Ein Sklave an der frischen Luft

  • Zuerst hatte er es genossen mit dem Pferd die Gegend zu durchflügen. Jetzt aber stand das Tier mit einem Seil an einem Baum gebunden. Baldemar an selbigen gelehnt. Er saß. Die Hände im Gras. Er hörte das Pferd grasen. Den Apfel hatte der Gute bereits vertilgt. Baldemar lächelte in sich hinein. Mit geschlossenen Augen erinnerte er sich an die Heimat. An das was ihn immer zufrieden gemacht hatte. An Frija. Und an ihr Flötenspiel. Er lächelte und summte. Aus dem Summen wurden Töne. Daraus eine Melodie. Schließlich sang er. Mit einer sehr angenehmen, etwas dunkleren Stimme sang der Marser in seiner Heimatsprache. Etwas von den 'Herren der Winde'. Seine Hand klopfte den Rhythmus. Und er verlor sich ein wenig im Gefühl des Liedes.

  • Daß Ursus sich außerhalb des Lagers aufhielt war ein absoluter Zufall. Er hatte eine ganze Weile den Männern auf dem Exerzierplatz zugesehen, war von Gruppe zu Gruppe gegangen, hatte sich vor allem bei den Ausbildungsgruppen ein wenig herumgetrieben, um sich ein Bild von der Arbeit der Offiziere zu machen. Danach hatte er einfach keine Lust gehabt, an seinen Schreibtisch zurückzukehren und war um das Lager herum und ein Stück weit Richtung Fluß gegangen. Einfach so, einfach, um ein wenig Ruhe zu haben und etwas frische Luft zu schnappen. Eigentlich hätte er jetzt Baldemar gebraucht, aber dem hatte er selbst gesagt, daß er ihn eine Weile nicht brauchte und er hatte auch keine Lust, nach ihm schicken zu lassen. Was sollte ihm hier auch schon passieren? Zum einen war er durch das tägliche Training mit Cimon sehr wohl in der Lage, sich seiner Haut zu erwehren, zum anderen war es hier wirklich friedlich.


    Fremdartiger Gesang, gesungen von einer tiefen, angenehm sonorigen Stimme, drang an seine Ohren und ließ ihn neugierig den Tönen nachgehen. Zuerst war er noch zu weit weg, um Worte verstehen zu können, dann war er zwar nahe genug heran, verstand die Worte aber trotzdem nicht, da sie einer fremden Sprache angehörten. Das Pferd, das mit einem langen Seil an einen Baum gebunden war, sah er als erstes. Und es erinnerte ihn allzusehr an Burrus, seinen Wallach, der Arbos Nachfolge angetreten hatte. Dann erst kam der germanische Sklave in Sicht, der bequem an eben jenen Baum gelehnt da saß – und sang. Die Augen geschlossen, mit der Hand den Rhythmus klopfend, saß Baldemar völlig in sein Lied versunken war. Ursus trat etwas näher, leise, um Baldemar nicht zu stören. Und ließ sich einfach im Gras nieder, die Beine ineinander verschlungen zum Schneidersitz.

  • Im germanischen Gesang gefangen erhöhte sich mit dem Text der Rhythmus. Burrus blieb recht ruhig. Schließlich kannte er den Menschen der dort kam. Der Marser nahm den Römer nicht wahr. Die Hände klopften zunehmend den Rhythmus an den Beinen. Es war so etwas lauter und er ging stärker mit.
    Als das Lied beendet war atmete er tief durch. Der Oberkörper bewegte sich stark mit. Inzwischen lehnte er nicht mehr am Baum. Er saß davor in aufrechter Haltung. Er dachte über ein weiteres Lied nach. Oder das gleiche erneut? Es gefiel ihm sehr. Es war eines der besten, die er kannte. Seine Augen öffneten sich nur langsam. Er schwieg. Die Augen bemerkten einen Fremden. Noch ein wenig verwirrt sah Baldemar zu dem Römer. Ursus. Doch kein Fremder. Er sah ihn direkt an. Aber schwieg weiterhin. Seine Lippen formten ein stummes 'wie lange?'.
    Hatte er ihn gehört? Alles? Verstand er den Text? Und wieso saß er so locker im Gras? So gar nicht der große Römer. Forschend blickte er tief in die Augen von Ursus. Für Baldemar war Singen etwas besonderes. Etwas was er nur mit Frija teilte. Nur wenn er wusste das ihn sonst niemand hörte. Also sehr selten. Was er sang hatte immer auch etwas mit ihm zu tun. Es war eine Art, in der er sich ohne nachzudenken ausdrücken konnte. Weiterhin schwieg er in seiner Überraschung.

