Er hatte gehört, dass hier in der URBS irgendwo Verwandte leben sollten. Er hatte keine Adresse. Sein letzter Aufenthalt war mehr als zehn Jahre her, damals lebte er als Heranwachsender in der Casa seines Großvaters Helios. Mein Vater galt verschwunden, Gerüchte zufolge sei er ermordet worden. Die Sache wurde nie aufgeklärt, obwohl Großvater Helios alles daran gesetzt hatte, die städtischen Vigiles, deren Kommandant er war, in den Ermittlungen voranzutreiben. Titus war noch zu jung. Später erzählte man ihm diese Geschichten.
Statt mit der Jugend Roms die angesagten Orte jenseits des Tiber unsicher zu machen, verbrachte er damals viel Zeit im hortus. Er war ein Träumer, mit einem Hang zur Melancholie. Die Mußestunden hatte er auf diesem Steinplatz an der Begrenzung zum Fischteich verbracht und dabei das reflektierende Sonnenlicht, das Wechselspiel aus Licht und Schatten, das sich im trüben Wasser des Gewässers spiegelte, bestaunt. Er war fasziniert von der Schönheit und doch gruselte es ihn bei dem Gedanken, in dieses trübe, undurchsichtige Wasser zu fallen, nichts ahnend, was darunter sich befand.
Das war vor zehn Jahren. Damals hatte er die toga praetexta abgelegt und trug fortan die toga virilis des jungen Mannes. Der schmächtige, vielleicht etwas blasse Mann mit der Neigung zur griechischen Tragödie benötigt körperliche Ertüchtigung und praktische Erfahrung, dachte wohl der Großvater. Doch statt der Armee schickte er ihn nach Hispania. Dort hatten weit entfernte Verwandte ein Landgut nahe Tarraco, der Provinzhauptstadt und dem Sitz des Statthalters. Der Statthalter damals hieß Matinius, ein älterer Senator, fett und träge. Man sagte ihm unnachahmlichen "crassen" Reichtum nach und getrieben von avaritia und luxuria. Um seinen Reichtum zu mehren hatte er die Provinz ausgequetscht, Ländereien konfisziert und immer neue Steuern eingeführt - ein zweiter Verres. Seine Zeit war gekommen, denn kurz nach Titus' Ankunft wurde er abberufen. Ihm folgte ein junger Flavier, man konnte meinen, das komplette Gegenteil seines Vorgängers. Jung, dynamisch und erfolgsorientiert, ohne Frage genauso vermögend, und überaus eitel. Dem Volk präsentierte er sich gerne. Bei öffentlichen Wettkämpfen im Sport wie in der Kunst. Dichterwettkämpfe und Sangeswettstreite hatten auch Titus' Herz begeistern können. Er hätte ohne Zweifel nie daran teilnehmen können, sondern erfreute sich lieber in der breiten Masse der Schaulustigen.
Ansonsten war das Leben auf dem Landgut des Furius Lucanus nicht zu vergleichen mit Rom. Der Luxus war ähnlich und für die Tatsache, dass man so viele Meilen westlich des römischen Zentrums lag, erfreulich vorhanden. Doch die harte Arbeit auf den Ländereien war Titus nicht gewohnt. Mit den eigenen Händen harte Arbeit zu verrichten, das führte bei dem jungen Furier zu ungeahnten Kraftanstrengungen. Der Schweiß rinn über die von der hispanischen Sonne braun gegerbte Haut, der makelbehaftete Körper zerbrach einumsanderemal unter der schweren Last. Wann immer er konnte, setzte er sich ab, ging die wenigen Meilen per pedes nach Tarraco. Die frische Brise vom Meer schaffte Balsam auf seine Wunden.
Schon die Reise über das mare nostrum war für einen Römer, trotz relativ ruhigen Seegangs keine Spazierfahrt. Angeblich hatte seine Familie griechische Wurzeln, doch er konnte nichts seemännisches oder eine Affinität zum Wasser bei sich entdecken. Mit schlottrigen Knien und auch ein wenig Übel von der Reise hatte er das Schiff verlassen. Eine Kutsche erwartete ihn und brachte ihn auf das Landgut seiner Familie.
Dort hatte er sich nach zwei Jahren so gut eingefunden, dass ihm der tägliche Ablauf in den Verrichtungen eines Landguts mit Leichtigkeit von der Hand ging. Der Junge hatte deutlich an Statur gewonnen. Die Hände wußten anzupacken und die Haut entsprach einem natürlichen Teint. Der Großvater hatte Recht gehabt mit seiner Entscheidung. Titus fühlte sich wohl und wahrscheinlich hätte er Hispania nie wieder verlassen.
Doch als Lucan vor drei Jahren im hohen Alter verstarb und das Landgut einem seiner Söhne vermachte, fühlte er, dass es an der Zeit war, den Hof, der wie eine zweite Familie für ihn geworden war, zu verlassen. Selbstverständlich zog es ihn nach Tarraco, bezog ein kleines Quartier bei einem älteren Ehepaar, arbeitete als Stadtschreiber, interessierte sich verstärkt für Literatur und Kunst, und begann ganz im Stillen eigene Prosa zu verfassen. Ohne diese zweifelsohne je irgendjemanden zu zeigen.
Vor einem halben Jahr kam dann dieses Schreiben aus ROM. Seine Mutter war schwer erkrankt. Wie lange mochte sie noch leben? Panik packte den einzigen Sohn. Abermals machte er sich auf dem ihm unbehaglichen Weg über das Meer. ROM wartete auf ihn. Was war aus seiner Familie geworden? Wer lebte noch? Wen würde er wiedererkennen? Diese Fragen begleiteten ihn die Monate, die das Schiff auf See war. Doch als sie Rom erreicht hatten, war es so groß und laut, ganz anders als er es in seiner Erinnerung hatte. Die Wege kannte er kaum, er musste sich durchfragen. Furii? Davon gab es viele. Auf dem Quirinal. Ja, aber wo? Irgenwo zwischen all den Gassen. So groß war Rom doch nicht. Hilflos war umhergerirrt. Schon war die Dämmerung angebrochen. Die Wachübernahme der Vigiles hatte bereits begonnen. Nachts durch Rom zu irren behagte ihm nicht und morgens würde man seine Leiche irgendwo aufwärts im Tiber schwimmen sehen.
Da war Fortuna ihm hold. Die Sonne war bereits hinter dem Marsfeld verschwunden, da lotste ihn das Schicksal in eine Ecke, die ihm bekannt vorkam. Er sah das etwas verwitterte Hausschild neben der Eingangstür. Ja, hier war er richtig. Das Haus wirkte, als könnte es mal einen neuen Anstrich vertragen. An einigen Stellen war der Putz abgeplatzt. Titus griff den schweren eisenbeschlagenen Türklopfer und schlug beherzt und nicht zu schwach zweimal gegen das Holz.