cubiculum MAC | Schein oder Sein?

  • Es war der Abend nach Sivs Freilassung. Der Tag von Celerinas Rückkehr. Ich war am Morgen früh aufgestanden, weil ich ohnehin nicht mehr hatte schlafen können. Und überhaupt hatte ich kaum geschlafen in der Nacht, trotz des Weines nicht, den ich getrunken hatte. Eingekleidet hatten mich Dina und Sofia, die beide überaus stumm gewesen waren. Dann hatte ich einer Senatssitzung beigewohnt, anschließend Apollo ein kleines Opfer dargebracht. Als ich davon heimgekehrt war, hatte mich die Nachricht erwartet, dass Celerina inzwischen eingetroffen war, und nach unserem Gespräch hatte ich mich in meinem Arbeitzimmer mit unwichtigen Dokumenten und der ergebnislosen Prüfung von Gesuchen und Angeboten vergnügt. Die cena hatte ich erfolgreich und allein hinter mich gebracht. Und nun war es Abend, die Dämmerung war bereits vor einer Stunde der Nacht gewichen, und ich stand in meinem Schlafgemach und sah in die Dunkelheit hinaus. Der rechtsseitig gelegenen Verbindungstür zu Sivs Schlafkammer war ich mir so bewusst wie sonst selten. Ab und an hörte man ein leichtes Schaben durch den Türspalt, wie als ginge jemand auf und ab oder als schlage jemand eine Buchseite um. Oder tat etwas anderes. Ein mattes Leuchten quoll unter dem Türblatt hindurch und verriet zusätzlich zu dein kaum wahrnehmbaren Geräuschen, dass jemand anwesend war. Mein Zimmer hingegen war dunkel, und ich hatte von meinem Platz am Fenster schon beobachtete, wie der Tag allmählich zur Nacht wurde.


    Ich wollte es ihr sagen. Das wollte ich wirklich. Aber bewies es nicht ungeheure Schwäche, sie an mich zu pressen und ihr zu sagen, dass ich sie liebte? Und gerade jetzt, wo Celerina nach Hause gekommen war, wäre es erst recht falsch gewesen. Mehr noch als am Tag zuvor, wo ich es nicht gekonnt hatte.


    Mitten in meine Überlegungen hinein öffnete sich die Tür. "Oh. dominus, da steckst du. Es tut mir leid, ich hätte anklopfen sollen. Ich hätte nicht gedacht, dass du hier bist." Brix. Ich wandte mich um und sah ihn an. "Schon gut", erwiderte ich. Er trat ein und schloss die Tür. In der Hand hielt er ein Pergament. "Ich habe hier die Abschrift der Freilassungspapiere", sagte er dann und legte sie auf den Tisch neben eine halbvolle Karaffe Wein. "Ich wollte sie dir herlegen. Ich wusste nicht, ob du sie ihr geben oder selbst verwahren willst." Mein Blick folgte ihm. Ich sah dabei zu, wie er das Dokument auf das dunkle Holz des Tisches legte und mich dann anssah, als läge ihm sonst noch etwas auf dem Herzen. "Und?" fragte ich daher und hob die Brauen. "Und... Ich wollte dich fragen, was mit ihr wird. Ob sie hier bleiben wird", sagte Brix und beobachtete mich. "Das ist ihre Entscheidung", erwiderte ich eine Spur zu schnell, und Brix hob eine Braue um eine Spur, was ich ob der Lichtverhältnisse nicht sah. "Ich nehme an, sie wird ein eigenes Zimmer bekommen? Ein größeres, meine ich. Zumindest bis zur Niederkunft... Du kannst sie in diesem Zustand nicht fortschicken, dominus. Sie würde es nicht schaffen, von dem Kind einmal abgesehen." Brix' Stimme war zwar leise, doch nachdrücklich. Ich starrte ihn einen Moment lang an, wandte mich dann mit einer ärgerlichen Geste ab. "Gib ihr ein Zimmer, wenn sie das will. Ich werde sie nicht hinauswerfen, sie kann bleiben, wenn sie das möchte. Das weiß sie!" fauchte ich. Brix erwiderte nichts. Und kurz darauf hörte ich, wie die Tür leise ins Schloss fiel.


    Ich schalt mich in Gedanken einen Narren. Warum brachte es mich derart aus der Bahn, darüber nachzudenken? Allmählich begann ich, Campanien doch als eine gute Alternative zu sehen. Vielleicht würde es mir gelingen, all das hinter mir zu lassen, zumindest für ein paar Tage? Ich stand wieder am Fenster und sah hinaus. Von einem Ast starrten kurz zwei goldgelbe Augen zurück, dann raschelte es und der Uhu flog davon in die kalte Nacht.



    - Ein Zimmer weiter -


    [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Eine Tür weiter stand Brix im Gang und überlegte. Weder Siv noch der Hausherr sahen besonders glücklich aus während der letzten Tage. Und Wochen. Wenn er es sich recht überlegte, wann hatte Siv dann zum letzten Mal glücklich auf ihn gewirkt? Brix war ein Mann, der seine Pflichten ernst nahm. Und dazu gehörte, für einen reibungslosen Ablauf der häuslichen Abläufe zu sorgen. Allerdings hätte er auch an Sivs Tür geklopft, wenn er nicht der maiordomus gewesen wäre. Denn er war Germane und ein lebenslustiger Mensch, und außerdem mochte er Siv. Deswegen klopfte er an ihre Tür. "Siv?" fragte er leise.

  • Siv war heute wieder im Stall gewesen, so wie gestern schon. Und als sie dann zurückgegangen war ins Haus, war sie möglichst unauffällig und so schnell wie möglich zu ihrer Kammer gegangen, nur um ja niemandem zu begegnen. Ob Corvinus in seinen Gemächern war, wusste sie nicht, und sie war sich auch gar nicht sicher, ob sie das wissen wollte. Wäre er da, wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Hineingehen? Ihn darauf ansprechen, zur Rede stellen? Oder einfach nur… bei ihm sein? Oder ganz ignorieren? Sie wusste es nicht. Also war es besser, gar nicht erst herauszufinden, ob er da war oder nicht. Sie entzündete eine Öllampe, die den Raum in warmes Licht tauchte, und vergrub sich in ein Buch – nicht in das, das Corvinus ihr geschenkt hatte –, stand zwischendurch auf und ging herum, streckte sich, weil sie inzwischen nicht nur vom Stehen Fußschmerzen, sondern auch vom Sitzen Rückenschmerzen bekam.