  • Der Gesang war sonderbar ergreifend und trotzdem er die Worte nicht verstand, konnte Ursus nicht anders, als ebenfalls den Rhythmus mitzuklopfen. Es war mitreißend und erschien Ursus fast wie eine Art Zauber. Als das Lied beendet war, öffnete der Germane die Augen und sein Blick erfaßte Ursus. Der sah die lautlosen Worte, die sich auf den Lippen des Sklaven bildeten und die Übung mit Tilla ließ ihn erahnen, was Baldemar wissen wollte. Ursus zuckte mit den Schultern und formte ein ebenso lautloses "eine Weile" mit seinen Lippen. Zu sprechen wäre ihm wie ein Frevel vorgekommen. Durch den Gesang lag eine merkwürdige Stimmung in der Luft, die durch Worte nur zerstört werden könnten.

  • Baldemar ahnte nur, das Ursus den Rhythmus mit geklopft hatte. Sicher sein konnte er sich nicht. Die Antwort war stumm. Der Marser verengte die Augen. Er war sich nicht sicher. Eine Weile? Langsam nickte er. Es folgte Stille. Lange Stille. In der er den Römer genau beobachtete. Ob er es wohl verstanden hatte? Fragen wollte Baldemar nicht. Ganz im Gegenteil. Er begann einen etwas anderen Rhythmus auf den Oberschenkeln zu klopfen. Doch er sang nicht. Es war etwas sehr persönliches. An sich war er nur neugierig. Kannte der Römer wohl germanische Lieder?
    Die Frage war auch, warum der redselige Legat nicht sprach. Der Germane war sich nicht sicher wie er es einordnen sollte. Er spürte aber Dankbarkeit. Dieser besondere Moment war nun immer noch vorhanden. Er schwebte über ihnen. Der Germane befeuchtete seine Lippen. Worte fand er dennoch nicht.

  • In der Miene des anderen spielte sich so vieles ab, daß Ursus nicht sicher war, was es bedeutete. Doch Baldemar stellte keine Frage. Und so schwieg auch Ursus. Der Germane begann, einen neuen Rhythmus zu klopfen, sang aber nicht. Warum nicht? Oder war es eine Art Prüfung, auf was Ursus sich einlassen würde? Sollte er sich darauf einlassen? Er kannte das Stück natürlich nicht. Und brauchte eine Weile, um den Rhythmus aufzunehmen. Doch dann begann er, mitzuklopfen. Gespannt, ob Baldemar den nächsten Schritt gehen würde.

  • Noch immer beobachtete er Ursus. Dieser schwieg weiterhin. Es dauerte einen Moment. Dann klopfte auch Ursus den gleichen Rhythmus. Überrascht sah Baldemar ihn an. Er hatte nicht damit gerechnet. Sollte er singen? Der Marser fing an zu summen. In einem gleich melodischen Ton, wie er zuvor gesungen hatte. Aber singen. Das war doch all zu privat. Das fing an ihm Spaß zu machen. Vielleicht doch singen? Interessierte es Ursus überhaupt? Es wäre germanisch. Ob er es konnte? Forschend besah er sich den Römer.

