestis, sondern es
nur zu veranstalten gesucht, lebend in den Hades
zu kommen. Dafür bestraften sie ihn denn auch und
ließen ihn den Tod durch Weiberhand finden; wogegen
sie wiederum den Achilleus, den Sohn der
Thetis, hoch ehrten und ihn auf die Inseln der Seligen
versetzten, weil er trotz der Belehrung seiner
Mutter, daß er sterben müsse, wenn er den Hektor
tötete, während er nach der Heimat zurückkehren
und ein hohes Alter erreichen würde, wenn er ihn
nicht tötete, dennoch es kühnlich vorzog, als Helfer
und Rächer seines Liebhabers Patroklos nicht etwa
bloß für ihn zu sterben, sondern sogar dem Toten
in den Tod zu folgen. Deshalb bewunderten die
Götter ihn ganz besonders und ehrten ihn vor allen,
weil er seinen Liebhaber so hoch achtete. Aischylos
aber faselt, wenn er den Achilleus zum Liebhaber
des Patroklos macht, da doch der erstere viel schöner
war nicht allein als Patroklos, sondern auch als
alle anderen Helden, auch noch bartlos, dazu auch
viel jünger, wie Homeros bezeugt. In der Tat nämlich
ehren die Götter zwar überhaupt eine solche
Tugend im Dienste der Liebe aufs höchste; noch
höher jedoch bewundern und erheben und belohnen
sie es, wenn der Geliebte dem Liebenden, als wenn
der Liebende dem Geliebten sich anhänglich erweist.
Denn der Liebhaber ist göttlicherer Art als
der Liebling, denn er ist der Gottbegeisterte.
Darum ehrten sie auch den Achilleus höher als die
Alkestis, indem sie ihn auf die Inseln der Seligen
versetzten. So behaupte ich denn also, daß Eros
unter den Göttern der älteste und ehrwürdigste und
am meisten imstande sei, den Menschen zur Erwerbung
der Tugend und Glückseligkeit zu verhelfen
im Leben und im Tode... -
Gegensätzlich zu den Griechen hatten die Römer kaum langatmige Geschichten um ihre Götter gewoben, weder um deren Herkunft, noch deren Alltag zu erklären, stützen sich wenn so nur auf jene der achaiischen Vorfahren, gleichsam schien diese Erklärung der Entstehung der Welt - dass Erde und Liebesgott zugleich entstanden waren - durchaus sinnig, wenn sie auch nur eine von mehreren war, denn was stürzte den Menschen regelmäßig in Verzweiflung, wenn nicht die Welt in ihrer Art und die Liebe gleichermaßen? Als wäre dies ein Lehrstück über sein eigenes Leben hing Gracchus an des Phaidros' schönen Worten, an des Cassims schönen Lippen, nickte nur ab und an beiläufig, gänzlich ohne dessen sich bewusst zu sein, in Zustimmung der Thesen über die Stärke liebestrunkener Menschen, gleichsam ein wenig versunken in eigene Bitterkeit, denn so tief seine eigene Liebe auch je mochte gewesen sein, so tief hatte ihr diffuses, konturloses Ende ihn gestürzt, so verunsichert hatte sie ihn zurück gelassen über ihre letztlich wahrhaftige Intention, wiewohl über seine eigene diesbezügliche Tauglichkeit, welche kaum wohl je an diejenige eines Achilleus, nicht einmal eines Patroklos würde heranreichen können. Als der Parther zu einer kurzen Pause ansetzte, seine Kehle erneut zu befeuchten, kam Gracchus dem Weiterlesen abermals zuvor.
"In Parthia, ist es dort üblich - wie in Achaia zu Zeiten des Sokrates -, dass Männer offen ihresglei'hen lieben oder Frauen einander, oder ist das Ver..ständnis dessen similär zu unserer Kultur, in welcher homophile Beziehung leidlich geduldet und darob selten nur publik gelebt werden, oder aber ist wie in einigen der barbarischen Kulte sol'herlei gänzlich verpönt, dass nur Männer Frauen und vice versa zugetan dürfen sein?"
Es war diesmalig nicht einzig das wissbegierige Interesse an jener ihm so fremdartig erscheinenden Welt außerhalb der Grenzen des Imperium Romanum, welche zu dieser Frage ihn antrieb, sondern gleichsam Vorwand, Cassims diesbezügliche Akzeptanz auszuloten, denn obgleich er sich von Rechts wegen diesen Leib vor ihm würde nehmen können, wann immer ihm dies beliebte, so hatte der Parther doch einen anderen Stellenwert als alle übrigen Sklaven, so wollte Gracchus nicht nur den Leib, nicht nur eine Hülle, an welcher er sein Bedürfnis würde befriedigen können. -
So sehr der Parther Platons Symposion auch schätzte, kam ihm die Pause, die ihm durch die Frage des Flaviers gewährt wurde, sehr gelegen. So viel und so lange zu sprechen, war er einfach nicht gewohnt. Drum setzte er sogleich noch einmal den Becher an, um daraus zu trinken. Jedoch suchte sich die mundende Flüssigkeit den falschen Weg, was ihn zu husten veranlasste. Dies war beileibe kein Versehen. Vielmehr war es eine Reaktion, heraufbeschworen durch die delikat anmutende Frage des Gracchus.
