Gänzlich belanglos und selbstverständlich klang es als sie seinen Namen aussprach, ganz so als wäre nichts daran merkwürdig - was für Seiana letztlich wohl auch zutraf -, doch gerade diese Belanglosigkeit ließ die Nennung in Atons Ohren mehr als nur seltsam tönen, setzte eine Spur von Aversion in ihm frei, da tief in seinem Inneren sein Selbst sich ein jedes mal neuerlich sträubte gegen die Anerkennung dieser feindlichen Übernahme durch eine weitere Person seines Umfeldes.
"Ich danke dir, doch mangelt es mir in diesem Hause an ni'hts"
, erwiderte er der puren Höflichkeit halber, der infamen Lüge nur allzu schmerzlich bewusst, denn letztlich mangelte es ihm an allem, was auch nur den Hauch einer Essenz in sich trug - an einer Existenz, einem Sinn, einem Leben -, gleichwohl war dies zweifelsohne nicht das, was sie meinte, noch ihm hätte geben können. Nervös schlossen sich sodann Atons Finger um die Schriftrolle in seinen Händen, unbewusst sog er die Unterlippe zwischen die Zähne, während er nach einer Antwort auf ihre Frage suchte.
"Irgend... irgendeine Bib..liothek"
, suchte er schlussendlich eine länger währende Stille zu vermeiden, da keine passable Antwort ihm mochte einfallen.
"Ich ... habe vermutli'h schon … zu viele Bibliotheken be..sucht."
Die eigenen Worte bestätigend - mehr vor sich selbst als vor der Decima - nickte er.
"Ja, ver... vermutlich ist es so."
Schlussendlich war er der bibliothecarius. Aton. Der bibliothecarius. Aus Alexandria.
"Hier"
, hielt er ihr die Schriftrolle entgegen ohne ihr dabei in die Augen zu blicken. Er wollte fliehen in diesem Moment, da die Leere seiner Existenz sich derart deutlich abzeichnete, wollte nicht weiter mit Seiana sprechen aus Furcht keine Worte zu finden, doch gleichsam sehnte er sich nach nichts mehr als mit ihr zu sprechen. Zu tief war die Stille, welche in diesem Hause ihn sonstig umfangen hielt seit Faustus' Aufbruch, zu endlos und erdrückend, wenn auch gleichsam bisweilen tröstlich. Selten sprach er mehr als notwendig mit den Sklaven - allfällig wenn er seine Mahlzeit aus der Küche holte -, denn jenen Themenkreisen, welche dort vorherrschten, konnte er nicht nur nicht das geringste abgewinnen - etwa dass es noch immer nicht hatte aufgehört zu regnen, dass der Getreidepreis am Markt erneut gestiegen war, oder dass eine der Cubicularia sich regelmäßig mit einem Burschen aus dem Nachbarhause traf -, es fehlte ihm auch jegliches Geschick daraus ein andauerndes Gespräch zu formen, und wann immer er selbst suchte ein anderes Thema zu initiieren - etwa über den erhebenden Anblick des morgendlichen Wolkengetürmes, in welchem das Dunkel der Nacht war verschluckt worden vom gierigen Schlund des orangefarbenen Sonnenhofes, in dessen Mitte die goldfarbene Scheibe hatte gethront einer schimmernden Perle im Inneren einer Muschel gleich; über das diffizile Klangkonstrukt der Eklogen des Calpurnius Siculus und seine Theorie, dass der Dichter durch den darob in einem Leser evozierten Nachhall aus Exaltation hatte versucht, die geistige Auseinandersetzung mit den Worten weit über den Augenblick des Begreifens andauern zu lassen; oder angeregt durch eine unbedachte Äußerung des Koches (Bei Lateranus und Caca, wann schafft ihr es endlich, mir ein ordentliches Feuer zu schüren!?) über die Personifikation der göttlichen Prinzipien und die Möglichkeit eines durch die dadurch angenommene Körperlichkeit eingeschränkten Wirkradius eben dieser -, so hatte es stets den Anschein als würde er einer anderen Welt entstammen oder etwa eine Fremdsprache sprechen, denn die einzigen Reaktionen auf einen solchen Versuch waren Achselzucken, Kopfschütteln oder Nicken, letztlich gefolgt vom Abwenden seines Gesprächspartners.
"So dir Epyllia zusagen, findet allfällig auch die Batrachomyomachia, der Froschmäusekrieg, dein Gefallen"
, suchte er an ihre Auswahl anzuknüpfen, denn dass sie in die Bibliothek gekommen war mochte schließlich durchaus darauf schließen lassen, dass ein solches Thema ihr lag. Der Alltag jedoch, die Realität der Welt um sie her ließ sich nicht aussperren, wie er feststellen musste, nicht einmal aus diesem goldenen Käfig, welcher ihn fern der Welt hielt.
"Andererseits ist Krieg derzeit womöglich kein sonderlich er..bauliches Thema, selbst wenn es sich um einen solchen zwischen Fröschen und Mäusen handeln mag."
Was mochte Serapio wohl sein in diesem Krieg - Frosch oder Maus?
"Gibt es ... gibt es Nachri'hten von Faustus?"
Ein Funke von Hoffnung lag in der Couleur seiner Stimme, ein Funke von Bangen gleichwohl.
bibliotheca
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Er strahlte Untersicherheit aus, fand sie. Es waren die kleinen Zeichen, die sie dazu führten: wie sich seine Finger um Schriftrolle schlossen. Wie er auf seine Unterlippe biss. Wie er brauchte, bis er eine Antwort zu finden schien. Seiana wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, aber es rührte etwas in ihr an, vielleicht weil sie Unsicherheit selbst so gut kannte. Weil sie viel Zeit darauf verbrachte, sie in sich wegzuschließen. Im nächsten Moment zog sie sich innerlich zurück. Vielleicht war es ja genau das, was sie so denken ließ – sie sah ihn, in dem Wissen, dass er ein Freund ihres Bruders war, sah sein Verhalten, und schloss von sich selbst auf ihn. Vielleicht war er einfach nur nicht sicher, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, zwar als Gast des Hauses, als Gast ihres Bruders, aber dennoch als Peregrinus, als bibliothecarius.
„Ja... Allein ein Besuch von Alexandrias Bibliothek würde wohl ausreichen, den Bestand aller anderen als zu gering zu erachten.“ Sie streckte ihre Hand aus und nahm die Schriftrolle entgegen, versuchte währenddessen seinen Blick einzufangen, aber Aton sah beharrlich woandershin, nur nicht ihr in die Augen. Für einen Moment berührten sich ihre Finger, als die Schriftrolle von seiner Hand in ihre wechselte, dann zog sie ihren Arm wieder zurück, die Schriftrolle nun bei ihr, in ihren Händen.„Den Froschmäusekrieg kenne ich bereits.“ Es war nicht schlecht gewesen, nur nicht unbedingt ihr Geschmack... sie wollte gerade etwas darüber sagen – mehr um überhaupt etwas zu sagen als aus dem Grund heraus, dass sie tatsächlich über den Froschmäusekrieg hätte sprechen wollen –, als Aton das Thema von selbst aufgriff, und es in eine gänzlich andere Richtung drehte. Nun war sie es, die schwieg, die das Schweigen sich in die Länge strecken ließ. Ohne sich darüber bewusst zu sein, begannen ihre Finger die Schriftrolle zu drehen und zu wenden. Faustus. „Nein“, wisperte sie. Dass Atons Stimme ihre eigenen Gefühle irgendwie zu spiegeln schien, machte es nicht einfacher. „Noch keine.“ Obwohl sie so darauf wartete, so darauf hoffte, endlich von ihm zu hören. Obwohl er so nah war dieses Mal, dass doch im Grunde jeden Tag eine Botschaft eintreffen könnte. Seiana schluckte, gegen den Kloß in ihrem Hals, und starrte auf den Papyrus in ihren Händen. „Man sollte meinen, dass ich es mittlerweile gewohnt bin, in dieser Lage zu sein...“ Trotzdem war es dieses Mal nicht nur wieder das gleiche, sondern irgendwie sogar noch schlimmer... weil er doch so nah war. So nah. So ein kurzer Weg für einen Boten, wenn man bedachte, welche Strecken früher zwischen ihnen gelegen hatten. Seiana räusperte sich leise. Sie ertrug die Gedanken daran nicht, die Vorstellung, was Faustus alles passiert sein könnte, und Schweigen forcierte es nur. Ohne nachzudenken kam eine Frage über ihre Lippen: „Du und mein Bruder... seid ihr gute Freunde? Wie hast du ihn kennen gelernt?“ In Alexandria, das hatte er ihr erzählt, aber Seiana wollte mehr wissen. Sie wollte etwas von Faustus hören, etwas, das nichts mit der Sorge von jetzt zu tun hatte.