  • Der Sklave begann zu summen. Ursus kannte das Lied nicht. Was nicht weiter überraschend für ihn war. Doch er hörte interessiert zu. Er wurde sicherer darin, den Rhythmus zu klopfen. Er nahm die zweite Hand hinzu und fragte sich unwillkürlich, wie es klingen würde, wenn sie eine tiefe Trommel dabei hätten. Es würde durch und durch gehen. Die Melodie klang gut. Ob Baldemar nun anfangen würde zu singen? Was hielt ihn davon ab? Oder gehörte diese lange Einleitung zu dem Lied? Um den Zuhörer darauf einzustimmen? Schade, daß es wieder germanisch sein würde, das Ursus nicht verstand.

  • Baldemar schloss die Augen. Er gab sich dem Rhythmus hin. Das Trommeln von Ursus' Händen war annehmbar. Er traf gut den Takt. Aber singen? Er summte stärker. Nun Trommeln. Ein Feuer. Met und Bier. Er erinnerte sich an den Abend der Hochzeit. An Feiern. An den Zustand des Glückes. Tief atmete er durch. Dafür unterbrach er das Summen. Er stellte sich vor, wie der Römer sich in Trance singen und tanzen würde. Lächelnd versuchte er sich auf die Musik zu konzentrieren.
    Die Augen öffneten sich wieder. Fragend sah er Ursus an. Das Summen setzte ein. Unsicher begannen die Lippen sich zu bewegen. Er konnte nicht singen. Was tat er nur? Jede Bewegung hielt inne und er hörte ob der Römer den Takt weiter halten würde.
    Er konnte unmöglich ein Lied aus der Heimat mit diesem Römer teilen. Für Baldemar gehörte eine gewisse Innigkeit dazu. Man war eins. Man war verbunden, wenn man zusammen in dieser Art singen würde. Mann wurde zu Brüdern. Sollte er es erklären? Es war doch dämlich. So dachte kein Mann. Kein Krieger. Die Augen zuckten.

  • Ihre Blicke begegneten sich. Ursus wußte nicht, was er davon halten sollte. Doch er schätzte Baldemar zumindest so ein, daß er ihm einfach sagen würde, wenn er allein sein wollte mit seinem Gesang. Daß Ursus begonnen hatte, den Takt mitzuklopfen, schien dem Germanen doch durchaus zuzusagen. Oder doch nicht? Erwartete er, daß er mitsang? Dafür war er noch nicht sicher genug in der Melodie, die Baldemar bisher nur summte. Den Rhythmus hingegen hatte er nun drauf. Und er klopfte ihn weiter, als Baldemar damit aufhörte. Quasi als Aufforderung, doch weiterzumachen. Noch immer fiel kein Wort.

  • Sie schwiegen weiter. Es war gut. Angenehm. Aber auch seltsam. Ursus sprach doch sonst so viel. Er hatte den Marser sogar ein wenig damit angesteckt. Baldemar wusste nicht ob er singen sollte, sprechen oder versuchen ihn fort zu bitten. Ursus klopfte weiter. Der Germane hörte zu. Er zuckte. Klopfte wieder. Sie waren alles andere als Brüder. Würde er singen, würde Ursus es nicht verstehen. Er entschied sich ihm eine Chance zu geben.
    Er begann. Er holte Luft. Seine Stimme erklang im germanischen Gesang. Baldemar erwählte ein bestimmtes Lied. Ein Gesang. Etwas das er lange nicht mehr gesungen hatte. Etwas tragisches. Hödur und Balder. Zwei Brüder die am Ende doch beide Tot waren. Söhne Odins. Die ersten Zeilen wiederholte er immer wieder. Sie beschrieben die Brüder.


    Der Takt blieb. Er schwieg einige Momente. Sah Ursus an. Hödur und Balder. Brüder. Söhne Odins. Er dachte an die Eigenschaften beider Brüder. Dann sah er Ursus an. Er konnte nicht einfach so singen. Es wiederstrebte Baldemar. Der Marser reichte ihm seinen Arm. Er ergriff ohne weitere Vorwarnung den Unterarm des Römers und zog ihn etwas näher. Selbst rückte er die gleiche Strecke ihm entgegen. Damit sie voreinander sitzen würden. Er sang erneut die Zeilen. Diesmal mit stärkerer Stimme. Es schien dem Germanen wichtig zu sein. Das Lied war etwas besonderes. Für ihn. Nun galt es herauszufinden, ob Ursus sich dem würdig erweisen würde.