Cassims Augenmerk waren auf den Römer gerichtet. Wie ertappt kam er sich vor, obgleich er sich nichts zu Schulden hatte kommen lassen. Niemals! Niemals? Vielleicht hatte er ein oder zweimal mit dem Gedanken gespielt, sich dieser Neigung auch nur ansatzweise zu nähern . Doch hatte er diesen verruchten Gedanken schnell wieder verworfen. Ein Ereignis jedoch, welches schon Jahre zurücklag und dessen er sich nur sehr ungern erinnerte, war ganz plötzlich wieder präsent. Einer seiner besten Jugendfreunde hatte sich dieser Neigung verschrieben. Schon als Jüngling hatte dieser ihn zu locken versucht, was er jedoch, bis auf dieses eine Mal abwehren konnte. Die jungen Parther hatten sich in ihrer Heimatstadt vergnügt, wobei auch reichlich Wein geflossen war. Völlig enthemmt waren sie sich näher gekommen. Der Freund hatte ihn geküsst. Doch bei einem Kuss war es an jenem Abend nicht geblieben...
Cassim selbst war in der Tradition seines Glaubens erzogen worden, die die gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern verurteilte. Obschon er alleine des Freundes wegen, diejenigen, die sie praktizierten, nicht verteufelte.
Während des Krieges hatte er in manchen Nächten lange wachgelegen , da er von Heimweh, insbesondere von Verlangen gepackt worden war. Wenn dieses Bedürfnis zu stark geworden war, hatte er durchaus mit dem Gedanken gespielt, sich die ersehnte Wonne anderenorts zu suchen. Jedoch war es ausgeschlossen, sich mit den eigenen Männern einzulassen, da sonst seine Autorität in Frage gestellt würde, so glaubte er. Und mit den gefangenen Römern, sofern er mit solchen in Berührung kam, hielt er ebenso für ausgeschlossen. Schlussendlich verwarf er diese schändlichen Gedanken wieder. Das Dilemma endete schlussendlich immer damit geendet, dass er selbst Hand an sich legte.
"Es... es wird nicht gern gesehen. Ähm, das Beisammensein mit den eigenen Geschlecht. Dennoch findet diese Neigung auch in Parthien Verbreitung. Zumindest unter den Männern." Ausgerechnet jetzt hatte er das Bild seines Jungendfreundes so deutlich vor Augen, wie seit Jahren nicht mehr. "Wie... äh, wie es unter den Frauen bestellt ist, kann ich nicht sagen." Sein letzter Satz versetzte ihn nun vollständig in Verwirrung, denn er veranlasste ihn zudem noch über die Frage nachzudenken, was seine eigenen Frauen wohl taten, wenn er fernab der Heimat war und er ihnen nicht beiwohnen konnte. -
Einem Episiten gleich lauerte Gracchus auf die Antwort des Sklaven, schlich gedanklich wie der Fuchs um den Kaninchenbau, um auf das erste Anzeichen von in Sicht kommenden Schnurrhaaren den Leib in Spannung zu versetzen, verbarg dies gleichsam hinter dem Verzehr einer Nuss, deren Bruchstücke lange noch zwischen seinen Zähnen wurden zermahlen als wäre wiederum dies Abbild seiner sich windenden Gedankenmühle. Die Thematik schien Cassim sichtlich unangenehm, obschon Gracchus nicht hätte sagen können, aus welchem Grunde genau, war es mit seiner Menschenkenntnis doch nicht weit her - gleichsam indes gefiel ihm dieser Anflug indignierten Sentiments überaus. Er war kein Mensch, der mit Freuden andere quälte - Sklaven aus seinem Haushalt, welchen solcherlei Schicksal war widerfahren, hatten dies stets aus der Hand seiner Verwalter erfahren, ganz ohne dass er selbst darüber sich bewusst war, was dabei geschah, wiewohl ihn dies, fern seiner eigenen Welt, auch nicht weiter tangierte -, gegenteilig stets um ein gewisses Maß an Harmonie war bemüht, doch den Parther aus seinem Bau zu locken, dies war Teil des Spieles der Jagd, welches die Vorfreude nurmehr steigerte - wiewohl Gracchus dessen sich sicher war, keinesfalls zu weit, zu aufdringlich in das Weltkonstrukt des Parthers einzudringen, hatte schlussendlich doch jener selbst Platons Gastmahl zur Lesung auserwählt. Ließ Cassims Aussage vermuten, dass jener selbst an dieser Neigung unter Männern hatte Teil gehabt? Wie sonst war zu erklären, dass bei seinem eigenen Geschlecht er dessen sich bewusst war, nicht jedoch bei den Frauen seines Landes - wenn doch von außen gesehen er schlussendlich unbezweifelt würde Blick auf beides hätte erhaschen müssen? Einen Augenblick schweiften Gracchus' Gedanken ab zu den Frauen Roms - obgleich er nicht Teil ihrer gleichgeschlechtlichen Neigungen war, so hatte er doch davon Kenntnis, dass solcherlei durchaus nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern Tatsächlichen lag. War dies nun als Beleg Cassims Unwissen oder dessen Teilhabe anzusehen?
"Obgleich wir noch nicht soweit vorangeschritten sind - du kennst Platons Gastmahl, weißt somit um dessen Ansi'hten, um die darin inhärenten Thesen der reinen Liebe zwischen Männern."
Er konnte spüren, wie die Spannung immer mehr sich um ihn herum verdichtete, greifbar beinahe sich um seinen Leib legte, griff indes statt fortzufahren in die Schüssel der mit Mandeln gefüllten Datteln, nahm sich eine Frucht und steckte sie der Länge nach halb zwischen die Lippen, umspielte sie einen Augenblick mit der Zunge, ehedem er sie mit einem leisen Schlürfen gänzlich in den Mund sog und verspeiste. Noch ein wenig länger zog er Raum und Zeit zwischen ihnen, indem er, ohne Cassim aus seinem Blick zu entlassen, zu seinem Becher griff und die Frucht mit einem Schluck Wein seine Kehle hinab spülte, einige widerspenstige Tropfen hernach mit der Zungenspitze von den Lippen leckte.