    Als sie von nebenan dann plötzlich Geräusche, gedämpfte Stimmen hörte, tat sie ihr Bestes, um das zu ignorieren. Um zu ignorieren, was es hieß: dass er da war. Siv starrte auf das Pergament und versuchte, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren, aber plötzlich schienen sie keinen Sinn mehr zu ergeben, und ihre Gedanken begaben sich wieder auf Wanderschaft, dorthin, wo sie heute Nachmittag schon gewesen waren. Sie konnte doch nicht ernsthaft Sklavin sein wollen. Und trotzdem… sie konnte nicht mehr leugnen, nachdem ihr das einmal klar geworden war, dass es einfacher wäre für sie. Einfacher, hier zu bleiben. Sie müsste sich keine Gedanken machen. Sie hatte sich ihre ganze Zeit hier keine Gedanken machen müssen. Sie hatte sich aufregen können über Corvinus, wenn er wieder… so war, abweisend und zurückhaltend und kühl, und das häufig ohne zu sagen warum, aber sie waren sich dann einfach ein paar Tage aus dem Weg gegangen, und dann war es wieder gut gewesen. Sie hatte sich darüber aufregen können, aber sie hatte sich nie überlegt, ob sie das wirklich aushalten wollte. Hatte es sich nicht überlegen müssen… Und das war jetzt anders. Sie konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen, als hätte sich nichts geändert, als könnte sie jetzt nicht – endlich! – wieder über sich selbst entscheiden.


    Mitten in diese Gedanken hinein klopfte es auf einmal an ihre Tür. Im ersten Moment erstarrte Siv, so sehr, dass sie beinahe wie eine Statue wirkte – bis sie realisierte, dass das Geräusch nicht von der Verbindungstür gekommen war, sondern von der zum Gang. Und dass die Stimme nicht Corvinus’ war, sondern Brix’. Etwas mühsam hievte sie sich erneut vom Bett hoch und ging hinüber, um die Tür zu öffnen, und als sie tatsächlich den großen Germanen davor stehen sah, lächelte sie leicht. "Hey. Magst du reinkommen?" Siv sprach, ohne zu überlegen, Germanisch. Das hatte sie mit Brix immer schon. Sie machte einen Schritt zur Seite, um ihn herein zu lassen, dann schloss sie die Tür leise und drehte sich zu ihm um. Obwohl sie und er inzwischen gute Freunde waren, hatte sie das Gefühl, dass er diesmal nicht einfach nur so vorbei gekommen war. Schon allein, weil sie sich seit gestern – also seit der Freilassung – noch nicht begegnet waren. "Was gibt's?"

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Brix lächelte zurück, ehe er eintrat und sich zu Siv umwandte. Er beobachtete sie, wie sie, hre Kugel vor sich her schiebend, die Tür schloss und sich dann zu ihm drehte. Auf ihre wie immer kecke Frage hin musste er schmunzeln. Er hob die Hand, kniff ich sanft in die Wange und zwinkerte ihr zu. "Eigentlich nichts. Ich wollte nur mal nach dir sehen... Und dir gratulieren. Ich hab Corvinus gerade die Urkunde gebracht. Herzlichen Glückwunsch Siv." Brix war nicht neidisch oder sogar sauer, weil Siv, die ja viel kürzer in Gefangenschaft gewesen war als er selbst, nun viel eher die Freiheit erlangt hatte. Nun, Brix war auch nicht dumm. Deswegen war er der maiordomus geworden. Auch wenn es keiner von beiden jemand gesagt hatte, so wusste er dennoch, dass Siv und Corvinus mehr verband als nur das Verhältnis zwischen Sklave und Herr.


    Er umarmte Siv kurz und ließ sich dann auf dem kleinen Schemel nieder, der neben dem Bett stand. "Komm, setz dich wieder. Ich möchte nicht der Grund für eine verfrühte Geburt sein", scherzte er und deutete auf das weiche Bett. "Tja. Nun bist du frei. Was machst du als erstes?" fragte er sie.

  • Brix war einer wenigen Menschen in der Villa, von dem Siv die Glückwunsche annehmen konnte – und sich sogar darüber freuen. Vermutlich weil er einer der wenigen war, der es einfach nur ehrlich meinte, ohne jede Hintergedanken. Oder Erwartungen. Dennoch blieb ihr Lächeln ein eher stilles. "Danke, Brix." Sie beobachtete, wie zu dem Bett ging und sich auf den Schemel setzte, und lachte dann leise. "Oh, mach dir keine Gedanken. Ich kann eh nicht lange sitzen bleiben, nicht im Moment." Trotzdem kam sie zu ihm hinüber und setzte sich ebenfalls hin, auf die Bettkante, die Beine leicht gespreizt, damit ihr Bauch Platz hatte. Als sie die Hand darauf legte und einen leichten Tritt spürte, fiel ihr auf, dass sie noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, Corvinus das zu erzählen. Es ihm zu zeigen. Ihn selbst spüren zu lassen… Sie schluckte mühsam, bevor sie den Gedanken verdrängte und wieder ein Lächeln für Brix aufsetzte. Das sofort verschwand, kaum dass der andere Germane zu Ende gesprochen hatte. Siv blinzelte kurz, einmal, zweimal. "Ich…" Sie stockte, zögerte. "Ich weiß es nicht", meinte sie dann, mit einer merkwürdig tonlosen Stimme.

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Brix war ein guter Beobachter. Und Siv sah ziemlich fertig aus. Ihm entging das nicht, und sicherlich entging Siv ihrerseits nicht seine besorgte Miene. "Du gibst doch gut auf dich acht, ja?" ermahnte er sie und zwinkerte ihr zu.