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Im Norden nichts Neues - dies mochte alles oder nichts bedeuten, dass es schlichtweg noch nichts zu berichten gab, oder dass es bereits zu spät war, zu berichten, dass Faustus nichts berichtenswertes wusste, dass er keine Zeit hatte zu berichten, inmitten von Kämpfen steckte, oder nicht mehr konnte berichten, da er verwundet, gefangen oder tot war. Alles oder nichts. Und dennoch legte sich eine kalte Hand um Manius' Herz, presste es zusammen, dass ein eisiges Frösteln sich über seinen Leib hin ausbreitete, denn aus der Art seines Charakters und der darob in seinem Leben augenscheinlich angesammelten Erfahrung heraus vermutete er selten hinter dem Schicksal friedliebende oder vorteilhafte Gedankengänge, sah die Gefahr neuerlicher Desillusion stets viel ausgeprägter. Seianas Räuspern indes riss ihn aus den schlimmsten Befürchtungen heraus, zurück in die trübe Realität, welche zwar nicht sonderlich ergötzlich mochte sein, doch letztlich auch nicht überaus widrig, wiewohl ihre Frage schlussendlich gar erreichte, dass ein Lächeln sich über sein Antlitz legte, er in Erinnerung an jenen magischen Abend, welcher so bedeutsam war für ihre zwei Seelen, für einige Augenblicke gänzlich alle Sorgen vergaß.
"Wir haben uns auf einer Meditrinalienfeierli'hkeit kennen gelernt, in Transtiberim"
, gab er voller Enthusiasmus preis, eingedenk des Amüsements, der Pläsier und Verzückung, welcher das Ende dieser Feierlichkeit hatte für sie bereit gehalten.
"Wir teilten eine Kline und es wurde ein sehr ..."
Erst in diesem Augenblicke bemerkte Aton, dass die ausführlichen Details dieses Zusammentreffens kaum wohl dazu gereichten, vor einer letztlich ihm fremden Person ausgesprochen zu werden, mochte sie auch die Schwester Faustus' sein - oder gerade eben deswegen.
"... ein sehr ungewöhnli'her Abend."
Ohne sich dessen gewahr zu sein, dass zudem auch Transtiberim nicht zu der Geschichte seiner Herkunft mochte passen, suchte er die Aufmerksamkeit von jenem Abend wieder fort zu lenken, da eine nähere Betrachtung des Geschehens unweigerlich Dinge würde offen legen, welche besser im Verborgenen blieben.
"Seit dieser Zeit schreiben wir uns Briefe und teilen unsere Leidenschaft - "
Er stockte, denn obgleich er durchaus im Sinne hatte, diesen Satz durch eine Beifügung weiterer Worte zu anderer Bedeutung zu führen, verselbstständigte die Aussage sich zur Wahrheit, indem sein Innerstes einen Fortgang ihm verweigerte, so dass sie letztlich die Intimität ihrer Beziehung skizzierte, dass ein wenig Hitze Manius den Halse empor kroch, und der nachfolgende Augenblick der Stille - welcher in seinem Innersten angefüllt war mit einem Schwall von Emotionalität beginnend mit der endlosen Sehnsucht, und endend mit dem körperlichen Verlangen, welche ihn jeden Augenblicke fern seines Heroen quälten - maß dem weit mehr Bedeutung noch bei als es hätte sein müssen.
"Für Literatur"
, fügte Aton schlussendlich abrupt an, so dass es durchaus manieriert klang.
"Unsere Leidenschaft für Li..teratur."
Auch die Wiederholung des hastig konstruierten Tatbestandes ließ diesen nicht realitätsnaher klingen, so dass Manius suchte, sich in weitere Worte zu flüchten, die Mehrdeutigkeit seiner Aussagen dabei nicht unbedingt abmildernd.
"Und andere Dinge. " -
Unwillkürlich zeigte sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln, als sie das seine sah, das so ehrlich wirkte und ihn für einen Moment anders, beinahe glücklich wirken ließ.
Dann allerdings horchte sie auf. Transtiberim? Zuvor hatte er noch gesagt, sie hätten sich in Alexandria kennen gelernt, als Faustus dort sein Tribunat abgeleistet hatte... Ihre Brauen zogen sich leicht zusammen, während sie Atons Erzählung lauschte und ihn musterte. Er wirkte offener, jetzt, beinahe gelöst, ganz sicher nicht so, als ob er log, und nach dem, was er so von sich gab, konnte Seiana sich inzwischen vorstellen, welcher Art die Bekanntschaft zwischen ihm und ihrem Bruder sein mochte. Dass sie darüber niemandem etwas erzählten, wunderte sie weniger... und wie Aton zwischendrin stockte, zu überlegen schien, bevor er weitersprach, fand sie auf gewisse Art fast schon liebenswürdig. Was sie aber nicht begriff war: warum darüber lügen, wo sie sich kennen gelernt hatten? Warum allen erzählen, sie kannten sich aus Ägypten? Welchen Grund konnte es dafür geben? Sie musterte ihn weiterhin, eingehender, versuchte nun wieder festzustellen, was es war, dass sie zuvor schon hatte aufmerksam werden lassen... das Gefühl ihn zu kennen, und das Gefühl, dass sein Habitus nicht der eines Peregrinen zu sein schien. Sie hatte diese Gedanken beiseite geschoben, aber jetzt, wo Aton selbst mit einem Bruch aufwartete in seiner Geschichte, dachte sie wieder daran. „Und es lag nahe, dich in unsere Bibliothek zu holen, bei eurer gemeinsamen Leidenschaft“, erwiderte sie ruhig. Für Augenblicke überlegte sie, ob sie ihn darauf ansprechen sollte. Er selbst schien gar nicht gemerkt zu haben, dass er seiner eigenen Geschichte zuvor widersprochen hatte, und Seiana war sich nicht so sicher, ob sie es ansprechen sollte... Faustus hatte seine Gründe, wenn er log, und sie würde ihm nie in den Rücken fallen. Ihr Bruder allerdings war nicht hier... und wer wusste schon, wann er wieder kommen würde. Oder ob. Wenn irgendetwas passierte, was Faustus betraf, lag es an ihr, sich darum zu kümmern – und dafür musste sie Bescheid wissen. Dafür wollte sie Bescheid wissen. „Warst du jemals in Aegyptus, Aton?“ fragte sie also schließlich – rundheraus, weil sie glaubte, dass das der beste Weg war... und ihr auch kein anderer einfiel, wie sie sich dem Thema sonst hätte nähern können. -
Es war eine wahrlich sonderbare Frage, welche Decima Seiana in den Raum warf, im Grunde gänzlich überflüssig, denn schlussendlich war er Aton aus Alexandria, Alexandria lag in Aegyptus, und jemand der einem Land entstammte, war zweifelsohne auch schon einmal dort gewesen. Quod erat demonstrandum. Doch durch die Belanglosigkeit der Frage, durch den offenen Blick, mit welchem sie ihn bedachte, die Art, in welcher sie die Worte unverblümt aussprach und wie sie dadurch mit Gewicht wurden versehen, schien sie das Abbild seines Gewissens zu sein, welches ihm bisweilen selbst diese und ähnliche Fragen stellte, trotz oder gerade wegen ihrer Belanglosigkeit. Letztlich mochte die Ausführung des Beweises durchaus tadellos sein, doch die Prämisse war schlichtweg falsch. Jeglicher Rest von Leichtigkeit wich von Manius' Antlitz, und von einem Augenblicke zum nächsten schienen die Spuren, welche die letzten Monate an ihm hatten hinterlassen, wieder deutlich zu sein, die Entbehrungen und Verluste, die Desperation ob allen Geschehens, der beständige Schatten über seinem Gemüt.