"Losgelöst von allen Kulturen, all den Zwängen, die sie uns aufer..legen, losgelöst von den Ansichten der Welt um uns herum - wie ist dein persönli'her Standpunkt?"
Letztlich war Gracchus doch stets ein schlechter Jäger gewesen - ein Fuchs, welcher den Hasen nur mit dessen Einverständnis wollte fressen, welcher sonstig lieber an Knospen und Gräsern knabberte, statt den Magen an einem sauren Braten sich zu verderben. -
Ein wenig überstürzt griff der Parther zu seinem Becher. Verwirrt über seine eigenen Gedankengänge, gepaart mit Konfusion der ganzen Situation, in der er sich, für seinen Teil doch recht plötzlich, befand, leere er den Rest seines Bechers in einem Zug. Unglücklicherweise blieb Gracchus´ Anweisung ob der Fortsetzung seiner Lesung aus. So gerne hätte er sich nun hinter Platons Worten versteckt, ohne dabei sein eigenes Antlitz preisgeben zu müssen. Cassim glaubte, alleine schon mit dem Gedanken an seinen Jugendfreund mehr über sich preisgegeben zu haben, als ihm eigentlich lieb war. Selbst denn, wenn er es sich immer wieder soufflierte, der Römer könne ganz ausgeschlossen keine seine Gedanken nicht lesen, fand er keinen Weg, er selbst zu sein und diese innere Anspannung einfach abzustreifen. Cassim suchte nach Auswegmöglichkeiten, sich all dem zu entziehen. Jedoch fand er sich immer wieder nur auf dem Präsentierteller liegend, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Eventualität zur Flucht gab es nicht, keine jedenfalls, die seine wiedererlangten Privilegien mit einem Schlag zunichte gemacht hätten. Es war gleich einem Spiel, welchem er sich in seiner frühesten Jugend mit besonderer Passion hingegeben hatte und auch in seinem späteren Leben, war das Jagen für ihn eine solche Passion geblieben. Der einzige Unterschied bestand nun darin, dass man die Rollen getauscht hatte. Ihm war nun die ungewohnte Rolle des Gejagten zuteil geworden. Fatal war nur, dass er darin keinerlei Erfahrungen hatte, wie das Rebhuhn sich fühlte, bevor es vom Fuchs gepackt wurde.
Der Flavier indes, so schien es anfangs, wollte wieder auf den vertrauten Pfad zurück kehren, und sich des platonischen Gastmahls auf rein literarischem Wege nähern, ganz so, wie es Cassim ursprünglich und fern jedes Hintergedankens geplant hatte. Temporär zeichnete sich auch Entspannung auf dem Parther ab. Wäre es nicht zu vermessen gewesen, so hätte er einmal tief durchgeatmet. Doch schon mit Gracchus´ Fortführung, verabschiedete sich dieses Gefühl wieder. Die Blicke der beiden Männer, des Herrn und seines Sklaven, trafen sich. Warum nur, beschlich es den Sklaven plötzlich, wie diese klebrig-süßsaftige Dattel zu sein, mit einem Mandelkern gespickt, die ganz genießerisch, auf den Höhepunkt wartend, zwischen Gracchus´ Lippen verharrte, bis sie in seinen Mund gesogen wurde,um dann verspeist zu werden? Um die Delikatesse noch abzurunden, goss er noch etwas Wein hernach, doch etwas hastig, wie sich herausstellte. Die lippenleckende Zunge des Römers und dann auch noch diese ominöse Frage nach Cassims Standpunkt waren es schlussendlich, die Cassims Körper anspannen ließ. Dies wäre nun die Gelegenheit für das Rebhuhn gewesen, den todbringenden Pranken des Fuchses zu entschlüpfen. Doch aufgrund seines Unvermögens, wusste der Parther seine Chance nicht zu nutzen. Was nun folgte, mochte jedem Außenstehenden als pure Eigennützigkeit erscheinen. Der Parther hatte an seinen neuen Privilegien Gefallen gefunden und war nicht willens, diese so schnell wieder zu verlieren. Drum wollte auch er auch seinem Herrn gefallen. Nicht dass er am Ende wie ein unattraktives Spielzeug in die Ecke geworfen wurde. Was der Preis dafür war, darüber mochte er sich nicht den Kopf zerbrechen. Der stolze Kataphrakt von einst existierte eh schon lange nicht mehr.
"Mein Standpunkt? Ich respektiere diejenigen, die dieser Neigung anhängen. Nichts was zwischen zwei Menschen geschieht, seien es nun Mann und Frau oder Mann und Mann ist unnatürlich, denn jeder von uns ist doch Teil der Natur." Mit dieser Aussage hatte sich Cassim sehr weit hinausgelehnt, mehr als er in früheren Zeiten gewillt gewesen wäre. Die Zeiten aber änderten sich. Einiges jedoch blieb, so die These, Angriff sei die beste Verteidigung. So griff er ebenfalls in die Schüssel mit den gespickten Datteln, nachdem er sich noch etwas Wein nachgeschenkt hatte und tat es dem Römer auf gleiche Weise nach.