    Dann musste er lachen. Es war ein gutmütiges Lachen, das allmählich verebbte, als Brix gewar wurde, dass Siv das tatsächlich ernst gemeint hatte. Und das nicht, weil sie sich nur nicht entscheiden konnte. Ein besorgtes Runzeln fand abermals Platz auf seiner Stirn, als er sich vorlehnte und ihre Hände einfing. "Das meinst du tatsächlich ernst, nicht wahr?" sagte er. "Weißt du, wenn ich frei wäre, dann wüsste ich nicht, ob ich bleiben oder gehen sollte. Nach Hause..." erzählte er ihr. "Manchmal glaube ich, dass sie zu Hause ohne mich besser dran sind. Dass sich alles verändert hat. Ich würde die Menschen hier vermissen. Und ich wüsste nicht, ob ich es wollen würde, dass mich alle anstarren wie eine Ausgeburt Hels, nur weil ich damals nicht schnell genug war, als die Römer kamen." Brix sah auf und lächelte Siv leicht an. Dann ließ er sie los und lehnte sich zurück.
    "Ich weiß, warum du rastlos bist", sagte er.

  • Sivs Lächeln wankte ein wenig, als sie sah, wie besorgt Brix’ Miene für einen Moment wurde. Sie war noch nie gut darin gewesen, anderen etwas vorzuspielen, und sie hatte das auch in ihrer Zeit in Rom hier nie gelernt. Und auch ihre Reaktion darauf, angesprochen zu werden auf ihre Stimmung, war noch ähnlich wie früher – sie mochte es nicht wirklich, weil sie sich dann so… hilflos fühlte. "Ehhh… ja." Ihr Lächeln wurde etwas schief. "Natürlich tu ich das. Hab ich doch immer."


    Danach dann, als sie gestanden hatte, dass sie keine Ahnung hatte was sie tun sollte, fing Brix erst mal an zu lachen. Und Siv sah auf ihre Hände hinunter. Sie wusste, dass sie jetzt einstimmen sollte in das Lachen, irgendetwas lockeres sagen, irgendetwas in die Richtung, dass es so viel zu tun gäbe jetzt… dass das das Einzige wäre, womit sie wenigstens die Chance hatte, ihn abzulenken von ihr, zu verhindern dass er erkannte, was sie gerade umtrieb. Aber sie konnte es nicht. Sie brachte es nicht fertig. Und so saß sie einfach nur da, bis das Lachen leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Gleich darauf ergriff Brix ihre Hände. Zögernd sah sie auf. "Ja", antwortete sie leise und verstummte dann wieder, als Brix weitersprach. Sie blinzelte wieder leicht, und ihr Blick schien plötzlich in die Ferne zu gehen. Sie erinnerte sich daran, wie sie das letzte Mal in Germanien gewesen war. Was sie geträumt hatte. "Ich weiß nicht, ob sie ohne mich besser dran sind. Oder dass sich alles verändert hat. Aber ich glaube… ich hab mich verändert. Vielleicht zu sehr. Ich weiß nicht, ob sie mich noch… erkennen würden." Siv schwieg einen Moment und starrte wieder auf ihre Hände, die noch immer in denen von Brix’ lagen. Dann war da noch das Kind. Das Kind, dessen Vater Römer war, was man ihm in Germanien mit Sicherheit auch ansehen würde. Und dann war da noch die winzige Kleinigkeit, dass sie… eigentlich… gar nicht gehen wollte. Dass sie, eigentlich, nichts lieber wollte als zu bleiben – vorausgesetzt, Corvinus wollte das auch. Das Problem war, dass das nicht der Fall zu sein schien. "Ich würde auch einige vermissen, hier. Dich zum Beispiel." Sie schluckte erneut, starrte weiter auf ihre Hände, die Brix nun losließ, bevor er sich zurücklehnte. Einen Moment lang musste sie Tränen fortblinzeln, bevor sie es für sicher hielt, wieder aufzusehen. Sie brachte sogar ein vages Lächeln zustande. "Ach ja? Warum denn?"

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    "Ach Siv", beklagte sich Brix nun. "Du musst einmal deine Augen aufmachen. Soweit du mich fragst, will hier keiner, dass du deine Sachen packst und gehst. Das Schöne ist, dass du auf keinen mehr Rücksicht nehmen musst. Wenn du gehen willst, dann gehst du. Und wenn du bleiben willst, dann bleibst du eben. So einfach ist das. Störe dich nicht an dem Geschwätz von Dina und Sofia und den anderen. Die sind neidisch, aber die kriegen sich schon wieder ein. Genau wie damals, als das mit Matho war und du Leibsklavin geworden bist." Brix lächelte ihr aufmunternd zu, sah dann wieder fort. "Wir verändern uns doch alle mit der Zeit. Und gerade unsereins verändert sich. Deine Umwelt verändert dich, deine Mitmenschen verändern dich, deine Arbeit tut es, Routine tut es... Und die Liebe tut es auch." Brix sah Siv kurz an und blickte dann wieder auf seine Hände hinunter. Er hatte nur das Lächeln gesehen, nicht aber die Tränen. "Es ist seins", sagte er nur.

  • Siv war fast ein wenig betroffen, als Brix plötzlich einen Schwall Worte von sich gab. "Ich…" Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Dass im Grunde keiner wollte, dass sie ging. Dass sie nicht auf das Geschwätz hören sollte. Dass sie entscheiden konnte… Siv unterdrückte ein Seufzen. So schön es war von ihm zu hören, dass zumindest er – und wohl einige andere auch, das zumindest glaubte sie auch – nicht wollte, dass sie ging, sprach er doch zugleich auch das eigentliche Problem an. Ja, sie konnte entscheiden, und genau das war der Punkt. Wie konnte sie denn bleiben wollen, wenn sie dafür sämtlichen Stolz begraben musste, denn sie sich während ihrer Sklaverei bewahrt hatte? Wollte sie das – hier bleiben wegen einem Mann, der nicht aussprechen konnte, dass er sie wollte, dass sie blieb? Dass er sie wollte? Oder der, im schlimmsten Fall, sie überhaupt nicht wollte, nicht auf die Art, die sie angenommen hatte, nicht auf die Art, in der sie ihn wollte – auch wenn sie wusste, dass das nicht möglich war? So viele Fragen. Siv hatte das Gefühl, als ob ihr ganzes Leben seit gestern nur noch aus Fragen bestand.