"Nein"
, bekannte er tonlos und weitaus freimütiger als es allfällig gut für ihn war. Doch Manius war seit jeher ein schlechter Lügner, im Grunde war er zumeist selbst der einzige, welcher bisweilen seine Lügen ihm abnahm, wiewohl die Lüge an sich ihm bereits derart zuwider war, dass sein Herz, sein Gewissen und sein Charakter ihn sogleich dazu drängten, das falsche Wort im erstbesten Augenblicke, welcher sich anbot, zurück zu nehmen.
"Es ist mir nicht gestattet"
, fügte er hinzu ohne näher darüber nachzudenken. Doch diese Antwort war seit langem der Grund auf die Frage des weshalb - schlussendlich träumte er seit langem davon, einmal Alexandria zu besuchen -, so dass es ihm nur plausibel erschien, dies zu erwähnen. Während im Äußeren indes nur wenige Augenblicke verronnen, führte das Eingeständnis in Manius' Innerstem dazu, dass jenes filigrane Geflecht seiner Existenz, welches in den letzten Wochen und Monaten sich mehr und mehr um ihn hatte verdichtet, welches letztlich womöglich ihn am Leben, zumindest aber davon abhielt, seinen Verstand dem Willen der Furien zu unterwerfen, in sich zusammenstürzte. Als würde die Zeit sich dehnen, flüssigem Honig gleich fließen, bröckelte die Fassade des ägyptischen Tempels, zogen sich Risse durch das Mauerwerk - zuerst feine, schmale Linien, dann unter dem Beben der Erde immer breitere Spalte -, bis dass schlussendlich das Konstrukt barst, einem Glas gleich, welches am Boden zersprang, in abertausende Stücke. Trist und düster erhob sich aus den Scherben der Lüge die Wahrheit, ein sich sukzessive zersetzender Palast, bleiche, stumpfe Farbe und verfallende Zier, dessen Dimension und Konstanz einzig von einstiger Pracht noch zu berichten wussten. Aton, die Sonne Ägyptens, versank - liquidiert durch eine einzige, simple Frage - hinter dem fernen Horizont, nahm allen Schein, alle Helligkeit mit sich, dass die dunklen, düsteren Wolken der Realität leichtes Spiel hatten, seine Welt wieder einzunehmen. Mochte auch das gesamte Ausmaß seiner Misere ihm nicht bewusst sein, doch wurde Manius in diesem Augenblicke gewahr, dass die dräuende Düsternis nicht nur sein Innerstes bedrohte, sondern die Wahrheit in diesem Hause aus gutem Grunde war verborgen gehalten worden, da die offenkundig ersichtliche Gefahr ihr inhärent war. Durchdringend wurde sein Blick als er suchte die Intentionen der jungen Frau vor ihm zu erahnen, ohne den ob der möglichen Fährnis in ihm aufsteigenden Wahn zu beachten zu entscheiden suchte, ob diese Situation aus einem aleatorischen Gespräch war erwachsen oder willentlich durch sie herbei geführt worden. Manius trat einige Schritte auf sie zu und obgleich er nicht übermäßig groß gewachsen war, die Decima dazu nicht übermäßig klein, so mochte die geringe Distanz zwischen ihnen allfällig ein wenig bedrohlich, zumindest jedoch konspirativ wirken, insbesondere da die Couleur seiner Stimme von großer Ernsthaftigkeit war geprägt - wenn auch der desolate Anblick ihres Antlitzes aus dieser Nähe ihn durchaus ein wenig irritierte.
"Es ist von eminenter Relevanz, dass du über dieses Faktum Dis..kretion wahrst, Decima Seiana. Faustus wird dies alles erklären können sobald er zurück kehrt."
Sofern er überhaupt je würde zurückkehren.
"Bis dahin ... bis dahin musst du darüber schweigen - nicht um meines Wohles willen, sondern ins..besondere auch um Faustus'."
Sein eigenes Wohl - das Wohl eines ihr Fremden, eines Lügners dazu - würde Decima Seiana wohl kaum tangieren, doch hoffte er, dass sie nichts würde unternehmen, ihren Bruder in Gefahr zu bringen - obgleich Manius sich nicht einmal sicher war, ob für Faustus seinetwegen überhaupt ein Risiko bestand, ob er nicht nur daran wollte glauben, um nicht sich eingestehen zu müssen, dass diese Bedrohung einzig für ihn gegeben, dass einzig sein eigenes Wohl in Bedrängnis war. -
Nein. Dass es darauf hinauslief, damit hatte sie gerechnet nach der Geschichte über Transtiberim... aber dass er das so schlicht und offenherzig zugab, überraschte sie. Genauso wie der Wandel, den seine Miene ein weiteres Mal vollzog, dieses Mal in die andere Richtung, zu Düsternis. Fast fröstelte sie es ein wenig bei dem Gedanken, was der Ausdruck auf seinem Gesicht nun zu erzählen schien, und für den Moment war sie selbst verlegen um Worte, hätte nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen auf dieses simple Nein hin, was sie hätte tun sollen außer es ebenso einfach zu akzeptieren wie er es aussprach – da fügte er noch eine Begründung an, eine, die sie zunächst einfach nur verwirrte. Es war ihm nicht gestattet. Nicht gestattet. Nicht gestattet?
Es dauerte einen langen Moment – für jemanden wie sie, die sich doch durchaus einbildete einen scharfen Verstand zu besitzen, fast schon beschämend lang –, bis sie schließlich begriff. „Senator“, wisperte sie, so leise, dass es sogar für ihn fast schon zu leise sein mochte, während das Begreifen in ihr dämmerte. Der einzige Grund, warum es jemandem nicht gestattet sein könnte, je Aegyptus zu sehen. Sie sah ihn an, hielt seinem Blick stand, suchte ihn, jetzt wo er ihr nicht mehr auswich, und Stück für Stück setzte ihr Verstand die Teilchen zusammen, begann sie zu realisieren, was das zu bedeuten hatte. Ein Senator. Versteckt in diesem Haus. Von ihrem Bruder. Entsetzen mischte sich in die Erkenntnis. Was um alles in der Welt hatte er da getan? Einem Hochverräter Obdach geboten! Ausgerechnet er, der Prätorianerpräfekt, ausgerechnet er, der so überzeugt davon war, dass Salinator der wahre Kaiser war und deshalb trotz all seiner Fehler als solcher verteidigt werden müsse... und trotzdem hatte er hier einem der Verschwörer Schutz geboten – nichts anderes machte letztlich Sinn... kein Senator würde sich sonst als Biblithecarius im Haus des Prätorianerpräfekten verstecken. Faustus, was hast du getan... Für einen winzigen Moment schloss Seiana die Augen. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte. Wenn das herauskam...