"Anfangs war es für mich verwirrend, da es so divergent war, als der Beischlaf mit einem Weib. Doch als ich es zuließ, trieb es mich in schwindelnde Höhen. Dies liegt nun schon einige Jahre zurück. Doch ich erinnere mich noch genau daran. In diesen Dingen bin ich noch etwas unerfahren, du solltest Nachsicht mit mir haben und mir ein guter Meister sein." Die Mundwinkel des Parthers zogen sich dezent nach oben, während sein Blick dem des Gracchus weiter Stand hielt, ganz und gar nicht so, wie es für einen Sklaven gebührlich gewesen wäre. -
[size=7]audite: XI[/size]
Respekt war nicht ganz, was Gracchus in dieser Angelegenheit sich hatte erhofft, obschon mehr von einem Sklaven nicht zu erwarten war, so dass die tolerante Haltung Cassims vorerst suffizient schien. Was indes nach dessen einleitendem Satze folgte, das Eingeständnis des Parthers und schlussendlich die hofierenden, beinahe herausfordernden Worte, dies hatte Gracchus noch weitaus weniger erwartet, wiewohl es ihn regelrecht brüskierte. Während der Fuchs noch sich zierend, ein wenig verschämt gar, um das Versteck des Hasen herum streunte, hatte jener durch die Hintertüre das Silbertablett aus seinem Bau herausgetragen, eine schmackhafte Dekoration darüber ausgebreitet, sich vorteilhaft darauf platziert - Bauch und Kehle wollüstig präsentierend - und bot sich dem Episiten nun mit lockendem Pfiff. Hätte ein Fuchs allfällig die Gelegenheit zu solch einem mühelos gewonnenen Happen ergriffen und über den Hasen sich hergemacht, gab es just in diesem Augenblicke nichts, das Gracchus ferner lag - hatte Cassim mit seinem Angebot doch nicht nur um die Freude der Jagd ihn betrogen, sondern gleichsam Misstrauen und Verärgerung in seinem Herrn provoziert, lag es doch in Gracchus' Naturell, dass er misstrauisch allem gegenüber war, was ohne Mühe oder Pein ihm zu bereiten sich geradewegs darbot, dass er kaum nur je konnte annehmen, was auf einfache Art er würde bekommen oder erreichen können, wiewohl er auf jählings sich zeigende Überraschungen, insbesondere so sie ihm unangenehm schienen, gleichsam sich regelrecht attackiert fühlte und - eingedenk dessen, dass von einem Sklaven dies ausging - in diesem Falle Zorn in ihm aufwallte. Hätte einem anderen gegenüber er diesen Unmut allfällig hinter steinerner Fassade und einer Maske aus Nonchalance verborgen, in sich hinab geschluckt und mit bedeutungslosen Worten beiseite gewischt, so bedingte ein Sklave solcherlei Mühe nicht, so dass die noch eben vorhandene Begierde von einem Augenblicke zum nächsten in Widerwillen sich wandelte, das Verhältnis von Herrn zu Sklaven die angenehme Lesung überschattete, und in Gracchus' kühle, beherrschte Stimme ein gefährlicher Unterton sich schlich.
"Vergiss über deinen Hochmut nicht, was du bist. Wenn ich beschließe, mir deinen Leib zu nehmen, so werde ich dein Herr sein, nicht dein Meister, und Na'hsicht walten lassen nach meinem Gutdünken."
Schon drängte sich das Bedauern in Gracchus' empor, der Gram über die Ungerechtigkeit der Welt - ganz ohne das Bewusstsein, in diesem Falle seine Welt selbst sich gestaltet zu haben -, ob dessen er Cassim keinen Blick mehr schenkte, verdrießlich zu den Nüssen griff.
"Lies weiter!"
, dekretierte er, ehedem er eine Nuss verspeiste, seine Wut zwischen den Zähnen zu zermahlen suchte. -
Augenblicklich schwand der Anflug des Lächelns auf dem Antlitz des Parthers. Einem Tritt in die Magengrübe ähnelnd mochte es sich für ihn anfühlen, als er die Wortes des Flaviers vernahm, der ihn mittels scharfer Worte wieder dorthin verfrachtete, wohin er gehörte. Er war kein Gleicher unter Gleichen, auch nicht in der trauen Zweisamkeit des cubiculums seines Herrn. Er, der Sklave hatte sich über seinen Herrn erhoben, weil er sich selbst untreu geworden war. Sollte man dies als ein Glücksmoment für den Parther werten, dem es in letzter Sekunde dadurch erspart worden war, sich wie eine Hure selbst darzubieten, nur um der Gunst seines Herren willen? Auch wenn dies zugetroffen hätte, fühlte er sich nun getroffen in seinem Innersten und trat auch äußerlich den Rückzug an. Übereilt senkte er seinen Blick. Er war es nicht wert, länger seinen Herrscher schauen zu dürfen. Wie ein getretener Hund wähnte er sich, der einmal zu viel gebettelt hatte und an seinen Platz unter dem Tisch verwiesen worden war. Er empfand gegenüber sich selbst einen großen Widerwillen. Ekel, vor dem, was aus ihm geworden war. So groß war sein Empfinden, dass der Römer, der ihn gelockt hatte mit seinen verführerischen Anspielungen nicht einmal vordergründiges Ziel seines Golls wurde. Vielmehr gab er sich selbst die Schuld, unachtsam gewesen zu sein und fahrlässig, er der erfahrene Jäger, der er einst gewesen war. Blauäugig hatte er sich in die Falle locken lassen, wie ein ahnungsloser Nager, der sich vom Geruch des Specks hatte anziehen lassen. Die Gefangenschaft machte träge, sie ließ mit der Zeit die einst gestärkten Sinne verkümmern.