    Brix’ Augen und seine nächsten Worte fesselten sie, hielten ihren Blick fest – aber als er von Liebe und dann von dem Kind anfing, wandte Siv ihn doch ab. Starrte wieder auf ihre Hände. Blinzelte Tränen weg. "Ja." Ihre Stimme zitterte leicht, und ihre Hände pressten sich auf ihren Bauch. "Natürlich. Von wem sonst?" Sie sah kurz auf und ihm in die Augen, dann starrte sie wieder nach unten. "Ich… Weißt du, ich… Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich meine, jetzt wo ich frei bin… Vielleicht… Ich, ich werd den Gedanken einfach nicht los, dass es… vielleicht besser wäre… zu gehen. Ich meine, ich…" In einer trotzigen Bewegung, die verblüffend an früher erinnerte, wischte sie sich mit dem rechten Handballen über ihre Wange, knapp unterhalb des Auges, wo eine verräterische Träne sich hatte herausstehlen wollen "Ich würd gern bleiben, aber… Ich weiß es nicht."

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Während der nächsten paar Augenblicke schien Siv mit sich selbst zu hadern. Diesmal sah Brix, dass sie den Tränen nahe war. Er beschloss, darauf nicht einzugehen. Zumindest jetzt hätte sie das sicher als unangenehm empfunden, aber er wäre da, wenn sie Trost brauchte, und sie wusste das. Brix senkte den Kopf ein wenig, sah dann aber nach oben, was ihn durchaus und nicht zuletzt wegen der vielen Falten Schulmeisterhaft wirken ließ. "Ich sollte dazu nichts sagen. Vieleicht steht er gerade hinter der Tür und hört alles, was ich von mir gebe. Ich habe keine Ahnung, was da zwischen euch ist, aber ich sehe, dass es euch beiden nicht gut geht. Er war schon lange nicht mehr so gereizt wie in der letzten Zeit. Ich hüte mich, da nachzufragen. Aber dich kann ich fragen, auch wenn es mich eigentlich gar nichts angeht." Brix seufzte leise und kratzte sich dann seitlich am Rücken. "Und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Mir genügen schon die Gerüchte, die im Haus kursieren. Ich muss nicht alles wissen. Aber was ich weiß, ist dass er dich sicherlich nicht freigelassen hat, weil er dich loswerden will. Da hätte er dich auch zu Fhionn und den anderen nach Sardinien auf die Plantage schicken können. Und dabei hätte er nicht mal einen Verlust gemacht." Birx sah aufmerksam zu der Zwischentür hin. Im anderen Raum war es still, aber das war es auch gewesen, bevor er dort hinein gegangen war.


    "Naja. Du willst mir aber doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du mit diesem Bauch da nach Norden gehen willst", fuhr er fort und deutete dabei auf Sivs Ausmaße. "Wenn du es hier gar nicht mehr aushältst, sagst du mir bescheid. Dann finden wir etwas, wo du unterkommen kannst. Aber in Rom, nicht irgendwo im Wald zwischen Germanien und hier", sagte er tadelnd.

  • Froh darüber, dass Brix ihre Tränen ignorierte, sah Siv ihn nun doch wieder an. Dass Corvinus in letzter Zeit gereizt war, das hatte auch sie gemerkt – aber dass es ihm nicht gut ging, das war ihr nicht so bewusst geworden. Nicht wirklich. Dafür war es ihr selbst in letzter Zeit selbst nicht gut genug gegangen. Und selbst wenn… die Verbindungen, die sie herstellte, waren nicht immer die richtigen – und wie sollten sie es auch sein, wo Corvinus doch jedes Mal, wenn sie über dieses Thema sprachen, darauf hinwies, wie schwierig es für ihn war? Wie falsch es war? War es da verwunderlich, dass Siv davon ausging, es ging ihm deswegen schlecht, und nur deswegen – weil er seiner Frau kein guter Ehemann war, weil er als Römer und Senator, als Mann von Stand keine… kein… was auch immer mit einer Sklavin haben sollte? Auf Brix’ Worte, dass Corvinus sie hören könnte, zuckte sie nur mit den Achseln. Ein Teil von ihr hoffte fast, dass er es tat, und dass er hereingestürmt kam und etwas sagte oder ihretwegen auch gleich los brüllte, weil sich dann wenigstens etwas getan hätte. Es wäre etwas passiert. Sie könnte zurückbrüllen. Sie könnte ihm an den Kopf werfen, was ihr so zu schaffen machte. Sie könnte… Sie zuckte noch mal mit den Achseln. Sie bezweifelte, dass Corvinus noch genug von ihren Germanisch-Stunden damals wusste, um zu verstehen, was Brix und sie hier sprachen. "Ich kann es nicht ändern. Und ich kann ihn nicht ändern. Und ich kann es auch keinem leichter machen, mir nicht und ihm auch nicht", erwiderte sie leise. "Das heißt, ich könnte es. Ich könnte gehen", fügte sie dann bitter an. Sie presste die Lippen aufeinander. "Bitte, Brix, glaubst du denn, er würde mich auf seine Plantage schicken, wenn ich sein Kind trage? Wenn schon sonst nichts, dann bedeutet wenigstens das ihm etwas. Auch wenn ich nicht weiß, was."


    Sie holte tief Atem. Nein. Hochschwanger, wie sie war, konnte sie nicht nach Germanien gehen, das wusste sie. Sogar sie, die häufig eher zu Leichtsinn, oder eher: Risikofreudigkeit tendierte, wusste, dass sie für seine solche Reise ganz sicher nicht im richtigen Zustand war. Nicht jetzt. "Nein, das nicht. Aber es kann nicht mehr allzu lange dauern, bis das Kind da ist." Wieder strichen ihre Finger in einer unbewussten Geste über ihren Bauch. "Was soll ich denn in Rom, Brix? Du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich hier verloren bin. Es läuft nur so gut, weil ich hier bin, in der Villa, weil ich es seit Jahren gewohnt bin und weil es hier Platz gibt und den Garten und dich und die anderen und… und ihn…" Wieder holte sie tief Luft. Wie oft hatte sie in den ersten Monaten hier wach gelegen, weil sie sogar in der geräumigen Villa das Gefühl gehabt hatte, die Wände würden sie erdrücken? Wie oft hatte sie nur schlafen können, wenn sie in den Garten gegangen war – oder wenn sie die Nacht bei ihm, in seiner Gesellschaft, hatte verbringen können? "Aber Rom? Jeder Wald wäre mir lieber. Ich weiß, dass ich mittlerweile zu verweichlicht bin, um jetzt direkt im Winter zu überleben, schon gar nicht mit einem Kind, aber das ist nichts, was sich nicht auf Dauer wieder ändern ließe."