    Den Teil den er nun sang würde er sehr deutlich aussprechen. Es waren einprägsame Worte. Man spürte förmlich die Geschichte dahinter. Man fühlte den Kampf. Die Tragik. Den Tot. Der Verrat. Für Baldemar war es so. Würde Ursus es fühlen? Würde er es verstehen? Oder würde er darauf bestehen wer er war? Was er war?

  • Die Situation wurde immer unwirklicher. Ursus dachte nicht darüber nach, wie merkwürdig es sein mußte, daß ein Legat hier im Gras saß und zu dem Lied eines Sklaven den Rhythmus klopfte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, ob ihn jemand sah oder was Baldemar von ihm denken konnte. Er war gefangen von dem Lied, das der Germane sang. Kein einziges Wort verstand der Römer. Doch die Musik erzählte von Kampf und von einem tragischen Ende. Das verstand er. Mehr nicht.


    Baldemar wiederholte die ersten Zeilen immer wieder und Ursus lernte so die Worte, deren Bedeutung er nicht kannte. Er wiederholte sie, sang sie. Leise und unsicher erst, dann fester und sicherer. Seine Stimme klang wohl, nicht so tief wie die Baldemars, nicht so ergreifend. Aber doch von gutem Klang. Dann eine kurze Erklärung: Hödur und Balder. Brüder. Söhne Odins. - Also Götter. Ein Göttergesang. Ursus fühlte sich von Ehrfurcht ergriffen, auch wenn es nicht seine Götter waren, von denen gesungen wurde.


    Unversehens fühlte sich Ursus gefaßt und näher gezogen. Er ließ es sich gefallen. Sie saßen einander nun gegenüber. Blickten sich an. Gleichgestellt in diesem Moment. Zwei Männer, nichts weiter. Baldemar sang das Lied weiter. Ursus summte mit, versuchte, die Worte zu lernen, um mitzusingen. Die Zeilen, die er schon kannte, sang er mit. Baldemar führte das Lied, Ursus untermalte, füllte einfach den Klangteppich. Dieses Lied, es berührte das Innere. Was Ursus deutlich anzusehen war.

  • Er konnte offenbar kein Wort verstehen. Baldemar fühlte sich nur um so mehr geehrt. Denn der Römer gab sich alle Mühe mit zu singen. Die Stimme war zuerst unsicherer. Dann aber wurde es besser. Sie war weniger Tief. Aber sie klang gut. Sie passte. Nachdem Baldemar es erklärt hatte erschien ihm die Betonung von Ursus um einiges besser. Er ließ sich darauf ein. Und er hatte Respekt.
    Ursus ließ es geschehen. Sie saßen voreinander. Sie sahen einander an. Baldemar ließ den Arm nicht los. Sie schienen gleichgestellt. Zwei Männer. Ein Gesang. Das Summen des Römers passte gut hinein. Er unterstützte sogar als Chor den Gesang des Germanen. Baldemar begann sich im Takt leicht zu bewegen. Den Chorus sang er um so deutlicher. Lauter. Stachelte Ursus damit an. Er sollte sich dem Lied hingeben. Sich tragen lassen. Von dem was er sah. Es musste nicht das gleiche sein. Die Männer würden verschiedenes sehen. Baldemar erkannte das das Lied Ursus wohl berührte. Er steigerte sich im Takt. Es kam zum Finale. Der Tot des blinden Hödur durch Vali.
    Die Töne verklangen und Baldemar drückte noch einmal fest den Unterarm des Anderen. Brüder. Sagte er schlicht. Dann ließ er los.


    Im Gedanken ging er die Geschichte nach, die sie gerade gesungen hatten. Ob Ursus es wissen wollte? Baldemar sprach nicht. Noch nicht. Es war die Stille nach einem Moment, der für den Marser sehr ergreifend gewesen war. Er hatte den Gesang mit Ursus geteilt. Ob dieser es zu würdigen wusste? Forschend sah er den Römer an. Irgendwie war er gar nicht so schrecklich. Gar nicht so römisch. Er sah nicht den Senator. Nicht den Legaten. Schon gar nicht den Herren. Er sah den Menschen. Den Sänger. Den Fühlenden. Wen sah Ursus wohl in diesem Moment?