Sie schob diesen Gedanken rigoros einen Riegel vor. Es würde nicht herauskommen. Schon allein, weil es nicht herauskommen durfte. Und wer würde schon ausgerechnet den Gardeanführer, der sich bei öffentlichen Auftritten stets schwungvoll als Befürworter des Vescularius präsentiert hatte, verdächtigen, einen seiner Gegner zu schützen.Seiana öffnete die Augen wieder, sah ihn auf sich zukommen und machte unwillkürlich einen winzigen Schritt zurück, bevor sie sich wieder daran erinnerte wer sie war, wer er war, und dass das hier ihr Haus war – und stehen blieb. Und immer noch gab es Teilchen, die beständig an ihren Platz fielen. Sie musterte sein Antlitz, das nun so dicht vor ihr war, ging in Gedanken die Namen der Verschwörer durch, und jetzt reifte auch die Erkenntnis in ihr, wer von ihnen da vor ihr stand. Sie hatte ihn nicht oft genug gesehen, sei es nun bei offiziellen Anlässen oder eher privateren wie dem Hochzeitsempfang des Aurelius Ursus, als dass sie ihn gleich auf Anhieb erkannt hätte – aber dann doch oft genug, dass es ihr jetzt wie Schuppen von Augen fiel. Wie von selbst hob sich eine ihrer Hände, näherte sich seinem Gesicht, als sie die Züge zu erkennen begann, aber ihre Finger zögerten, bevor sie ihn tatsächlich berühren konnte, überwanden diese letzte Barriere dann doch nicht. Für einen Moment verharrten ihre Finger so, dann ließ Seiana ihre Hand wieder sinken. Was sie da gerade erfahren hatte, was sie sich selbst zusammengereimt hatte, war... viel. So unglaublich viel, dass es ihr nach wie vor die Sprache verschlagen hatte, scheinbar, was sie erst jetzt bemerkte, Momente später, wo sie endlich versuchte Worte zu finden, die sie ihm entgegnen konnte. Es dauerte noch eine kleine Weile weiter, in der sie einfach sprachlos vor ihm stand, aber als sie dann schließlich antwortete, war es die einzige Antwort, die für sie in Frage kam. „Ich stelle die Entscheidungen meines Bruders nicht in Frage.“ Nicht vor anderen jedenfalls. Wenn überhaupt, dann nur vor ihm direkt. In ihrer immer noch leisen Stimme war die unbedingte Loyalität zu hören, die sie gegenüber ihrem Bruder empfand. Sie würde Faustus nie verraten, ganz gleich, womit er sie auch konfrontierte, ganz gleich, was er auch von ihr verlangte. „Sein Wort gilt auch für mich. Wenn er beschlossen hat, dass dir dieses Haus offen steht, dann ist es so, egal aus welchen Gründen, und egal wo er sich befindet. Darauf kannst du dich verlassen.“
-
Selbst Manius, welchem die Gedanken anderer, die Empfindungen und Emotionen seines Gegenübers oftmals rätselhaft und unergründlich waren, bemerkte, dass Decima Seiana genau zu realisieren schien, wer er war und was dies bedeutete, und einen marginalen Augenblick fühlte er sich versucht, sie zu fragen, was im Details sie wusste. Doch das Chaos in ihm selbst war zu groß, das Mosaik seines Leben ein zerwühlter Haufen, die fahrigen Schlieren des Nebels um die Reste seines Gedankengebäudes zu dicht als dass er dazu würde befähigt sein, im Angesicht eines anderen dort Ordnung hinein zu bringen. Er sehnte sich nach einem Ort der Stille, dem Garten der Musen allfällig, um seine Gedanken zu sortieren, um zu prüfen, was übrig blieb von der Wahrheit nach Abzug aller Lüge, um eine Struktur zu finden, welche ihm Halt bot. Die Sprachlosigkeit der Decima war ihm darob nur angenehm, gegenteilig waren es ihre Worte, welche ihn aus seinem eigenen Sinnieren wieder aufstörten.
"Danke"
, war schlussendlich alles, was ihm sinnvoll erschien auf ihre Worte hin, obgleich zeitgleich der Gedanke in ihm vorherrschte, dass dieses Haus nur ein besseres Gefängnis für ihn war, ein goldener Käfig womöglich, aber letztlich doch ein Käfig, und ohne Faustus im Grunde nicht einmal mehr golden. Dennoch bedeutete ihre Zusage weit mehr für ihn als einige simple Worte konnten ausdrücken, denn letztlich ging es nicht nur um sein profanes Wohl, sondern eher wohl um das nackte Überleben.
"Sofern es etwas gibt, das ich im Gegenzug tun kann ..."
Er stockte, denn es gab wohl kaum etwas, das er tun konnte. Er besaß weder materielles, noch ideelles Gut, im Augenblicke nicht einmal eine vollständige Existenz, da die Hülle des Aton um ihn her gefallen war und eine diffuse Leere hatte hinterlassen. Er hatte nichts zu bieten außer sich selbst, und dies mochte wahrlich wenig sein.
"Ich mag Alexandria nie gesehen haben, doch tatsä'hlich habe ich viele Werke studiert und dazu in diesem Raume in den letzten Wochen beinahe jedes Schrift..stück bereits in Händen gehalten und situiert. Falls du also noch ein Werk suchen solltest ..."
Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, welches ob der Absurdität des Augenblickes und der daran geknüpften Schmach jedoch ein wenig misslang.
"Es gibt vermutli'h inkompetentere Bibliothecarii als mich." -
Als die Spannung irgendwie ein wenig zu weichen schien, machte Seiana noch einen Schritt zurück, leicht nur, bemüht es wie Zufall aussehen zu lassen, wie eine nebensächliche Bewegung. „Es besteht kein Grund mir zu danken“, erwiderte sie, mit dem Versuch eines Lächelns, damit ihre Worte nicht womöglich noch harsch klangen. Faustus war der, dem er danken musste – der ihn hier aufgenommen hatte. Und für den sie Stillschweigen bewahren würde. Auch wenn sie immer noch dabei war überhaupt erst zu realisieren, was das hier bedeuten konnte... welche Gefahr das hieß, nicht nur für ihren Bruder, sondern für die ganze Familie. Sollte das je heraus kommen, bezweifelte sie, dass Vescularius einen Unterschied machen würde, wer da nun davon gewusst hatte und wer nicht. Es war hirnrissig. Es war brandgefährlich. Aber es war Faustus' Entscheidung gewesen... und wäre es umgekehrt ihr Bruder gewesen, Seiana hätte alle Götter darum angefleht, dass er jemanden fand, der ihm Unterschlupf gewährte, wenn er das brauchte.
Seiana hatte Mühe, ihre rasenden Gedanken einzufangen, zu beruhigen. Sie wechselten rasant zwischen zwei extremen Polen hin und her: wie tollkühn, wie gefährlich es war, hier einen Gegner des Vescularius' zu beherbergen – und dass ihr Bruder es so gewollt hatte, und das sicher nicht ohne sich Gedanken gemacht zu haben. Dass sie Faustus nicht in den Rücken fallen würde, war dabei die eine Konstante, die sich hindurch zog, der einzige Halt, den sie fand – aber der Rest war in Aufruhr. Sie schwankte zwischen Furcht, Fassungslosigkeit und den Selbstversicherungen, dass hier schon niemand suchen würde, und dass ihr Bruder für ausreichend Sicherheit gesorgt haben würde... und dann wieder Furcht. Und Fassungslosigkeit. Er hatte doch so vehement für Vescularius argumentiert, dafür, dass jener der rechte Kaiser war, von Valerianus eingesetzt, dass es die Verschwörer gewesen waren, die den Mord begangen hatten... Und plötzlich wurde Seiana bewusst, dass ihr hier vielleicht einer der wenigen Männer gegenüber stand, die die Wahrheit kannten. Wenn es tatsächlich eine Verschwörung gegeben hatte, wenn Vescularius' Lesart der Geschehnisse wahr war und der Senator darüber hinaus nicht einfach nur unschuldig mit hineingezogen... dann wusste er, was passiert war. Und für Momente drängte es Seiana, ihn danach zu fragen. Zu fragen, was er wusste. Was passiert war an jenem Tag in Misenum. Aber nichts davon kam über ihre Lippen. So selten sie um Worte verlegen war, wusste sie in diesem Augenblick doch nicht, wie sie eine solche Frage hätte formulieren sollen, noch dazu gegenüber jemandem, den sie kaum kannte.