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Brix begann, mit dem Kopf zu schütteln. "Ach Siv", sagte er und seufzte dann tief. Er hatte eigentlich keine Lust, sich da nun hineinzuhorchen. Nicht, weil es ihn nicht interessiert oder weil er Siv nicht mochte, sondern weil er hier bleiben und weiterhin arbeiten musste, vorbehaltlos, und weil ihm das vielleicht nicht mehr möglich war, wenn er mehr von allem wusste, was Siv umtrieb. "Und im Norden, was da? Bist du da weniger verloren?" fragte er sie, winkte dann aber ab. "Ich weiß nicht, was ich machen würde. Und ich kenne mich ja nun einmal besser als dich. Deswegen kann ich dir auch nichts raten. Ich kann dich nur bitten, keine Dummheiten zu machen." Brix zog eine Grimasse. "Eigentlich bin ich gar nicht her gekommen, um die Vorwürfe zu machen. Oder um dich zu belehren. Ich wollte dich nur fragen, ob es dir gut geht, ob du etwas brauchst und welches der freien Zimmer du haben möchtest. Unter uns gesagt: Das im Südflügel würde ich nicht nehmen, nebenan wohnt dieser Livius Pyrrus", sagte er zu ihr und schmunzelte.

  • Hätte Siv nicht einen mittlerweile beachtlichen Bauch, wäre sie aufgesprungen – so aber wurde nur wieder ein unelegantes Hieven daraus, das aber trotzdem verblüffend schnell vonstatten ging. Sie hielt es nicht mehr aus, still zu sitzen, diesmal nicht weil ihr der Rücken weh tat, sondern weil sie das Gefühl hatte, platzen zu müssen, wenn sie noch länger tatenlos blieb. Sie konnte nicht sagen, ob Brix tatsächlich verstand, was sie meinte, aber er ging auf ihre Worte nicht allzu sehr ein, und Siv war niemand, der sich aufdrängte. Sie ging zu dem kleinen Fenster hinüber, drehte sich dann um und sah Brix an. "Ja, das denke ich. Nicht was die Menschen betrifft, aber das Zurechtkommen. Das Überleben. Wenn ich hier ausziehe und irgendwo in Rom… unterkomme… ich wüsst ja noch nicht mal, wie ich hier meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte." Sie lehnte sich an die Fensterbank, senkte ihren Blick und starrte auf den Boden. "Ich weiß es doch auch nicht." Sie sollte keine Dummheiten machen. Als ob sie wirklich danach entscheiden würde, was dumm war oder nicht. Als ob sie jemals danach entschieden hätte. Ihre Gefühle, egal ob es nun Trotz war oder Wut oder… Liebe… waren schon immer stärker als ihr Verstand gewesen. Ihr Kopf wandte sich zur Seite, so dass ihr Gesicht für Brix nun im Profil zu sehen war, und sie blickte hinaus, in die Dämmerung, die mittlerweile so weit fortgeschritten war, dass es eigentlich schon fast Nacht war. Sie hatte es gesagt. Eigentlich wollte sie bleiben. Eigentlich… wenn es nur so einfach wäre…


    Und dann, plötzlich, schnellte ihr Kopf wieder zurück. Sie starrte Brix an. "Wie… was? Ein Zimmer?" Sie war davon ausgegangen, dass sie hier bleiben würde, in diesem Zimmer. Dass sie hier bleiben konnte. Immerhin war das das Praktischste, oder nicht? Sie würde doch weiterhin ihren Tätigkeiten hier nachgehen, für Corvinus da sein, ihm helfen, ihn begleiten… Sie hatte gedacht, wenn sie hier blieb – wenn sie sich dafür entschied, tatsächlich –, würde sich nicht großartig etwas an ihren Aufgaben ändern. Hieß ein anderes Zimmer auch andere Arbeit? Oder… Siv presste die Kiefer aufeinander. Wenn, falls, sie sich entscheiden sollte zu bleiben, dauerhaft, dann weil sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie es aushalten würde – dass die wenigen glücklichen Stunden, die sie mit Corvinus hatte, alles andere wert war, auch die Ablehnung, die sie manchmal von ihm erfuhr. Aber wenn sie nicht mehr neben ihm schlief, dann minimierte das schlicht die Zeit, die sie miteinander verbrachten – verbringen konnten, ohne dass es auffiel. Sie würde noch mehr darauf angewiesen sein, dass er sich Zeit nahm, um mit ihr zusammen zu sein. Es würde noch schwieriger werden als ohnehin schon. "Ich… muss ich… kann ich nicht hier… bleiben?"

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Brix folgte Siv mit Blicken. Er hätte ihr gern geholfen, erkannte aber recht schnell, dass das nicht möglich war. Schließlich stand er auf. Sie wirkte geradezu schockiert darüber, dass er das Zimmer erwähnt hatte. Er ging hin zu ihr und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. "Siv", sagte er, als ob er Minus, dem Sklavenknaben, etwas erklären wollte. "Du kannst nicht hier bleiben. Du bist keine Sklavin mehr. Außerdem bekommst du bald dein Kind." Er sah sie an und versuchte wirklich, ihr das alles so behutsam wie möglich beizubringen. Vielleicht sogar lebte in dieser Kammer, wie sie ein jedes der Schlafgemache hatte, bald schon wieder eine neue Leibsklavin. "Das Zeichen in deinem Nacken wird auch getilgt werden. Ich hatte gedacht, wir warten, bis das Kind da ist, aber ich kann gern auch früher bescheid geben", sagte er. "Du musst dich nicht sofort entscheiden. Das hat sicherlich noch ein paar Tage Zeit. Bis zur Geburt wirst du ohnehin nicht mehr arbeiten können. Keine Widerrede."