"Verzeih mir meine Vermessenheit, Herr!" Gepresst schienen die Worte zu sein, die um des Pardon willens ausgesprochen worden waren. Wie abgehackt war sein Griff nach der Schriftrolle, um des Befehls seines Herrn nachkommen zu können. Die Augen suchten die Stelle im Text, an der er die Lesung unterbrochen hatte. Weniger beschwingt und unbeschwert, wie er es zu Anfang getan hatte, nahm er die Lesung wieder auf:
So ungefähr, erzählte Aristodemos, habe die
Rede des Phaidros gelautet; nach Phaidros aber
seien einige andere Reden gefolgt, deren er sich
nicht mehr genau erinnerte; mit Übergehung von
ihnen teilte er mir daher die des Pausanias mit.
Dieser habe nämlich folgendermaßen gesprochen:
Nicht richtig ist uns, wie mich dünkt, lieber
Phaidros, so schlechthin die Aufgabe gestellt worden,
den Eros zu preisen. Denn wenn es nur einen
Eros gäbe, dann wäre dies freilich ganz in der Ordnung;
nun aber gibt es doch nicht bloß einen.
Wenn dies aber der Fall ist, dann ist es richtiger,
zuvor zu bestimmen, welchen man loben soll. Diesem
Mangel werde ich daher abzuhelfen suchen;
ich werde zuerst sagen, welchen man loben muß,
und ihn sodann auf eine Weise loben, wie sie des
Gottes würdig ist. Wir alle nämlich wissen, daß es
ohne Eros keine Aphrodite gibt. Gäbe es daher nur
eine Aphrodite, so würde auch Eros nur einer sein;
nun gibt es aber deren ja zwei: folglich muß es notwendig
auch zwei Eros geben. Wie sollte es nämlich
nicht zwei solcher Göttinnen geben? Die eine
ist ja die ältere und mutterlose, die Tochter des
Uranos, welche wir deshalb bekanntlich auch die
»himmlische« nennen; die jüngere aber ist die
Tochter des Zeus und der Dione, welche wir ja als
die »irdische« bezeichnen. Notwendigerweise muß
nun danach der Eros, welcher der Gehilfe der letzteren
ist, auch der »irdische« heißen, der andere
aber der »himmlische«. Freilich sind nun wohl alle
Götter zu preisen. Welche Aufgabe aber jedem von
beiden zuteil geworden ist, will ich auszusprechen
versuchen.
Mit jeder Handlung verhält es sich folgendermaßen:
keine ist an sich selbst schön oder verwerflich.
So zum Beispiel was wir jetzt tun, trinken oder singen
oder uns unterhalten, - nichts von dem allen ist,
an sich betrachtet, etwas Gutes und Schönes, sondern
es wird dazu erst durch die Art der Ausführung;
auf schöne und richtige Weise ausgeführt,
wird es zu etwas Schönem, im Gegenteil aber zu
etwas Verwerflichem. So ist es denn auch mit dem
Lieben, und nicht jeder Eros ist edel und einer Lobrede
würdig, sondern nur der, welcher uns antreibt,
auf eine schöne Weise zu lieben.
Der Sohn der irdischen Aphrodite nun ist auch in
Wahrheit irdisch, und es kommt ihm nicht darauf
an, was er wirkt, und er ist es, in dessen Sinne die
niedrigdenkenden Menschen lieben. Es lieben nämlich
solche zunächst ebenso gut Weiber als Knaben;
sodann aber an denen, welche sie gerade lieben,
mehr den Körper als die Seele; ferner lieben
sie die möglichst Unverständigen, indem sie nur
darauf sehen, zu ihrem Ziele zu gelangen, unbekümmert
darum, ob auf eine edle Weise oder nicht.
Daher begegnet es ihnen denn auch, hierin zu handeln,
wie es sich gerade trifft, bald gut und bald
umgekehrt. Es stammt ja dieser Eros auch von der
Göttin her, welche viel jünger ist als die andere und
in ihrer Abkunft sowohl am Weiblichen als am
Männlichen teilhat. Der andere aber stammt von
der himmlischen, die erstens nicht teil hat am
Weiblichen, sondern nur am Männlichen ( - und
von ihm stammt daher auch die Knabenliebe - ),
sodann auch die ältere und jeder Ausgelassenheit
fremde ist. Deshalb wenden sich denn auch die von
diesem Eros Beseelten dem männlichen Geschlechte
zu, indem sie das von Natur Kräftigere und Verständigere
lieben. Und man kann auch bei der Knabenliebe
selbst leicht die rein von diesem Eros Getriebenen
unterscheiden; denn sie lieben nicht Kinder,
sondern erst die, welche schon zu Verstande
kommen; dies fällt aber ungefähr mit der Zeit des
ersten Bartwuchses zusammen. Es sind nämlich
diejenigen, welche von diesem Zeitpunkte ab zu
lieben beginnen, wie ich meine, dazu entschlossen,
mit ihrem Geliebten für das ganze Leben vereinigt
zu bleiben und dasselbe gemeinsam mit ihm zu
verbringen und nicht trügerisch seine unverständige
Jugend zu überrumpeln und ihn dann hinterher zu
verlachen und in die Arme eines andern zu entfliehen.
Es müßte daher auch Gesetz sein, keine unreifen
Knaben zu lieben, damit nicht so viel Mühe
aufs Ungewisse hin vergeudet würde; denn bei den
Kindern ist es noch ungewiß, wohin ihre weitere
Entwicklung an Seele und Körper im Guten oder
Schlimmen zuletzt ausschlagen wird. Die Edelgearteten
nun legen sich zwar selber freiwillig dieses
Gesetz auf; man müßte aber auch den sinnlichen
Liebhabern dasselbe aufzwingen, so wie wir sie ja
auch nach Kräften zwingen, sich mit ihrer Liebe
von freigeborenen Frauen ferne zu halten. Denn
diese sind es auch, welche jene Schande über die
Knabenliebe gebracht haben, daß man es hat
wagen können, zu behaupten, es sei schimpflich,
seinen Liebhabern zu Willen zu sein. Man behauptet
dies nämlich nur im Hinblick auf diese und ihr
ungehöriges und unredliches Verfahren, da doch
wohl keine Handlung, wenn sie auf eine anständige
und rechtliche Weise ausgeführt wird, mit Recht
einen Tadel verdienen dürfte.
