Die Aurelia schien zu verstehen, weshalb Seiana es vorzog, auch im Sommer in Rom zu bleiben – in jedem Fall konnte die Decima keine Regung in ihrem Gesicht ausmachen, die darauf hindeutete, dass sie es ungewöhnlich fand. Seiana selbst war im Grunde froh darüber, so viel um die Ohren zu haben. Es bedeutete Ablenkung, die sie schlicht nötig hatte im Augenblick, denn immer, wenn sie Zeit hatte sich ein wenig auszuruhen, suchten sie Gedanken und Erinnerungen heim – nicht nur an Caius und die geplatzte Hochzeit. Es war fast, als wären die Ereignisse um ihren ehemaligen Verlobten ein Auslöser gewesen, um andere Dinge ans Licht zu holen, die Seiana für gewöhnlich verdrängte. In jedem Fall fiel es ihr derzeit schwer, weit schwerer als gewöhnlich, in sich zu verschließen, was sie belasten könnte.
Das Thema, auf das sie dann zu sprechen kamen – ausgelöst durch die kurze Unterhaltung über Sappho, obwohl jene nun keine Rolle mehr spielte in dem Gespräch –, versetzte Seiana in eine fast wehmütige Stimmung. Sie zog es vor, nicht allzu häufig darüber nachzudenken, ob sie passte in die Zeit, in die sie geboren war. Denn wenn sie es tat, kam sie nicht umhin sich einzugestehen, dass es nicht so war. So wie sie sich sah, wie sie war, konnte sie nicht wirklich in diese Zeit passen. Sie bemühte sich, den Ansprüchen gerecht zu werden, ihren eigenen, denen ihrer Familie, denen der Gesellschaft, aber allein schon die Tatsache, dass sie nach wie vor unverheiratet war, lief dem zuwider. Dass sie eigene Betriebe besaß, im Grunde auch. Und Seiana fiel es durchaus nicht immer leicht, das mit sich in Einklang zu bringen – sie wollte eigentlich dem Bild entsprechen, wie eine Römerin zu sein hatte. Aber sie wusste nur zu genau, dass es sie nicht ausfüllen würde, hätte sie tatsächlich nicht mehr als einen Mann, Kinder und einen Haushalt zu versorgen, und so widmete sie sich ihren Betrieben und weiteren Tätigkeiten, auch wenn das vielleicht nicht das war, was eine ideale Matrona tun sollte.
Die nächste Frage der Aurelia brachte Seiana nun dazu, sie nachdenklich zu mustern. Von diesem Standpunkt aus hatte sie das noch nie betrachtet, gestand sie sich ein. Und es war… es war eine angenehmere Sichtweise. Sie suchte die Schuld nicht bei den Frauen, sie suchte sie bei der Zeit. Und das war etwas, was Seiana fremd war, sah sie doch stets sich selbst als diejenige, die nicht so ganz hineinpassen wollte in die Form, die für sie bestimmt war, die nicht stimmte, nicht genug war. „Das ist eine gute Frage…“, murmelte sie nachdenklich. „Wenn wir Sappho betrachten, so hatte sie es sicher nicht einfach zu ihren Lebzeiten, aber es gelang ihr wohl dennoch, ihr Leben zu leben, so wie sie es für richtig hielt. Sie hat nicht aufgehört zu schreiben. Sie hatte Schülerinnen.“ Aber auch sie war gewissen Zwängen unterlegen gewesen. Es hieß, auch sie sei verheiratet gewesen, und es hieß, dass sie wenigstens eine gewisse Zeit im Exil hatte verbringen müssen. „Du magst recht haben damit. Aber: ob man nun davon ausgeht, eine Frau passt nicht in die Zeit, in der sie lebt – oder ob man der Meinung ist, es sei die Zeit, die noch nicht reif ist. Ist das Ergebnis nicht das gleiche? Ändert sich nicht einfach nur der Blickwinkel, aus dem man es betrachtet?“ Und doch konnte dieser andere Blickwinkel so viel ausmachen, nicht was das Ergebnis betraf, aber für die einzelne…