  • Du kannst nicht hier bleiben, echote es in ihrem Kopf. Nicht hier bleiben. Siv hatte auf einmal das Gefühl, nur noch mühsam Luft holen zu können, fast als sträube sie sich, in ihren Rachen zu fließen und ihre Lungen zu füllen. Sie begann den gestrigen Tag zu verfluchen, an dem Corvinus auf die Idee gekommen war, ihr die Freiheit schenken zu müssen. Warum konnte sie denn nicht hier bleiben? Was sprach dagegen? Es war doch gleichgültig, ob sie Sklavin war oder nicht, wenn sie die gleichen Aufgaben haben würde. Siv schloss die Augen. Wenn. Wenn aber nicht… Du bist keine Sklavin mehr. Das hatte Brix gesagt. Und wenn es nun mal eine Sklavenaufgabe war… Du kannst hier nicht bleiben. Wenn jemand anderes diese Aufgaben übernehmen würde… Die Luft wurde plötzlich noch zäher. Was um alles in der Welt sprach dagegen, dass sie weiter dieses Zimmer ihr eigen nennen konnte, wenn sie sich entschied, hier, in der Villa, zu bleiben? Sie hatte das Gefühl, auf einmal gegen eine Wand gerannt zu sein, die aus dem Nichts aufgetaucht war. Bisher hatten sich ihre Gedanken um die Entscheidung gedreht, die sie zu fällen hatte – aber die einzelnen Möglichkeiten waren für sie klar definiert gewesen, vor allem wie es sein würde, wenn sie nicht ging. Sie war davon ausgegangen, dass ihr Leben ungefähr gleich bleiben würde, wenn sie beschloss in Rom zu bleiben, bei Corvinus. Jetzt begann ihr langsam klar zu werden, dass das ganz offenbar nicht so war. Und ihre Gedanken fingen an sich darum zu kreisen, wie ihr Leben hier wohl aussehen mochte – wenn sie blieb. Ihre Lippen kräuselten sich in einem Anflug von Bitterkeit, als sich ein düsteres Bild vor ihrem inneren Auge zeichnete, in raschen, rauen Skizzen. Es würde geschehen, wie Brix gesagt hatte – sie würde nicht hier bleiben können, vielleicht ein paar Tage noch, aber nicht mehr für lange. Sie würde aus dieser Kammer ausziehen. In ein anderes Zimmer. Sie würde irgendwelche anderen Aufgaben zugeteilt bekommen. Und irgendwer anders… würde ihre bisherigen übernehmen. Und sie… sie würde ihn kaum noch zu Gesicht kriegen. Genauso wie damals, als sie aus Germanien zurück gekommen war… Sie würde ihn nur noch selten sehen, und wenn dann nur wie von weitem, wie aus weiter, weiter Ferne… unerreichbar für sie. Und er würde nichts an diesem Zustand ändern. Würde sie in der Villa dulden, weil er wohl meinte es ihr schuldig zu sein, und weil es ihm vielleicht auch gefiel, sie von Zeit zu Zeit zu sehen, und das Kind… aber nicht mehr. Weil er sie nicht mehr in seiner Nähe, nicht bei sich wollte.


    Plötzlich war da wieder dieses Loch in ihrer Brust, und ihr Oberkörper hob und senkte sich schwer, weil die Luft immer noch so zäh war, so furchtbar zäh.


    "Entscheid du", murmelte sie. Wenn sie ohnehin aus dem Zimmer hinaus musste, war es doch gleichgültig, wann und wohin. Und auch was das Zeichen in ihrem Nacken betraf – was kümmerte es sie, wann und wie es verschwand? Nur dass sie nicht mehr arbeiten sollte, gar nicht mehr… Wie sollte sie sich denn sonst beschäftigen? Aber irgendetwas würde ihr schon einfallen. So wie immer. Und wenn sie einfach trotzdem arbeitete, dann, wenn Brix nicht hinsah, nicht da war, nicht Bescheid wusste. "Wie du meinst."

  • [Blockierte Grafik: http://img70.imageshack.us/img70/2005/sklave9vv4.jpg| Brix


    Es war Brix alles andere als angenehm, sie so zu sehen. Und er hatte das Gefühl, dass er an ihrer deutlich sichtbaren Resignation nun eine Teilschuld besaß. Auch, wenn er wusste, dass er derjenige war, der am wenigsten dafür konnte, eben weil er nun einmal seine Arbeit machen musste. Er schürzte bedauernd die Lippen, brachte jedoch keine Entschuldigung hervor. Er musste sich nicht rechtfertigen, hatte nur das Bedürfnis, sie zu trösten. Aber er kannte Siv und ahnte, dass es genau das nicht war, was sie wollte. Insbesondere, weil sie es vermutlich als Mitleid auffassen würde. Also sagte er auch dazu nichts. Er war sich sicher, dass sie wusste, dass diese Sachen nicht seine Entscheidungen waren. Corvinus hatte nichts explizit erwähnt, aber ein guter Sklave handelte stets im Sinne seines Herrn, und Brix konnte sich vorstellen, dass niemand wollte, dass Siv womöglich ihr Kind verlor, nur weil sie die Hände nicht still halten konnte. Und die Arme, Beine, Füße - und was sonst noch an ihr dran war.


    Brix nahm seine Hand von ihrer Schulter, nachdem er sie einmal sanft gedrückt hatte dort, und sah Siv an. Aber immer noch sagte er nichts. Er brachte ein einseitig verkniffenes Lächeln zustande. "Ist gut. Geh jetzt schlafen. Das war ein langer Tag", sagte er schließlich. "Brauchst du noch etwas?" fragte er sie noch. Wenn sonst nichts mehr war, würde er ihr eine gute Nacht wünschen und dann den kleinen Raum verlassen.

  • Ja, lag ihr auf den Lippen, ja, ich brauch noch was. Ich brauch ein neues Zimmer. Plötzlich hatte Siv das Bedürfnis, zu gehen, hatte das Gefühl, es nicht eine Nacht länger hier auszuhalten. Aber sie sagte nichts. Sie ahnte sowieso, dass sie heute nicht würde schlafen können. Es spielte keine Rolle. Sie verschränkte ihre Arme und heftete ihren Blick auf irgendetwas im Zimmer. Brix sagte sonst nichts mehr, ließ mit keinem Wort oder Blick erkennen, ob er ihr glaubte, dass sie sich seinem Wort fügen und von nun an nichts mehr tun würde, sagte auch nichts mehr zu den Themen Zimmer oder Zeichen. Und Siv fragte nicht nach. Es interessierte sie nicht. Ihre Gedanken wirbelten in der düsteren Zukunftsvision, die sie sich selbst erschaffen hatte. "Ja. Ja, schlafen, das ist eine gute Idee." Sie bemühte sich, ihrer Stimme so etwas wie Klang, wie Farbe zu verleihen, damit sie nicht allzu leblos wirkte. Sie wollte nicht, dass Brix sich Sorgen machte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich sogar in der Karikatur eines Lächelns. Hätte er es nicht von selbst zur Sprache gebracht, sie hätte ihn jetzt gebeten, zu gehen. Sie allein zu lassen. "Nein, ich brauch nichts. Danke." Wortlos sah sie ihm hinterher, als er das Zimmer verließ. Starrte noch für Augenblicke auf die Tür… und drehte ihren Kopf dann wieder zur Seite, um reglos aus dem Fenster zu sehen, während ihre Gedanken weiter wirbelten, so rasch, dass es ihr selbst schon wieder wie ein Stillstand vorkam, weil ihr Bewusstsein nicht folgen konnte.