Mitten in diese Gedanken hinein klangen seine Worte über die Werke hier, die Bibliothek, sein Wissen darum. Seiana ließ ihren Blick kurz über die Regale schweifen, wusste aber in diesem Moment nicht so recht etwas damit anzufangen. Sie sah wieder zurück, sah etwas auf seinem Gesicht, das mit etwas Fantasie ein Lächeln sein mochte, und versuchte es zu erwidern. „Danke, aber... nein. Ich bin hiermit...“, sie hob leicht die Schriftrolle hoch, die er vorhin gegeben hatte, und von der sie schon gar nicht mehr wusste, was darauf überhaupt geschrieben stand, „... für den Moment gut ausgestattet. Ich würde lieber... einfach ein wenig hier bleiben. Wenn ein wenig Gesellschaft dich nicht stört.“ Sie wollte in der Tat noch nicht zurück in ihr Cubiculum, in die Einsamkeit dort, aber noch mehr Menschen, ihren Verwandten, wollte sie auch nicht unbedingt begegnen. Zu groß die Befürchtung, sie müsse sich dann erklären, würde unter Druck sein, weil sie schon wieder irgendwelche – echten oder eingebildeten – Erwartungen enttäuscht hatte. Er hingegen... trotz dem, was sie gerade erfahren hatte, fand sie es angenehm in seiner Gegenwart, ruhig wie er war. Und dann war da noch eine Sache... ihr brannten nach wie vor Fragen auf den Lippen. Fragen, die noch keine Formulierung hatten, die vielleicht nie eine haben würden, aber dennoch waren sie da, und Seiana hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht viele Chancen haben würde, sie überhaupt zu stellen. Wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollte, musste sie die Gelegenheit nutzen, die sie nun hatte. Dieser Grund war nur vage vorhanden in ihr, mehr ein unterschwelliges Gefühl denn ein ausformulierter Gedanke... aber er trug dennoch dazu bei, dass sie bleiben wollte. Sie deutete auf den Tisch, an dem er zuvor gestanden hatte. „Woran hast du gerade gearbeitet?“
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Selbst in dem Falle da sie ihn gestört hätte, da ihre Anwesenheit ihm wäre unangenehm oder aufdringlich gewesen, Manius hätte - als der Fremde, welcher er hier war - niemals die Decima ihrer eigenen Bibliothek verwiesen, ob dessen ihm erfreulicherweise ein Sinnieren darüber erspart blieb, denn tatsächlich hätte er wohl in diesem Augenblicke nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob ihre Gesellschaft ihn störte oder nicht. Einerseits drängte es ihn, über die Erkenntnisse des vorangegangenen Gespräches zu reflektieren, denn noch immer oszillierten die reagiblen Saiten seines Innerstes, angeregt durch etwas, das Seiana hatte gesagt, oder auch nicht gesagt, etwas das er nicht zur Gänze hatte apperzipiert, allfällig auch nur latent wahrgenommen, was jedoch von eminenter Bedeutsamkeit zu sein schien. Gleichwohl sah er sich einem inneren Zwang verpflichtet, sich neu zu definieren oder zu redefinieren, denn dass das fragile, hässliche Konstrukt der Lüge um ihn herum in sich war zusammen gebrochen, bedeutete gleichsam nicht, dass die Wahrheit in ihrem observablen Schimmer nun alles vermochte zu erleuchten, blieb ein diffuses, dissoziatives Zwielicht in ihm bestehen, und sofern er nicht Manius Aton war, so musste er spornstreichs eruieren, wer hinter all dem stand, musste gleichwohl entscheiden, ob er die abominable Chimäre, welche im Untergrund seines Gedankengebäudes hauste und nun sich quälend langsam regte, mochte die Herrschaft über sein Leben gewinnen lassen, oder ob allfällig es angebracht war, sie wieder zurückzudrängen - wenngleich er nicht im geringsten wusste, wie dies sollte oder konnte zu bewerkstelligen sein. Andererseits jedoch wurde Manius in diesem Moment ebenso von einem seiner primären Charakterzüge beherrscht - der Furcht und dem daraus erwachsenden Reflex zur Flucht -, und mochte ob dessen sich nur allzu bereitwillig in Ablenkung flüchten, welche die Anwesenheit der Decima zweifellos ihm würde bieten können, auf zudem recht angenehme Art, sofern er nicht sich dazu würde bemüßigt fühlen, jedes seiner Worte nun besonders gedankenvoll zu überdenken, um nicht mehr Wahrheiten noch von sich preis zu geben - wobei auch dies innere Diktat die Ablenkung nur würde noch steigern können.
"Im Gegenteil, ein wenig Gesellschaft wäre mir dur'haus angenehm."
Er folgte mit seinem Blick ihrer Bewegung zu dem Tisch hin, brauchte jedoch einige Herzschläge lang, um sich dessen zu entsinnen, an was er hatte gearbeitet, schien dies ihm doch nun beinahe wie aus einem anderen, vergangenen Leben. Nachdenklich trat er auf den Tisch zu, schob die Pergamente, welche einen Großteil des Textes abdeckten, bei Seite, und als er den Titel des Stückes vor sich sah, schob sich letztlich wieder ein Anschein von Wohlgefallen über sein Antlitz.
"Aischylos - Die Sieben gegen Theben."
Wie er den Titel des Stückes aussprach mochte dies klingen wie ein wahrhaft großartiges Abenteuer, an welchem er selbst hatte teilgenommen. Er wandte sich wieder zu Decima Seiana um.
"Kennst du es? Ich habe gerade erst be..gonnen, es zu studieren, doch bin ich bereits nach wenigen Passagen verzückt von der erhabenen Klangmelodie der Worte, wiewohl auch von deren augenscheinli'her Wahrhaftigkeit."
Sein Blick schweifte entrückt in die Ferne, durchdrang die Wände des Hauses um ihn her, blieb haften an der Komposition des Aischylos, welche einem sanft dahinplätschernden Fluss aus Nektar gleich die Worte ihm in die Sinne trug, dass er nurmehr begierig aus den Strom musste trinken, ihrem Klang musste Form verschaffen durch die Kraft seiner Stimme, die trotz der Lücken in seinen Worten - welche nicht dem Fluss selbst entstammten, sondern auf dem Weg zur lautmalerischen Umsetzung in ihm entstanden, welche gleichwohl er selbst nicht einmal perzipierte - noch immer von der extensiven rhetorischen Ausbildung zeugte, welche er in jungen Jahren hatte genossen und deren Kraft er weitaus lieber zur Rezitation von Gedichten oder Bühnenstücken aufwandt als zur Proklamation politischer Inhalte.
"Ihr Kadmosbürger, sagen, was die Zeit gebeut, muss, wer am Ruder wacht des Staates, Wohl und Weh be..denkend, niemals schlafberückt sein wa'hend Aug."
Obgleich der Fluss der Worte weiter floss, entzog Manius sich seinem Sog und kehrte mit seiner Aufmerksamkeit zurück in die Realität.
"Ist es nicht bemerkenswert, dass diese Zeilen bereits vor über fünf Jahrhunderten wurden abgefasst, und dennoch bis anhin regel..mäßig Staatslenker an eben diesem doch so simplen Gedanken scheitern?" -
Seianas Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem leichten Lächeln, als er zustimmte, war sie sich doch nicht ganz so sicher gewesen, ob er ihre Gesellschaft nicht vielleicht doch ablehnte. Sie war gerade erst wieder eingezogen hier, wirklich zu Hause fühlte sie sich noch nicht... und es hätte ja auch sein können, dass er sich unter einem Vorwand zurückzog. Aber er blieb, und nach einem Moment des Zögerns wandte auch er sich dem Tisch zu, dem, woran er gerade gearbeitet, was er rezitiert hatte, als sie herein gekommen war. Was hatte er zuvor gesagt? Gönnt Rettung; beiden. Seianas Brust hob sich in einem lautlosen Seufzen und nickte leicht. „Nicht mehr sonderlich gut. Ich habe es vor Jahren einmal gesehen“, antwortete sie. Auch wenn sie gern las, hatte sie doch in den vergangenen Jahren viel zu wenig Zeit und Muse gehabt, sich damit zu beschäftigen... und genauso wenig, sich Theateraufführungen anzusehen.