  • Noch immer waren sie über je einen Arm miteinander verbunden, sie hielten ihre Unterarme umfangen. Doch noch mehr als das verband ihr Blick sie miteinander. Dabei sahen sie gar nicht das Gesicht des anderen, sondern vielmehr sahen sie, was die Musik an Bildern in ihnen weckte. Ursus ließ sich ziehen und leiten. Körperlich ebenso wie im Gesang. Er wurde immer sicherer, auch furchtloser. Gab sich dabei große Mühe, korrekt zu betonen und auszusprechen. Baldemar stachelte ihn an, mehr Kraft in die Stimme zu legen, es kam zum Finale. Ohne die Worte zu verstehen, verstand Ursus, daß es der Tod war, den er sang. Dann Stille. Ein Druck der Unterarme, ein Wort, loslassen. Brüder. Ja, es war eine Art von Verbrüderung, die gerade stattgefunden hatte.


    Und Ursus sah nicht den Sklaven Baldemar, sondern etwas, was er nie zuvor erkannt hatte. Einen Krieger, einen stolzen, freien Mann. Egal, ob die Welt ihn Sklave nannte, Baldemar würde niemals etwas anderes sein. Auch ohne Schwert in der Hand, ohne Schild, ohne ungezähmten Hengst unter sich. Einfach ein Krieger. Es war, als hätte jemand etwas von seinen Augen genommen, das ihm die Sicht bis jetzt versperrt hatte. Brüder. Es lag so viel in diesem Wort. So viel Sehnen, so viel Erwartung, so viel Friede. Sie hatten etwas geteilt, das besonders war. Sie hatten nicht einfach ein wenig miteinander gesungen, wie man es in Tavernen schon mal tat. Ursus war sich der Besonderheit des Gedankens bewußt. Auch der Besonderheit ihrer frisch entstandenen Verbindung. "Brüder." Es hatte gedauert, bis er es aussprach. Als hätte er darüber nachdenken müssen. Dabei hatte er gar nicht gedacht. Nur in sich hineingefühlt. Gesucht. Und gefunden.

  • Das Finale hatte Baldemar sehr ergriffen. Denn Ursus brach nicht die Verbindung. Der Römer hielt den Blick fest. Sie waren verbunden. Es war etwas besonderes das Lied im Auge von Ursus zu erkennen. Die Kraft in der Stimme des Legaten war angenehm. Ebenso wie seine Betonung. Respektvoll blickte Baldemar ihm entgegen.


    Er wartete in der Stille. Nicht unangenehm. Nicht nervös. Ursus schien sich selbst zu fragen. Neutral beobachtete er den Römer. Sie erkannten einander. Brüder. Ein Wort. Ein besonderes Wort. Ehrlich ausgesprochen. Baldemar nickte. Wieder Stille. Angenehme Stille. Der Marser korrigierte seinen Sitz. Damit es bequemer wurde. Grinsend klopfte er kurz den Rhythmus. Er sang nicht. Wiederholte nur die Worte. Mit kräftiger Stimme und Respekt. Dann aber. Nach jedem Satz. Nach schwierigen Worten. Übersetzte der Germane so gut er es konnte. Dann wieder die Worte in seiner Heimatsprache.


    Es handelte von Hödur, Odins Sohn. Sein Name bedeutet Streit und Kampf. Doch hat er nichts kriegerisches an sich. Er ist blind. So beurteilt er die Menschen nicht nach ihrem Äußeren. Vielmehr nach ihrem Wesen. Ihrem inneren Wert. Der heimtückische Loki hintergeht ihn. So dass Hödur unwissendlich seinen Bruder Balder tötet. Doch Vali wird am Ende der Rächer von Balder und erschlägt Hödur.