  • Auf der anderen Seite der Wand stand ich, mit der Stirn und den Händen an den rauhen Putz gelehnt, einfach da und lauschte auf die harschen, gutturalen Laute, die leise aus dem Nebenraum zu hören waren. Ich verstand nur wenig, eigentlich gar nichts, sah man von gelegentlichen einfachen Worten wie Zimmer, Sklavin oder ja ab, die ich auch nur dann vernehmen konnte, wenn sie sich neben dem Licht durch den Türspalt zwängen konnten. Irgendwann kehrte Stille ein. Ich drehte den Kopf, aber es war nichts mehr zu hören. Brix war scheinbar gegangen. Ich hätte gern gewusst, worüber er mit Siv geredet hatte. Ich hätte ihn herzitieren und ausfragen können. Aber es war so schwer, mich von dieser Wand loszureißen.


    Ich versuchte, mich an die besseren Momente mit Siv zu erinnern, aber alles, was ich in meinen Erinnerungen sehen konnte, waren Streit, Verletzung und Wut. Zwei Begebenheiten stachen ganz besonders heraus. Der letzte größere Streit und der anschließende Besuch bei Celerina. Und der gestrige Tag. Wenn ich daran zurück dachte, sehnte ich mir einen vollen Weinkrug herbei, denn jener auf dem Tisch war inzwischen leer. Doch eigentlich hinderte mich nichts daran, eine Nachfüllung zu ordern. Ich wankte irgendwie zur Tür und öffnete sie. "Mehr Wein!" brüllte ich hinaus. Dann warf ich die Tür wieder zu, drehte mich herum und ließ mich an der Wand daneben zu Boden gleiten. Ich musste es ihr sagen. Sie würde sich sonst fragen, warum ich nichts erzählt hatte, und womöglich schlussfolgern, dass ich es nicht für wichtig genug erachtet hatte, ihr davon zu erzählen. Aber wenn ich es tat, würde sie es sicherlich auch schlecht auffassen, weil ich sie nicht mitnahm. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und seufzte. Wenn nur der Wein endlich käme.

  • Siv blieb stehen, wo sie war. Regungslos starrte sie ins Dunkel hinaus, während es in ihrem Zimmer ebenfalls dunkel wurde, als die Öllampe leer wurde und erlosch, und ihre Gedanken schienen, wie schon des Öfteren, eine wilde Hatz zu vollführen. Aus dem Gemach neben ihrer Kammer drang eine Stille, die ebenso groß war – und ebenso zu dröhnen schien – wie die hier. Siv senkte die Augenlider, langsam, und öffnete sie wieder. Brix hatte gesagt, sie sollte schlafen gehen, und sie wusste, er hatte Recht. Es wäre besser. Vernünftiger. Aber wann hatte sie schon je das getan, was vernünftig war? Ohnehin würde sie jetzt nicht schlafen können, das wusste sie. Nicht bleiben. Sie konnte nicht bleiben. Nicht in diesem Zimmer. Nicht in diesem Haus? Aber wenn sie nicht in diesem Haus blieb, würde sie auch nicht in dieser Stadt bleiben. Nicht einmal in diesem Land. Es war, wie sie Brix gesagt hatte: sie wäre verloren, hier, ohne den Rückhalt, die Rückzugsmöglichkeit, die sie hier in der Villa hatte. Die Male, die sie tatsächlich in Rom allein unterwegs gewesen war, konnte sie trotz all ihrer Zeit hier vermutlich an zwei Händen abzählen. Nun, das war vielleicht übertrieben, aber es würde definitiv keine große Zahl herauskommen. Sie würde sich hier nicht zurechtfinden, nicht allein, nicht einmal mit Brix’ Hilfe – denn er konnte ja auch nicht ständig bei ihr bleiben, erst recht nicht, wenn sie nicht mehr hier wohnte. Nein, hier bleiben, das war nur eine Alternative, wenn sie hier, in diesem Haus blieb – und hier auch Arbeit bekam. Welche auch immer. Aber ob es überhaupt funktionieren würde, das mit dem hier Bleiben, das wussten die Götter allein.


    Mitten in diese Gedanken hinein platzte Corvinus’ Ruf – ach was, Ruf, Gebrüll traf es wesentlich eher – nach mehr Wein. Siv wurde eher unsanft aus ihrem fast schon traumähnlichen Zustand gerissen und zuckte zusammen, starrte dann die Verbindungstür an. Er meinte nicht sie. Er meinte sicher nicht sie. Er konnte nicht sie meinen, nicht ernsthaft, nicht tatsächlich. Sie blieb stehen und rührte sich wieder nicht, nur dass sie diesmal nicht aus dem Fenster starrte, sondern zu besagter Tür. Nun, da die Stille durchbrochen war, fiel Siv auch nicht mehr in diesen Zustand zurück, in dem sie nicht mehr ganz sie selbst zu sein schien – nicht im Moment, jedenfalls. Sie lauschte auf die eiligen Schritte, die bald nach dem Ruf durch den Gang eilten, hörte, wie geklopft wurde, wie sich die Tür öffnete, wie in dem anderen Raum etwas rumorte und die Tür sich dann wieder schloss, ohne dass scheinbar Worte gewechselt wurden. Und sie stand immer noch da. Und schließlich, ohne darüber nachzudenken, ob es vernünftig war – wann hatte sie das je? –, überwand sie den Abstand zur Tür und öffnete sie. Auch dort war es dunkel, wie bei ihr, nur vage drang das Licht der Sterne und des Mondes herein. Dennoch sah sie genug, waren ihre Augen an das merkwürdige Zwischenlicht doch gewöhnt. "Stimmt das?" Wie dieses merkwürdige… Nicht-Licht war auch der Klang ihrer Stimme merkwürdig… schien im Dazwischen zu schweben, zwischen Fülle und Leere, vibrierender Farbe und blassem Grau, Tonlosigkeit und etwas… anderem. Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Zimmer hinter ihr. "Die Kammer… dass ich da nicht… mehr sein kann?"