So ist auch die in bezug auf die Liebe herrschende
Sitte in andern Staaten leicht zu begreifen;
denn ihre Bestimmungen sind nur einfach; hier aber
und in Lakedaimon sind sie verwickelt. In Elis
nämlich und bei den Boiotern und überhaupt da,
wo die Leute nicht gewandt im Reden sind, da hat
es die Sitte einfach festgestellt, es sei schön, seinen
Liebhabern zu Willen zu sein, und keiner, weder
jung noch alt, dürfte es dort für schimpflich erklären,
damit sie, denke ich, bei ihrem Unvermögen
zum Reden sich nicht erst die Mühe zu machen
brauchen, die Jünglinge zu überreden. In Ionien dagegen
und an vielen anderen Orten, soweit die
Herrschaft der Barbaren reicht, gilt es für schimpflich.
Denn die Barbaren halten dies infolge der unumschränkten
Gewalt, mit der sie beherrscht werden,
für schimpflich, und ebenso das Streben nach
Ausbildung des Geistes und Körpers. Denn den
Herrschern, sollte ich denken, gereicht es nicht zum
Nutzen, wenn höhere Einsicht und feste Freundschaften
und Verbindungen unter den Beherrschten
entstehen, was vor allen andern Dingen die Liebe
hervorzurufen pflegt. Das haben durch die Tat auch
unsere einheimischen Gewaltherrscher erfahren;
denn die Liebe des Aristogeiton und die zur festen
Freundschaft gewordene Gegenliebe des
Harmodios stürzten ihre Herrschaft. Wo es daher
die Satzung als schimpflich festgestellt hat, dem
Liebhaber zu Willen zu sein, da liegt dies an der
niedrigen Gesinnung derer, bei denen sie es festgestellt
hat, nämlich an dem Eigennutz der Herrscher
und der Feigheit der Beherrschten: wo es aber ganz
einfach für löblich erklärt wird, da liegt es an ihrer
Geistesträgheit. Unsere hiesige Sitte ist dagegen
viel schöner, nur, wie gesagt, nicht leicht zu verstehen.
Denn man erwäge nur, daß es für schöner gehalten
wird, öffentlich zu lieben als heimlich, und
zwar vorzüglich die Edelsten und Besten, wenn sie
auch viel häßlicher sind als die anderen, und daß
ferner dem Liebhaber eine ganz ungemeine Aufmunterung
von allen zuteil wird, gar nicht als ob er
etwas Schändliches tue, und daß es für schön gilt,
den Geliebten für sich zu gewinnen, und für
schimpflich, ihn nicht zu gewinnen, und daß die
Sitte dem Liebhaber verstattet hat, zur Erreichung
dieses Zweckes unter allgemeiner Billigung wunderliche
Dinge zu begehen, die, wenn jemand sie
bei der Verfolgung und Ausführung irgend eines
anderen Zweckes in Anwendung bringen wollte,
die größten Vorwürfe einernten würden; denn wenn
er, um Geld von jemandem zu erlangen oder Ehrenstellen
oder sonstigen Einfluß, dergleichen tun
wollte wie die Liebhaber gegen ihre Geliebten, demütige
und flehentliche Bitten an sie zu richten,
ihnen Eide zu schwören, des Nachts vor ihren
Türen zu liegen und zu jedem sklavischen Dienste,
wie kein wirklicher Sklave, bereit zu sein: so
würde er von Freunden und Feinden hiervon zurückgehalten
werden, indem diese ihm Kriecherei
und knechtische Gesinnung vorwerfen, jene aber
ihn zurechtweisen und sich in seine Seele hinein
schämen würden; dem Liebenden aber steht dies
alles wohl an, und es wird ihm von der Sitte zugestanden,
dies ohne Schande zu tun, wegen der Herrlichkeit
des Zieles, welches er dadurch zu erreichen
sucht; was aber das Stärkste ist, so sind, wie man
wenigstens insgemein behauptet, seine Eidschwüre
die einzigen, deren Übertretung sogar von den Göttern
verziehen wird: denn ein Liebesschwur, sagt
man, sei gar keiner; so haben die Götter und Menschen
dem Liebenden alle mögliche Freiheit gestattet,
wie unsere hiesige Sitte besagt. Nach dieser
Seite hin möchte man demnach glauben, daß es für
schön in unserer Stadt gelte, zu lieben und den
Liebhabern sich zu befreunden. Sofern aber die
Väter durch die Erzieher, welche sie Ihren Knaben
geben, es verhindern, daß ihre Liebhaber mit ihnen
ein Gespräch anknüpfen, indem es dem Erzieher
zur Pflicht gemacht ist, hierauf zu sehen, sofern
überdies ihre Altersgenossen und Freunde sie
schmähen, wenn sie sehen, daß dennoch so etwas
vorkommt, und die Älteren diese hieran nicht hindern
noch ihnen vorhalten, daß sie mit Unrecht tadelten,
- wenn jemand dies andererseits ins Auge
faßt, dann möchte er wiederum glauben, daß dergleichen
hier für das Allerschändlichste gälte.
Es verhält sich nun aber, denke ich, hiermit so:
Auch dies ist, wie ich schon anfänglich bemerkte,
einfach, an sich betrachtet, durchaus weder schön
noch schändlich, sondern auf eine schöne Weise
ausgeführt, ist es schön, im Gegenteil aber schändlich.