    Nachdem nun das Lied zwar eher erzählt war sah er Ursus fragend an. Baldemar hatte es mit Respekt getan. Er wollte einfach das Ursus den Gesang verstand. Am Ende hieß es in dem Gesang; 'Brüder bis in den Tot' . Dann noch; 'Brüder fürchtet den Loki. Brüder kämpft gegen den Loki. Fesselt ihn. Füttert ihn mit Schlangengift'.
    Baldemar ließ es noch einmal auf sich wirken. Ernst blickte er Ursus in die Augen. Er schwieg. Alle Worte waren ihm zu viel geworden.

  • Nun wurde ihm das Lied erklärt. Langsam und geduldig. Ursus lernte dabei ein paar germanische Wörter. Nicht alle, die vorkamen, konnte er sich gleich merken. Aber es war ein Anfang. Dieses Lied, es war wirklich ergreifend. Die Geschichte voller Tragik, gar nicht so unähnlich den Göttergeschichten, die Rom oder Griechenland kannten. Vielleicht konnte er Baldemar irgendwann die eine oder andere näher bringen. Aber nicht jetzt. Es würde alles zerstören. "Brüder fürchtet den Loki. Brüder kämpft gegen den Loki. Fesselt ihn", wiederholte Ursus verstehend. Auf Latein und dann auf germanisch.


    "Erzähle mir etwas von Loki."

  • Ursus hörte zu. Er schien zu lernen. So bereitwillig. So gut. So schnell. Kleine Fehler in der Aussprache waren Baldemar egal. Der Marser fühlte sich geehrt. Das Ursus sich derartig Mühe gab. Das würde er seinem 'Bruder' zurück geben.
    Ursus wiederholte das Ende noch einmal auf Latein. Das Germanische danach klang gut. Anerkennend nickte Baldemar. Gut. Sehr gut. Bestätigte er.


    Die Frage nach Loki war angenehm. Es tat ihm gut über die Götter nachzudenken. Das viele Sprechen hinterfragte er nicht mehr. Es war angenehm. So würde Ursus das alles besser verstehen können. Wenn der Römer es doch wollte. Wer war Baldemar schon, das er es nicht beantworten würde? Er nickte. Die Mundwinkel zuckten nach oben.


    Loki. Der Luftige. Der Vater vieler Gottfeindlicher Mächte. Wie dem Fenriswolf. Hel. Die Midgardschlange. Als Stute gebar er den Hengst Sleipnir. Er kann sich in viele verschiedene Gestalten verwandeln. Er führt die Ragnarök, den Weltuntergang herbei. Mit Odin zusammen ist er der Listenreiche Helfer der Götter. Sonst ihr Gegner. Von Balder haben wir gesungen. Auch von seiner Strafe. Er windet sich unter dem Gift der Schlange. Bringt so die Erde zum Beben. Sigyn ist seine Gemahlin.
    Viel war gesprochen. Doch war es verstanden? War es gut? Baldemar wog es ab. Worte waren nicht so gut. Das wusste er. Also fing er an zu klopfen. Wieder ein anderer Rhythmus. Summend stimmte er sich ein. Dann die ersten Strophen. Loki, der Name war zu erkennen. Er übersetzte. Und sang wieder. Ein Lied, das vor Loki warnte. Seine Geschichte erzählte.Vom Fenriswolf. Ebenso von Hel. Von der Midgardschlange. Vom Verrat. Am Ende von Sigyn, seiner Frau. Die das Gift der Schlange in einer Schüssel auffing. Und der Warnung sich vor einer Frau in acht zu nehmen, die das Gift einer Schlange trägt.


    Stille. Erwartungsvoll sah er Ursus an. War das Lied besser als die Erklärungen? Für ihn war es so. Gesang gab allem eine Seele. Gab allem etwas Lebendiges.