  • Während ich so dasaß und draußen im Gang hastige Schritte vernahm, gab ich mir Mühe, an gar nichts zu denken. Was allerdings kläglich scheiterte. Recht bald nach meiner unkonventionellen Bestellung trat jemand ein, tauschte den leeren Krug gegen einen vollen aus und verschwand dann wieder. Ich starrte das tönerne Gefäß an und rührte mich doch nicht. Der Weg zum Tisch schien mir zu mühselig, ich wollte nicht aufstehen, sondern lieber bis in alle Ewigkeit hier sitzen bleiben. Nun ja, zumindest bis es hell wurde oder ich einschlafen würde.


    Oder bis die Tür zu Sivs Kammer aufging. Ich drehte langsam meinen Kopf, fühlte mich ob ihrer Gestalt augenblicklich um Jahre zurückversetzt. Silbriges Licht umfloss ihre Gestalt und ließ die schattenhaften Konturen leuchten. Ich wandte den Blick ab. Dann richtete sie das Wort an mich, und ich wandte mich ihr wieder zu. Was stimmte? Welche Kammer? Meine Gedanken flossen zäh wie Sirup dahin, und die Stille breitete sich zwischen uns aus wie eine massive Mauer, während ich versuchte, einen Sinn in ihre Worte zu bringen. Bis es mir siedend heiß einfiel, was sie meinte. "Du biss keine Sklavin mehr. Du bekommss ein..andres Zimmer." Meine Zunge war schwer, als ich das sagte und mich bemühte, möglichst tonlos zu klingen. Es fiel mir nicht ganz so leicht wie im nüchternen Zustand, was mich bereits wieder ungemein ärgerte. Mit gerunzelter Stirn strengte ich mich an, unbefangen zu wirken. Und dann fiel mir ein, dass ich Siv nun sagen konnte, dass ich bald abreisen würde. "Ich fahre mit..Celerina weg", sagte ich schleppend und blinzelte sie angestrengt an. Die Beine hatte ich inzwischen ausgestreckt, die Arme hingen leblos vor mir und ruhten auf den Oberschenkeln. Den Hinerkopf hatte ich an die Wand gelehnt, und so sah ich Siv auch an.

  • Von Corvinus kam die gleiche Antwort, mit der gleichen Begründung, wie von Brix. Sie war keine Sklavin mehr. In Siv flammte kurzzeitig so etwas wie Trotz auf. Wenn sie keine Sklavin mehr war, warum konnte sie dann trotzdem nicht selbst entscheiden? Aber so schnell diese Phase plötzlichen Stursinns gekommen war, so schnell war sie wieder vorbei. Das hier war nicht ihr Haus. Sie konnte hier gar nichts entscheiden – nur dieses eine: ob sie gehen oder bleiben würde. Alles andere lag nach wie vor in seinen Händen. In den Händen eines Mannes, der augenblicklich mehr als nur ein bisschen betrunken zu sein schien. Siv stand reglos im Türrahmen und wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. So selten hatte sie ihn so gesehen, so selten passierte es, dass er zu viel Wein trank. Es konnte nur bedeuten, dass etwas los war, dass es ihm nicht gut ging. Aber ihr ging es auch nicht gut, und etwas in ihr weigerte sich in diesem Moment strikt, wahrzuhaben, weshalb es ihm nicht gut ging. Dass es vielleicht die Möglichkeit war, dass sie gehen, ihn verlassen könnte. Wenn sie diese Gedanken zuließ, würde ihr Weg klar sein – sie würde bleiben. Und würde unter der Situation leiden, umso mehr, je seltener sie mit ihm Zeit verbringen konnte. Und er hatte es ja gerade selbst bestätigt, dass es so kommen würde, wie auch Brix schon gesagt hatte. Sie musste die Kammer neben seinen Räumen verlassen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie konnte sich noch so gut daran erinnern, wie er sie ihr angeboten hatte. Was es bedeutet hatte, für sie, und auch für ihn, zumindest hatte sie das zu wissen gemeint, auch wenn er es nicht laut ausgesprochen hatte. Was bedeutete es, dass er sie ihr jetzt wieder wegnahm? Konnte es denn etwas anderes heißen als dass er sie nicht mehr in seiner Nähe haben wollte?


    Siv presste die Kiefer aufeinander. Schweigen breitete sich erneut aus – das schließlich erneut von Corvinus durchbrochen wurde. Diesmal schaffte er es, sie ein wenig zu irritieren. "Du…" Im allerersten Moment dachte sie, er meinte für immer. Würde Rom verlassen. Dann begriff sie, dass das kaum sein würde, immerhin kandidierte er gerade wieder – er würde nie seine Pflicht hier im Stich lassen. Aber was sie auf diese Worte sagen sollte, wusste sie genauso wenig wie zuvor. Dann fuhr er weg. Mit Celerina. Sie ging nicht davon aus, dass sie bei einer derartigen Reise erwünscht war als Begleitung, ganz davon abgesehen, dass sie im Moment nicht mehr wirklich zum Reisen in der Lage war, wie sie zuvor mit Brix schon festgestellt hatte. Einen Stich versetzte ihr aber das Bewusstsein, dass er mit ihr niemals irgendwohin gefahren war. Und dabei wäre es gar nicht so schwer gewesen, erst recht nicht bevor er geheiratet hatte. Er hätte einfach nur sagen müssen, dass er ein paar Tage… frei haben wollte, um sich zu erholen. Dass er seine Leibsklavin zu so etwas mitnahm, wäre doch nur selbstverständlich. Aber das hatte er nie getan. Siv schloss die Augen für einen Moment. "Wann fahrt ihr los?" Sie bemühte sich, einen unbeteiligten Eindruck zu machen, aber obwohl es ihr nicht allzu gut gelang, machte sie sich keine große Sorgen, er könnte etwas erkennen, so betrunken, wie er augenscheinlich war. Er saß an die Wand gelehnt wie ein Häufchen Elend. "Du solltest ins Bett gehen", meinte sie dann. Hauptsächlich um abzulenken.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!