Auf eine schimpfliche Weise geschieht dies
nun aber, wenn man einem Schlechten und auf eine
schlechte Art zu Willen ist, auf eine schöne Weise
dagegen, wenn einem Edelgesinnten und auf schöne
Art. Schlecht aber ist jener sinnliche Liebhaber,
welcher den Körper mehr als die Seele liebt. Denn
ein solcher ist auch nicht beständig, da er ja auch
nicht etwas Beständiges liebt; denn zugleich mit
dem Hinschwinden der Blüte des Leibes, welche er
liebte, eilt auch er von dannen und macht alle
seine Reden und Verheißungen zuschanden. Der Liebhaber eines edelgearteten Gemütes aber verharrt
zeitlebens, da er sich ja mit dem Bleibenden
verschmolzen hat. Unsere Sitte nun will, daß man
hiernach die Liebhaber wohl und reiflich prüfe und
nur denen der ersteren Art zu Willen ist, die der
letzteren aber meide. Darum ermuntert sie die Liebhaber
zum Verfolgen, die Geliebten aber zum Fliehen,
indem sie so im Kampfe richtet und erprobt,
zu welcher von beiden Gattungen der Liebende
sowie der Geliebte gehören. So wird es denn aus
diesem Grund zuvörderst für schimpflich gehalten,
sich schnell zu ergeben, damit es nicht an Zeit
fehle, welche ja am besten das meiste erproben
soll. Ferner gilt es für schimpflich, sich für Geld
oder aus Rücksicht auf den Einfluß im Staate zu ergeben,
gleichviel ob man nun dabei aus Furcht vor
Gewalttätigkeiten sich beugen und mutigen Widerstand
aufgeben oder aber im Hinblick auf Wohltaten
an Geld oder in der Unterstützung seiner politischen
Absichten nicht widerstreben möge. Denn
nichts von diesem allem kann als sicher und bleibend
angesehen werden, abgesehen davon, daß
hieraus nicht einmal eine hochherzige Freundschaft
entstehen kann. So bleibt denn nach unserer Sitte
nur ein Weg, wenn der Liebling auf eine schöne
Weise dem Liebhaber zu Willen zu sein gedenkt.
Wie es nämlich bei den Liebhabern nicht für Kriecherei
und Schmach galt, den Lieblingen jeglichen
Sklavendienst freiwillig zu erweisen, so bleibt nach
unserer Sitte nur noch eine einzige andere Sklaverei
übrig, welche keine Schande bringt, und dies ist die
um der Tugend willen.
Es herrscht nämlich bei uns die Ansicht, wenn
jemand einem andern dienen will, weil er durch ihn
in der Weisheit oder irgend einem andern Stücke
der Tugend fortschreiten zu können glaubt, daß
diese freiwillige Dienstbarkeit nicht schimpflich
und keine Kriecherei ist. Diese beiden in der Sitte
begründeten Ansichten, die über die Knabenliebe
und die über die Philosophie und sonstige Tüchtigkeit,
muß man daher in eins zusammenbringen,
wenn die Willfährigkeit des Geliebten gegen seinen
Liebhaber als etwas Löbliches erscheinen soll.
Wenn nämlich Liebhaber und Liebling beide einander
mit der gleichen Ansicht entgegenkommen:
jener, man leiste den Lieblingen, die einem zu Willen
sind, jeglichen Dienst, den man ihnen gewähre,
mit Recht, und dieser, daß man dem, welcher uns
weise und tugendhaft macht, zu jeder möglichen
Willfährigkeit verpflichtet sei, und zwar so, daß
dabei jener wirklich vermag, zur Weisheit und sonstigen
Tugend beizutragen, dieser aber auch wirklich
in Beziehung auf Bildung und Weisheit zu gewinnen
begehrt; wenn also dergestalt diese beiden
Seiten der Sitte in eins zusammentreffen. - dann allein
tritt der Fall ein, in welchem es löblich für den
Geliebten ist, seinem Liebhaber zu Willen zu sein,
sonst aber nimmer. Bei einer solchen Absicht ist es
auch nicht einmal etwas Schimpfliches, getäuscht
zu werden; bei jeder andern aber hat man Schande
davon, mag man nun getäuscht werden oder nicht.
Wenn zum Beispiel jemand seinem Liebhaber, weil
er ihn für reich hält, des Reichtums wegen zu Willen
ist und sich dann hinterher getäuscht sieht und
kein Geld bekommt, weil der Liebhaber sich als
arm erweist, so mindert diese Täuschung die
Schande nicht; denn ein solcher scheint, soviel an
ihm selbst liegt, zu erkennen zu geben, daß er für
Geld dem ersten besten sich zu jedem beliebigen
Dienste hergeben würde; dies aber ist nicht schön.
Aus demselben Grunde ist dagegen, wenn jemand
seinem Liebhaber zu Willen ist, weil er ihn für gut
hält und selber durch die Freundschaft mit ihm besser
zu werden hofft, und sich dann dabei getäuscht
sieht, indem sich zeigt, daß jener schlecht ist und
keine Tugend besitzt, dennoch diese Täuschung ehrenvoll;
denn es scheint wiederum auch dieser für
seinen Teil offenbart zu haben, daß er der Tugend
wegen und um besser zu werden einem jeden zu
jedem bereit wäre; dies ist aber wiederum das
Schönste von allem. So ist es denn in jedem Falle
schön, der Tugend wegen sich zu ergeben. Dies ist
die Liebe, welche von der himmlischen Göttin
stammt und selbst himmlisch und von hohem
Werte für den Staat wie für den Einzelnen ist,
indem sie den Liebenden zwingt, viel Sorgfalt auf
seine eigene Tugend zu verwenden, und ebenso den
Geliebten; alle andern Arten der Liebe aber entspringen
von der anderen Göttin, der irdischen.