  • Ursus fand sich unversehens in einer Unterrichtsstunde wieder. Doch sie würde ihm helfen, Baldemar besser zu verstehen. Hoffte er zumindest. Das hier war ein guter Anfang für ein Verstehen. Viele würden ihn für verrückt halten, würden sie dies hier sehen. Sehr viele. Allen voran sein Onkel, den er quasi vor sich sah, wie er sich an die Stirn tippte, um anzudeuten, wie dumm es war, sich so auf eine Stufe mit einem Sklaven zu begeben und auch noch von ihm zu lernen. Doch Ursus empfand es als richtig. Sie waren hier allein. Was verlor er? Nichts. Was gewann er? Vertrauen. Warum nicht auf einen Mann eingehen, dem er immerhin das Leben seiner Frau anvertraute?


    Außerdem fühlte es sich gut an. Dieser Gesang gefiel ihm. Wie er ihn berührte, gefiel ihm. Man merkte, daß Baldemar nicht einfach Worte sang. Sondern daß er sie fühlte, in ihnen aufging. Er begann, einen neuen Takt zu schlagen, bevor Ursus weiterfragen konnte. Ein neues Lied, es wurde sogleich übersetzt. Und machte vieles klarer. Ursus verstand. Loki war nicht böse, gab es überhaupt etwas rein böses? Er war die Gefahr, er war das Risiko, er war das Unvorhergesehene, das Chaos, die Zerstörung. Den Rhythmus nahm Ursus leicht auf, klopfte mit. Und hoffte, Baldemar würde es noch einmal singen, dieses mal ohne Übersetzung, nur zum mitfühlen.

  • Er ließ sich drauf ein. Er lernte. Er schien zu spüren. Baldemar war zufrieden. Er glaubte zu sehen das Ursus berührt war. Das Klopfen des Römers stachelte den Marser an. Es gab ihm das Gefühl es nicht beenden zu können. Zu dürfen. Forschend blickte er Ursus in die Augen. Ein Nicken. Ein erneutes Klopfen. Was gäbe er jetzt für Trommeln?
    Baldemar dachte nicht mehr nach. Er gab sich hin. Er sang. Seine tiefe. Seine melodische Stimme gab dem ganzen einen Rahmen. Der Germane hoffte auf Ursus als Umrandung. Den einen oder anderen Teil wiederholte er so, das er gut würde einsteigen können. Er sollte es fühlen. Bbaldemar öffnete die Augen. Wann hatte er sie geschlossen?
    Da war etwas falsch. Etwas fehlte. Er beugte sich nach vorne. Fasste Ursus mit der Hand an den Bauch. Drückte im Rhythmus. Versuchte ihm so beim Singen zu zeigen, wo das Gefühl wichtig war. Wo er Fühlen musste. Wo er sich im Lied fallen lassen musste. Wo er Stärke zeigen musste. Es schien nicht leicht dem Urteil des Germanen stand zu halten. Für Baldemar war es nicht nur singen. Es war eine Gabe an und von den Göttern.
    Der Marser achtete nicht darauf ob dem Legaten die Nähe missfiel. Er hätte es unmöglich erklären können, was er meinte. So war es richtig. Die einzige Möglichkeit dem Römer diese Art. Seine Art. Nahe zu bringen. Erst als er zufrieden war, lehnte er sich zurück. Die letzten Zeilen wiederholte er mehrfach. Er selbst nahm seine Stimme zurück. Baldemar wollte hören, wie Ursus sang.

  • Baldemar schien der Ehrgeiz gepackt zu haben, Ursus ein weiteres Lied zu lehren. Überrascht schnappte Ursus nach Luft, als Baldemar plötzlich seine Hand auf Ursus' Bauch legte und so anzeigte, welche die wichtigen Stellen waren. Für einen Moment war ihm die Nähe unangenehm, doch dann ließ er sich einfach fallen und tat einfach, was der Germane wollte. Er sang, er betonte so, wie Baldemar es ihm anzeigte, gewann auch wieder Sicherheit.


    Es dauerte lange, bis Baldemar zufrieden war. Doch dann wußte Ursus, worauf es ankam. Und er sang. Mit nun geschlossenen Augen. Weil er es fühlen wollte. Auf einmal war seine Stimme die laute, die führende. Überrascht öffnete er die Augen wieder, hörte aber nicht auf. Warum hatte Baldemar sich zurück genommen?

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