Sie lehnte sich an das Kopfstück eines der Regale, während Aton... der Senator... Aton wieder zu ihr sah und erneut zu sprechen begann, zu rezitieren, ihr von dem Stück vortrug, mit dem er sich vorhin noch beschäftigt hatte, und ließ sich vom Klang seiner Stimme umschmeicheln, von den Worten, die er aussprach. Seine Stimme wirkte anders... er wirkte anders, so. Sicherer? Sie konnte es nicht genau sagen. Aber er hatte eine angenehme Stimme, und er trug diesen einen Satz, den er aussprach, in einer Art vor, die berührte, die ihn eingängig machte für Zuhörer und sie mitzog. Fast war sie ein wenig traurig darüber, dass es bei diesem einen Satz blieb und er nicht fortfuhr. Ihr eigentlicher Bibliothekar hatte es nicht so mit dem Vortragen, und auch sonst fiel ihr auf Anhieb niemand in der Casa Decima ein, dessen Stimme wirklich dazu geeignet war, ganz zu schweigen davon, dass eine passende Stimme bei weitem noch nicht alles war... vielleicht sollte sie sich mal einen Sklaven anschaffen, nur dafür, ihr vorzutragen.
„Ja...“ antwortete sie leise, und nun musste sie unwillkürlich an ihre Situation denken. Wer war es, der die Zeichen der Zeit nicht erkannte? Vescularius? Cornelius und seine Unterstützer? Oder war es nicht im Grunde Ulpianus gewesen, der zu krank, zu schwach oder zu lustlos gewesen war, um die Zeichen zu deuten für das Unwetter, das sich über dem Rom unter Vescularius zusammengebraut hatte? „Man sollte meinen, dass die Staatsmänner im Verlauf der Jahrhunderte sich manche Ratschläge zu Herzen genommen hätten. Und dennoch scheitern sie bis heute... und führen das Reich bis in Bürgerkriege hinein.“ Der Zug um ihre Lippen verhärtete sich ein wenig, und sie trat ein wenig zum Schreibtisch vor und nahm die Abschrift zur Hand, blätterte vor, suchte nach einer Stelle, bis sie sie fand. „Doch statt des einen büßten alle seinen Haß. Und was lernen wir daraus? Dass der Mensch nichts aus seinen Fehlern lernt. Oder jedenfalls nicht der Staatenlenker aus denen seiner Vorgänger.“ -
"Darob ist es für einen Staatslenker um so essentieller, dass er viabler Ratgeber um sich herum versi'hert sein kann. Und doch, sofern es auch an diesen mangelt oder aber er nicht geneigt ist, das Wohl seines Staates zu forcieren, so ist zweifelsohne selbst ein Bürger..krieg letztlich dem Scheitern des Staates vorzuziehen."
Er war sich nicht dessen bewusst, dass diese Theorie weitaus gegenwärtiger um ihn herum im Gange war, als er dies vermutete, so dass ihm dies nur eine kurzweilige Thematik für einen erbaulichen Disput zu sein schien, wiewohl er durchaus überzeugt war von dem, was er sagte, denn letztlich war er in dem Glauben aufgewachsen, dass die Idee des Imperium Romanum über allem stand, selbst noch über den Göttern, welche ein Teil dessen waren, und insbesondere über dem eigenen Wohl.
"Es ist dies komparabel zu einem Korb voller Äpfel im Winter. Bisweilen ist es besser, ihn einmal kräftig dur'hzurütteln, um die faulen Früchte aussortieren zu können, als tatenlos dabei zuzusehen, wie der gesamte Inhalt des Korbes allmählich verfault. Einer muss sich dafür die Finger schmutzig machen, die ver..dorbenen Früchte berühren, und so manches Obststück wird dabei entsorgt, doch letztlich führt dies dazu, dass der Großteil der Äpfel bis zum Frühjahr genießbar bleibt und darob niemand Hunger muss leiden."
Letztlich hatte Manius nicht den Schimmer einer Ahnung von der richtigen Lagerung von Äpfeln, noch davon wie es mochte sein, Hunger zu leiden, doch auch er konnte dieses simple Bild nachvollziehen, wiewohl es ihm als Vergleich für ein von innen heraus faulendes System stets konveniert hatte - obgleich es selbstredend wie so viele Analogien nicht gänzlich passte und nicht sich in vollem Umfange auf den Staat und seine Bestandteile übertragen ließ. Dennoch überkam ihn in diesem Augenblicke ein Anflug von Traurigkeit und es schien ihm, als wäre aus einer der Ecken ein Flüstern zu hören, doch als er - die linke Braue fragend ein wenig empor gezogen - seinen Blick dorthin wandte, gab es dort nichts ungewöhnliches zu detektieren.
"Bisweilen sehne ich mich danach, einfach nur ein Apfel zu sein"
, gab er leise zu, blickte sodann zurück zu Seiana und fügte, über seine eigenen Worte ein wenig irritiert, an:
"Im übertragenen Sinne."
Denn würde er realiter sich für ein Obst entschieden müssen, so wäre er lieber eine Nuss - mit einer harten, undurchdringlichen Schale, welche seinen weichen, stets allzu verwundbaren Kern gegen das Außen zu schützen wusste. -
Seiana ließ die Abschrift wieder sinken, ohne sie allerdings loszulassen. „Du hast Recht“, murmelte sie. Dass der Staat scheiterte, und damit Rom, das Reich, war nicht denkbar. Seianas Vorstellungskraft hätte versagt, wenn es darum gegangen wäre, sich vorzustellen was dann passieren mochte. Atons Beispiel mit den Äpfeln war da schon passend gewählt. Manchmal war Veränderung einfach nötig... auch wenn das hieß, Verluste in Kauf zu nehmen. So anschaulich der Vergleich allerdings auch war, so sehr hakte er doch, wenn man genauer hinsah. „Die faulenden Stücke müssen aussortiert werden... und manchmal ist auch ein Bürgerkrieg unvermeidbar. Das einzige Problem beim Staat ist: am Ende bestimmt der Sieger, was verdorbenen ist und aussortiert werden muss. Was, wenn jemand die faulen Früchte im Korb lässt?“
Sie ließ die Schrift nun endgültig los, wandte sich um und verschränkte leicht die Arme. Ein Apfel sein... zu denen zu gehören, die sich nicht großartig Gedanken machen mussten. Die aussortiert wurden oder nicht, ohne das beeinflussen zu können, und deren Leben durch diese Fremdbestimmtheit letztlich so herrlich einfach war... oder zumindest schien. Seiana hatte sich schon öfter gefragt, ob ihr Leben nicht einfacher, schöner wäre, wenn sie nicht versucht hätte, ihren eigenen Weg zu gehen... wenn sie einfach zugelassen hätte, dass andere über sie bestimmten. Sie war stets zu dem Schluss gekommen, dass sie dann zwar ohne die Verantwortung, die sie jetzt innehatte, ohne die Last, die diese manchmal bedeutete, aber trotzdem unzufrieden, gar unglücklich gewesen wäre, weil ihr ein Leben als Ehefrau und Mutter einfach nicht genug gewesen wäre. Aber wenn sie selbst nun einfacher gestrickt wäre... sich mit anderen Dingen zufrieden geben könnte, einfacheren Dingen...