Dies, lieber Phaidros, ist es, was ich dir aus dem
Stegreife über den Eros zu bieten habe. -
Die Entschuldigung des Sklaven würdigte Gracchus keinerlei Regung, würdigte den Sprecher keines Blickes mehr - weit weniger, um diesen zu strafen oder in seine Grenzen zu verweisen, als mehr da er selbst sich nicht in der Lage fühlte, dem sich bietenden Anblicke Stand zu halten. Die folgenden Worte nun schienen ihm monoton und ausdruckslos, obgleich der Parther augenscheinlich noch immer bemüht war, halbwegs betont zu lesen, alsbald indes hallten sie in seinen Sinnen wieder, als hätte Platon vor hunderten Jahren diese Zeilen nur darob festgehalten, ihm an diesem Tage, in diesen Augenblicken sein eigen Handeln vor Augen zu führen, welches von gar abominabler Güte war.
Mit jeder Handlung verhält es sich folgendermaßen: keine ist an sich selbst schön oder verwerflich. ... auf schöne und richtige Weise ausgeführt, wird es zu etwas Schönem, im Gegenteil aber zu etwas Verwerflichem. So ist es denn auch mit dem Lieben ...
War es verwerflich, den Sklaven zu begehren? War es verwerflich gewesen, ihn auf diese geradezu drängende Art und Weise verlocken zu wollen? Hatte er wahrhaft erwartet, der Parther würde einem Geliebten gleich agieren und nicht gleich einem Sklaven, welcher ohne eigenen Sinn und Willen dem Wunsche seines Herrn sich hingab, ohne eigene Emotion, ohne Glut und ohne Feuer, wie Sciurus dies beständig tat - genügend, der eigenen Gier zu entkommen, doch ungenügend, um zu lieben?
So wird es denn aus diesem Grund zuvörderst für schimpflich gehalten, sich schnell zu ergeben, damit es nicht an Zeit fehle, welche ja am besten das meiste erproben soll.
Er war zu schnell vorgegangen, und obgleich nicht er derjenige war, welcher sich hatte bedingungslos, übereilt allfällig ergeben, so war dies Verhalten Cassims doch einzig und alleine ihm anzulasten.
Es herrscht nämlich bei uns die Ansicht, wenn jemand einem andern dienen will, weil er durch ihn in der Weisheit oder irgend einem andern Stücke der Tugend voranschreiten zu können glaubt, dass diese freiwillige Dienstbarkeit nicht schimpflich und keine Kriecherei ist.
Gier war es gewesen, welche ihn hatte angetrieben, lustvolles Drängen, begehrendes Verlangen, doch nicht einmal der Schimmer einer Tugend, in welcher er suchte fortzuschreiten. Er hatte sich selbst beschämt vor Cassim, welcher nur Sklave war und doch gleichsam mehr, dessen Herkunft ihn empor hob über das willenlose Interieur, dessen Geist ihn auszeichnete in einem Meer aus Gleichgültigkeit.
"Genug"
, schnitt Gracchus dem Sklaven das Wort ab, ehedem jener zu dem Dialog des Eryximachos konnte fortschreiten.
"Wir werden dies ein andermal beenden." -
Es hatte kein Glanz mehr in seiner Stimme gelegen. Die Unbeschwertheit, mit der er Platons Worte wiedergegeben hatte, gehörte der Vergangenheit an. Nur noch der Abklatsch des Natürlichen hing seiner Stimme nach. Gekünstelt, gar gepresst kamen die Sätze. Jeder einzelne glich einer Marter, nicht nur für den Vorleser, auch für den Zuhörer durfte es sich ähnlich verhalten. Und eben dieser bereitete dem Ganzen ein abruptes Ende, nachdem er sich allzu lange die quälende Litanei hatte anhören müssen. Selbstzweifel plagten ihn, einen zu sehr gewagten Text ausgesucht zu haben oder einfach nur die Bemerkungen des Flaviers falschinterpretiert zu haben. Letztlich glaubte er doch zu wissen, sich zu sehr angeboten zu haben. Weniger war eben doch mehr, dies sagte auch schon das Sprichwort.
Cassim beendete sogleich seine Lesung. Entgeistert lenkte der Parther seinen Blick auf seinen Herrn, nicht nur um seiner Zukunft besorgt festzustellen ob dieser im Zorn sprach auch ein Fünkchen Wehmut lag darin, um der alten Zeiten willen, die für ihn längst vorbei waren und auch nicht wieder kommen sollten. Auch jetzt noch beschlich ihn jenes seltsam anrührende Gefühl, zwar erleichtert zu sein, sich nicht hergeben zu müssen und dennoch meinte er, etwas verpasst zu haben. Jenes seltsame Verlangen, welches er schon einmal im Krieg verspürt hatte, des nächtens, wenn er sich einsam gefühlt hatte. Diese Begierde, die zweifellos mitgeschwungen hatte, sie war jedoch nun vollkommen verebbt und der Beklommenheit gewichen war.
Verstört und unsicher rollte er die Schrift wieder zusammen, als ihm der Flavier eröffnete, die Lesung werde auf ein anderes Mal vertagt werden. Er war sich dessen nicht gewiss, ob auch er sich selbst nun entfernen sollte. Mit einem Unbehagen erhob er sich von der Kline.
"Wie du wünschst, Herr. Soll ich nun gehen?", sprach er dann und verneigte sich leicht, um hernach auf die Wünsche seines Herrn zu warten
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