Seiana machte eine leichte Kopfbewegung, als ob sie die Gedanken dadurch verscheuchen könnte. „Ich glaube, ich verstehe was du meinst. Das Leben wäre einfacher so...“ Sie räusperte sich leise und sah den Senator, der sich gerade auch nur mit dem einfachen Leben eines peregrinen Gelehrten und Bibliothekars zufrieden geben musste, fast schon traurig an. „Aber nicht alle sind für ein einfaches Leben bestimmt. Wer privilegiert ist, hat auch Verpflichtungen. Verantwortung.“ -
Einige Herzschläge lang sann Manius darüber nach, ob Decima Seiana mit ihren Worten auf ihn abzielte, ihn als einen der faulen Äpfel betrachtete, welche tief unten im Korb, verborgen als bibliothecarius im Hause eines Geliebten alle Läuterung des Staates überdauerten. Doch noch ehedem er zu einer Antwort für sich konnte gelangen, setzte sie bereits nach - wer privilegiert ist, hat auch Verpflichtungen. Verantwortung.
Verpflichtungen. Verantwortung. Verpflichtungen. Verantwortung.
Deutlich hallten die Worte der Decima einer Anklage gleich aus den Ecken des Raumes nach.
Deine Verpflichtung! Deine Verantwortung!
Manius fuhr gereizt herum, doch nur die Schatten der Bücherregale lagen über den Wänden, spotteten ihm durch ihre bedeutungslose Belanglosigkeit. Er presste seine Kiefer aufeinander, seine Linke ballte sich zur Faust und ein wütender Zug legte sich um seine Augen, denn hatte nicht sein Vater selbst sich aus dem Leben geschlichen, seine eigenen Verpflichtungen, seine eigene Verantwortung abgewälzt auf ihn? Manius wollte ihn zum schweigen bringen, doch außer der im Raume schwebenden Vorhaltung blieb nichts zurück, das eine Angriffsfläche mochte ihm bieten, dass auch seine Rage ziellos in der Leere musste verpuffen. Als er sich zurückdrehte zu Seiana, seine Gemütsregungen nurmehr bedingt unter Kontrolle, wusste er ihr indes nichts zu kontern, wanderten sein Pupillen rastlos über ihr Antlitz ohne dass dort eine adäquate Antwort sich ließ finden.
Verpflichtung, Verantwortung
, rotierten die Worte durch seine Sinne, trafen harten Fäusten gleich in seinen Leib, und hätte er sie von eben dieser ihrer Ansicht überzeugen müssen, er hätte zahllose Argumente memorieren können - nicht nur jene, mit welchen er in seiner Kindheit und Jugend war gefüttert worden, sondern ebenso seine eigene Überzeugungen, welche er im Laufe seines Lebens hatte angesammelt. Was also konnte er ihr entgegnen ohne sich selbst zu negieren, was also konnte er dem entgegensetzen, ohne gleichsam anzuerkennen, wie tief er selbst gesunken war, und wie sollte er ihr zustimmen, ohne dabei den letzten Funken an Würde zu ersticken, welcher noch in ihm glomm? Touché, mochte das Wort sein, welches ihm nicht wollte einfallen, da diese Begrifflichkeit noch nicht erfunden war, autsch, eine weitere Möglichkeit, welche doch in ihrer Banalität ihm nicht würde entsprechen.
"Wäre nur die Tat ebenso ge..schwind und mühelos effektuiert wie das Ansinnen verbalisiert ist"
, entgegnete er darob leise, nur allzu bewusst sich des schalen Beigeschmackes dieser Aussage, welche das Eingeständnis seines Versagens war, gleichwohl der Demütigung, welche die Decima damit über ihn ausbreitete, welche zudem um so erniedrigender war, da er ihr in diesem Augenblicke nichts mehr hatte entgegen zu setzen, sie nicht einmal des Raumes konnte verweisen, da dieser ihren eigenen Gefilden zuzurechnen, da er nur ein geduldeter Gast ohne Rechte war. Mit ausdrucksloser Miene wandte Manius sich dem Tisch mit der Schrift des Aischylos zu, sortierte die einzelnen Blätter zueinander.
"Ich sollte mich nun besser wieder meiner Verpfli'htung als bibliothecarius widmen.
Die Couleur seines Tonfalles war kühl, beinah ein wenig abweisend, denn wie alle Angehörigen seines Standes - auch wenn er dessen sich gegenwärtig nicht bewusst war - vertrug er keine Demütigungen. -
Irgendetwas, was sie gesagt hatte, schien den Mann zu irritieren. Seiana wusste nicht, was es war... aber seine Reaktion war zu sehen. Sie grübelte darüber nach, was sie wohl Falsches gesagt haben mochte, aber es wollte ihr nicht einfallen, was es gewesen sein könnte. „Es ist immer leichter, ein Vorhaben in Worte zu fassen als es in die Tat umzusetzen...“ antwortete sie, aber es war im Grunde nur eine leere Worthülse, weil sie nicht recht wusste was sie antworten sollte. Und war dann erst recht perplex, als er das Gespräch plötzlich abwürgte und auf seine Pflichten verwies. Für lange Momente stand sie da und sah ihn nur an... unschlüssig, was sie tun sollte. Seit sie wieder in die Casa gezogen war, war er der erste Mensch, mit dem sie sich wirklich unterhalten hatte. Und sie hatte festgestellt, dass es ihr gut getan hatte... auch wenn sie sich noch nicht der Familie stellen wollte, tat es ihr doch gut, ein wenig Gesellschaft zu haben.
Seine Worte allerdings machten deutlich, dass er kein Interesse mehr daran hatte, die Unterhaltung fortzuführen, aus welchen Gründen auch immer... und Seiana sah sich im Augenblick nicht in der Lage, ihm eine aufzuzwingen. Vermutlich hätte sie es nicht einmal dann getan, wenn es ihr gut gegangen wäre, denn obwohl er nicht gekleidet war in Senator, nicht hergerichtet war wie ein Senator, war er dennoch einer – und in diesem Moment wirkte er auch wie einer auf sie. „Wie du wünschst“, murmelte sie also nur schließlich, neigte leicht ihren Kopf und wollte schon verschwinden... hielt dann aber doch noch mal inne. Wieder wusste sie nicht so recht, woran es lag. Vielleicht hatte sie tatsächlich nur das Bedürfnis, noch etwas zu sagen, sich zu entschuldigen. Vielleicht war sie sich aber auch nur einfach nicht sicher, ob sie in die Einsamkeit ihres Cubiculums zurück wollte. Ob sie sie ertragen würde. „Verzeih bitte, wenn ich etwas Unangemessenes gesagt habe. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ -
Als wäre er längst wieder vertieft in seine Arbeit schob Manius die Pergamente vor sich auf dem Tisch herum, deckte die Zeilen ab, um der profanen Pläsir des Lesens sich wieder zuzuwenden, doch in Gedanken ritt er noch immer auf dem Uroboros seiner Verpflichtung und Obliegenheiten, sowie deren Unterlassung und Säumnissen. Auf die Abbitte der Decima hin hob er noch einmal den Kopf, ohne jedoch sich wieder ihr zuzuwenden, blickte in die Unendlichkeit der Erkenntnisse, welche kein Geist von sich konnte weisen.
"Die Wahrheit ist niemals unan..gemessen, wie torquierend für den einzelnen sie auch sein mag."
Alsdann suchte er auf dem Pergament die letzte Zeile des Textes, welche er noch in seiner Erinnerung vorfand, um dort anzuschließen, leise murmelnd die nächsten Worte in sich aufzunehmen, um endgültig wieder die Realität aus seinem Geiste zu verdrängen.
"Mich entsetzt ein unermessliches Weh! Hervorbri'ht das Heer aus den Gezelten schon, ein ungezähltes Volk Reisige strömt vorauf; im Feld himmelan wolkiger Staub bezeugt's, ein lautloser, laut..kündender Bote mir."
Ein komparabler Zustand schien auch in Manius nun vorzuherrschen, ein lautloser, lautkündender Bote in ihm, eine alles überziehende Wolke aus Staub, welche keinen klaren Blick zuließ, nur ein unermessliches Weh, dessen Ursprung ihm nicht auszumachen war. -
Seiana zögerte, wartete auf eine Reaktion auf ihre Worte, aber als sie kam, tat diese nichts dazu, dass sie sich wohler in ihrer Haut gefühlt hätte. Was er sagte, klang in ihren Ohren wie eine hohle Phrase. Etwas, das man sagte, weil eine Antwort erwartet wurde... nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und er sah sie noch nicht einmal mehr an dabei, hob nur seinen Blick, während er sprach, um ihn dann wieder auf den Text zu lenken und weiter zu rezitieren. Seiana begriff, dass sie damit endgültig... nun ja: entlassen war. Es spielte keine Rolle, dass sie in ihrem Zuhause waren, genauso wenig wie es eine Rolle spielte, dass ihr Gegenüber nach außen hin derzeit nicht mehr war als Aton, der Bibliothekar. Sie wusste, dass er es nicht war – und sein momentanes Auftreten sprach auch eine völlig andere Sprache. Selbst wenn es Seiana besser gegangen wäre, hätte sie in diesem Augenblick wohl nicht darauf bestanden hier zu bleiben, und so wie es ihr gerade ging, war sie trotz ihrer vagen Sehnsucht nach etwas, aber nicht zu viel Gesellschaft, der der Senator in ihrer kurzen Unterhaltung so gut entsprochen hatte, beinahe froh, dass sie gehen konnte. Zu sehr war die Stimmung plötzlich gekippt. Seiana neigte ein wenig den Kopf, auch wenn er das nicht sehen konnte. „Vale...“ Mit diesem einzelnen Wort wandte sie sich schließlich um, um zu gehen.
-
"Und vom Schlaf scheuchend, roßhufdröhnend, oh! Wie naht der Lärm und fliegt und tost brausend her. Un..widerstehlichen, bergschlagenden Wassern gleich! Weh! Weh! Weh! Weh! Weh! Weh!"
Einem Rausch gleich sog Manius die Worte in sich ein, vermochte nicht mehr die Zeilen zu memorieren, schob das Pergament nur Reihe um Reihe abwärts, im Taumel dieser Essenz, welche einzig für ihn und seine Zeit verfasst worden zu sein schien.
"O Götter, Göttinnen! Hinweg scheu'ht das empörte Weh! Laut rufend rückt mauerwärts der weißschildigen Feinde Volk, mächtig Schar auf Schar gegen die Stadt zum Sturm an. Ach, wer er..rettet uns!"
Beinahe schien es ihm als wären es seine Worte, die eben erst dem seinen Geist, die geradewegs einem Traume entsprangen.
"Ach, wer erbarmet mein sich, Gott, Göttin, wer? Oh! Nieder zu welchem Bild soll ich der Ewgen jetzt flehend knien? Erhört, ho'hthronende Götter, uns!"
Das pergamentene Blatt fand sein Ende und mit ihm der Fluss der Worte. Stille blieb. Leere.
"Ach, wer er..barmet mein sich, Gott, Göttin, wer?"
repetierte Manius flüsternd, schob die Schriftstücke vor sich zusammen. Irgendetwas hatte ihn derangiert, irgendetwas hatte die Decima gesagt, was er nicht konnte einordnen, was doch gleichsam ein sonderbares Unbehagen in ihm hatte hinterlassen, dass er sich nicht mehr sicher fühlte im Angesicht der Schriftrollen, der Sätze und Worte, welche für die Ewigkeit darauf waren fixiert. Hastig verwahrte er die Sieben gegen Theben und verließ die Bibliothek, um in sein Cubiculum zurückzukehren - die Ruhelosigkeit indes sollte nicht mehr von ihm lassen bis zu jenem Tage, an welchem seine Wahrheit ihren rechtmäßigen Platz wieder einforderte. -
“Schau dir das an!“, sagte ich noch, während ich mich noch umsah. Vielleicht war hier inzwischen alles wieder aufgeräumt, doch die Fülle von einst vermisste ich doch, nach dem Attentat von dem Mob. Man hatte sich zwar Mühe gegeben, die Bibliothek wieder herzustellen, doch irgendwie....
“Wirkt ein wenig kahl,“ bestätigte mir Muckel und er entließ ein kaum hörbares Seufzen.
Wie auch immer es sein mochte. Eine Bibliothek blieb eine Bibliothek und ein vortrefflicher Ort des Lernens. Und genau Letzteres wollte ich. Ich hatte Muckel vorgeschickt, um mich beim jüngsten Kursus anzumelden. Um den Rest musste ich mich wohl oder übel selber kümmern. Ich fuhr herum und schaute meinem Sklaven entgegen. “Ans Werk!“ entkam es mir sodann, selbst wenn ich selbst nicht genau wusste, nach was ich eigentlich suchte. “Such...einfach was zusammen.“ Eine Strategie würde ich im Folgenden entwickeln. Muckel trat an eines der Regale und begann zu kramen, während ich meine Hände in die Hüften stützte, als würde dies irgendetwas helfen.
-
Rom. Nur wenige Tage hier, beschloss Aquila schon, keine Zeit zu verlieren und sich zumindest schon mal die Voraussetzung zu holen, die er sowieso brauchte, um irgendwann in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten: einen Cursus an der Schola absolvieren. Er hatte zwar in seinem Leben mehr als genug gelernt, fand er, hatte jahrelang alles mögliche von seinen Lehrern eingetrichtert bekommen – aber naja, ein bisschen Vorbereitung auf diesen Test war dann vielleicht doch nicht das Schlechteste. Auch wenn er das gerade unnötig wie einen Kropf fand: er brauchte den Abschluss einfach. Also spazierte er in die Bibliothek hinein, mit einer Liste in der Hand, auf der stand worauf in etwa man sich vorbereiten sollte für den Cursus, und blieb dann erst mal stehen – überrascht, weil er trotz dessen, dass er mittlerweile wusste was hier passiert und wie viel wirklich zerstört worden war, diesen Anblick nicht erwartet hätte. Ach ja, und weil da schon wer anders anwesend war. „Salve“, grüßte er, durchaus freundlich, aber ganz sicher nicht so als wäre er derjenige, der neu war hier im Haus... eher so, als wäre er schon seit Jahr und Tag hier und der andere der Neue. Er ließ die Liste auf einen der Tische flattern, die noch – oder schon wieder? – herum standen. „Marcus Aquila mein Name. Du musst Cnaeus Casca sein.“ Sich schlau zu machen darüber, wer nun tatsächlich hier wohnte, war das erste gewesen, was Aquila nach seiner Ankunft gemacht hatte – das hieß: nach dem Gespräch mit Dexter, und nach einem Bad, und nach etwas zu essen, und nach einem ausgedehnten Nickerchen. Aber nach all diesen Sachen war es das erste gewesen. Man musste ja wissen, mit wem man es hier zu tun hatte. Zwei Decimer gab es außer ihm in diesem Haus, und da er den einen schon kannte und der Kerl vor ihm, der ganz offensichtlich kein Sklave war, eben jener nicht war, musste er halt der andere sein. Nach einem Moment des Musterns verzog Aquila seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln und bot seine Hand zum Gruß an. „Freut mich, dich kennen zu lernen.“
-
Livianus saß gerade in der hauseigenen Bibliothek und grübelte über die Senatsprotokolle der letzten Tage, als es an der Türe klopfte und ein Sklave ihn informierte, dass zwei junge Frauen hier waren und ein Gespräch mit ihm wünschten. Mit großer Verwunderung nahm er auch zur Kenntnis, dass sie sich als Mitglieder seiner Familie vorgestellt hatten.
"Immer nur herein mit ihnen" lautete seine saloppe Antwort dem Sklaven gegenüber und kurze Zeit später trat dieser auch schon mit den beiden jungen Damen im Schlepptau ein. Gespannt erhob sich der Decimer von seinem Stuhl, um die beiden Gäste in Empfang zu nehmen.
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